Sanitäter im Einsatz in Hong Kong - Anthony Kwan / GettyImages

Corona-Virus: "Die Menschen in China haben den Eindruck, belogen worden zu sein."

Anabel Ternès von Hattburg im Gespräch mit Matthias Schäfer, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Shanghai, China, und Tobias Tigges, Stipendiat der KAS und Masterstudent an der ECUST (Eastern China University of Science and Technology).

Die letzten Wochen haben den Blick von außen auf China stark verändert. Während in den Monaten zuvor in den Medien chinesische Firmen als 5G-Anbieter auf dem deutschen Markt, die Übernahme deutscher Firmen durch chinesische Investoren und Chinas Vorreiterrolle bei der Digitalisierung diskutiert wurden, dominiert jetzt das Gesundheitsthema den Blick auf diesen Staat.

Ein mächtiger Staat, der durch seinen Staatskapitalismus aus Staatslenkersicht die kürzesten Wege hat, um mit langfristiger Planung die gesteckten Ziele ohne Umwege erreichen zu können.

Nun also ein Virus. Und die Welt schaut genau hin, wie dieser Staat damit umgeht. Von Hochachtung davor, dass ein Krankenhaus für Erkrankte in weniger als einem Monat erbaut wird über die Skepsis, wie die getroffenen Maßnahmen ausreichen, um eine mögliche Pandemie einzudämmen.

Wie aber hat sich das Leben in China, im Land selbst durch die Geschehnisse der letzten Wochen verändert? Erkennt man Veränderungen im Alltag der Menschen, in Entwicklungen in der Wirtschaft, in der Politik, speziell im Gesundheitsbereich und in den Medien?

China ist dieser Tage in aller Munde - jeder spricht vom Corona Virus, der nur noch CoVi genannt wird. Wie wird in China im Alltag darüber diskutiert?

Auch in China ist das Virus und die Folgen das Gesprächsthema. Die Gefahr wird für real befunden. Der Schutz vor dem Virus wird zum neuen Smalltalk. Dabei ist zu trennen zwischen der regierungsamtlichen, öffentlichen Diskussion und dem Austausch in den sozialen Medien, die in China grundsätzlich eine noch höhere Aufmerksamkeit erhalten als hierzulande. Die Regierung preist die Fortschritte bei der Gesundheitsbehandlung wie bei der Eindämmung der Ausbreitung, appelliert an die Opfer- und Leidensbereitschaft der Bevölkerung und kontrolliert kritische Debatten, in den sozialen Medien sind hingegen diese Kritik und Misstrauen aber mindestens so ausgeprägt wie die Erfolgs- und Fortschrittsmeldungen.

Wie hat sich darüber das gesellschaftliche Leben in China verändert?

Wellenartig schränkt man sich seit Ausbruch des Virus im Dezember des letzten Jahres immer weiter ein. Erst Wuhan, dann die umgebende Provinz Hubei, weitere Provinzen oder große Städte mit viel Reiseverkehr. Auch der innerchinesische Fernverkehr ist zum Erliegen gekommen, genauso die Verbindungen aus und nach China. Letztlich ist ein ganzes Land mit nahezu 1,4 Mrd. Menschen abgeriegelt, dabei wird auch nicht unterschieden zwischen Chinesen und internationalen Bewohnern. In vielen Teilen gibt es kein geregeltes öffentliches Leben mehr in physischer Form.

Auf den Dörfern treffen sich die Männer indem sie ihre Dörfer an den Grenzen vor Fremden abriegeln. Die übrigen Menschen verstecken sich in ihren Häusern.

Bemerkenswert ist, wie die aufgestaute Wut über das Vorgehen der Regierung zum Ausdruck kommt.

Kommunikation findet nur noch über die sozialen Netzwerke statt. Bemerkenswert ist hierbei zu beobachten, wie zum Teil aufgestaute Wut über das Vorgehen der Regierung immer wieder zum Ausdruck kommt. Ungeahnte Kritik ist lesbar, ein absolutes NoGo vor der Coronakrise. Inwieweit nach der Krise die Akteure mit Repressionen zu rechnen haben, ähnlich wie die aktiven Studenten 1989 nach dem Tiananmenmassaker, gilt es noch zu klären.

Merkt man auch Auswirkungen auf die Wirtschaft?

Die Wirtschaft hat seit dem Beginn des Chinesischen Neujahrsfests am 24. Januar urlaubsbedingt in vielen Bereichen stillgestanden. Zunächst wurden diese Ferien zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus landesweit vom 31. Januar auf dem 10. Februar verlängert. Seither wird die Produktion wieder aufgenommen, allerdings nicht flächendeckend, sondern vor allem in Regionen weit entfernt von Wuhan. Auch sind letztlich alle Bürger aufgefordert, sich in einen 14-tägige Selbstquarantäne zu begeben und in dieser Zeit von zuhause aus zu arbeiten. Unser Bürogebäude in Shanghai ist zum Beispiel seit dem 10. Februar bis auf unbestimmte Zeit geschlossen. Gerade für Produktionsbetriebe oder für die vielen Wanderarbeiter –wir gehen von einem Drittel aller Erwerbstätigen aus, die als Wanderarbeiter arbeiten– ist dies mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen verbunden. In der Automobil- oder der Chemischen Industrie, die für die Wertschöpfung deutscher Betriebe eine sehr große Rolle spielen, ist mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen zu rechnen. Selbst wenn die Produktion teilweise wieder aufgenommen wurde, gibt es bereits Berichte von einer Reihe von Zulieferern die ihre Kunden nicht bedienen können.

Unser Bürogebäude in Shanghai ist seit dem 10. Februar bis auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Andererseits gibt es Meldungen von Unternehmern, die die aktuelle wirtschaftliche Situation ausnutzen. Sie fühlen sich im jetzt ausgerufenen Notstand nicht an Verträge gebunden und halten sich nicht mehr an geltende Joint-Veinture-Vertragsvereinbarungen. Von Seiten der Regierung wird versucht, durch geldpolitische Maßnahmen oder der Verlängerung von Kreditlinien zu helfen.

Die Kommunistische Partei Chinas geht weiterhin von einem nur leicht verringertem Wirtschaftswachstum aus. Es ist aber davon auszugehen, dass ausbleibendes Wachstum durch zusätzliche Investitionen über den umfangreichen Staatssektor und die Staatsunternehmens ausgeglichen werden soll. Der Bausektor soll dieses als altbewährtes Mittel generieren.

Wie sprechen zum einen die chinesischen offiziellen Medien und zum anderen die sozialen Medien über das Thema? Hat sich die offizielle Kommunikation aufgrunddessen verändert, wenn ja wie?

Die offiziellen Medien haben eine penible Statistik veröffentlicht, wo genau nachvollzogen werden kann, wer wann und wo am Coronavirus erkrankt ist. Es gibt genaue Grafiken und zahlreiche andere Informationstafeln, die einen wissenschaftlichen und absolut transparenten Eindruck vermitteln sollen. Das größte Problem ist bisher das Überschreiten der mehrfach angekündigten vorhergesehenen Peakzeit, ab der es zu einem deutlichen Rückgang der Neuinfektionen kommen sollte. Zunehmend erscheint auch fraglich, ob die jeweils veröffentlichten Daten richtig sein können.

Zunehmend erscheint fraglich, ob die veröffentlichten Daten richtig sein können.

Präsident Xi Jinping gibt sich zuversichtlich. Er hat dem Coronavirus den offiziellen Kampf angesagt. Neben den vielfältigen Gesundheitsmaßnahmen, die zweifellos eine enorme gesellschaftliche Anstrengung darstellen, werden auch alte Bilder aus der Kulturrevolution sowie neue Bilder des chinesischen Nationalismus bedient. Wer nicht mitkämpft, wird automatisch zum “Klassenfeind“. Wer seine Mitbürger ansteckt, wer keinen Mundschutz trägt, wer sich gegen die Zwangsquarantäne wehrt, wer sich grundsätzlich wehrt, wird kriminalisiert. Die Kontakte infizierter Personen werden informiert und es ist in den SmartPhoneApps öffentlich einsehbar, wer wie mit Kranken in Bezug stehen könnte. Die Kranken können selbstverständlich ebenso dort herausgefunden werden. Menschen aus Hubei werden diskriminiert. Die Partei verfolgt die Situation mit ihren umfassenden digitalen Hilfsmittel bewusst und hat dem Virus den nationalen Kampf erklärt. Letztlich kann das nach dem Abflauen des Virus (spätestens mit dem einsetzenden Frühling) auch zur Bestätigung der totalen Kontrolle genutzt werden, die die Macht des Präsidenten und der Partei weiter stärkt.

In den SmartPhoneApps ist öffentlich einsehbar, wer wie mit Kranken in Bezug stehen könnte

In den sozialen Medien ist zwischenzeitlich die vollkommene Anarchie ausgebrochen - ein absolut untypischer Zustand für China. Normalerweise werden kritische Nachrichten durch WeChat und andere Dienste, sofort zensiert. Kritische Quellen können schlichtweg nicht empfangen werden. Im Normalfall gibt es somit keinen kritischen Austausch über die sozialen Netzwerke. Äußerst implizite Anmerkungen sind stärkste auffindbare Indikatoren. Die Kranken selbst werden aber auch zunehmend kriminalisiert, sollten sie andere anstecken. Coronakranke werden in den sozialen Medien für jeden ersichtlich gemeldet und jeder kann nachlesen, mit wem der Coronakranke befreundet war oder zumindest Kontakt hatte. Datenschutz gibt es nicht. Mitleid mit dem Kranken ist weniger eine Kategorie, eher der offen zur Schau gestellte Krieg gegen das Virus, das von allen eine an Selbstaufopferung grenzende Solidarität einfordert.

Die Menschen haben den Eindruck, belogen worden zu sein.

Dramatische Szenen haben sich in den Krankenhäusern abgespielt und wurden in den sozialen Medien geteilt: Fehlende Toiletten, mangelnde Versorgung, Abweisen von Patienten, unzureichende Hygienartikel, haben mit physischen Objekten dargelegt, wie an vielen Stellen das Gesundheitssystem, das bereits vorher kein großes Vertrauen der Menschen genossen hat, vollkommen zusammengebrochen ist. Die Menschen haben den Eindruck gehabt, belogen worden zu sein. Sie haben vertraut und dieses Vertrauen wurde ausgenutzt. Dieser Ärger war derart groß, dass er seinen Weg in die sozialen Medien gefunden hat. Der Fall des Arztes Dr. LI Wengliang und seiner insgesamt acht Mitstreiter, die frühzeitig auf das Virus hingewiesen haben, hat dabei nicht allein die Wut auf die Behörden verschärft. Mit seinem Leitspruch “Man sollte auf mehr als eine Stimme hören.”, trifft er auch den Kern des Machtanspruchs von Regierung und Partei. Diese hat reagiert und die Verantwortlichen sowohl in Wuhan als auch Hubei abberufen. Ob das Regime einen Status quo ante wieder einrichten kann, erscheint zwar möglich, aber eher fraglich.

Wie reagiert das chinesische Gesundheitssystem?

In einer wahnwitzigen Geschwindigkeit wurden und werden Krankenhäuser aus dem Boden gestampft, medizinisches Personal in die am stärksten Betroffene Provinz verlagert und alle Sinne des Landes im Kampf gegen das Virus und seine Ausbreitung aktiviert. Die Zusammenarbeit mit den internationalen Behörden wird gelobt, die besten chinesischen Forscher und Mediziner sind im Kampf gegen das Virus an vorderster Front aktiv.

Allerdings hat das chinesische Gesundheitswesen seit jeher in der Bevölkerung einen schlechten Ruf. Hohe Zuzahlungen, eine geringe Personaldichte und deutliche Unterschiede in der Versorgung zwischen Stadt und Land sind seit langem Thema. Die Regierung hat sich des Themas angenommen, ohne allerdings bisher wirkliche Fortschritte erzielt zu haben. In diese Situation hinein deckt die aktuelle Krise auch die Schwächen des Gesundheitssystems auf. Das geringe Vertrauen in das System, verbunden mit den drastischen Abschottung- und Quarantäne-Massnahmen der Regierung, lassen die Chinesen fragend zurück. Diesem Eindruck versucht die Regierung mit erheblichem Aufwand entgegenzuwirken und einen zupackenden Eindruck zu vermitteln.

Die aktuelle Krise deckt die Schwächen des Gesundheitssystems auf.

Es werden reihenweise Quarantänezellen für akute Patienten gebaut, Gebäude umfunktioniert. Die Zellen werden vollkommen hermetisch abgeriegelt und Patienten in diesen eingesperrt. Es gibt keine Wahl, sollte die Diagnose Corona heißen. Und das Virus scheint sich trotz heftigster Maßnahmen und massiver Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger weiter auszubreiten. Mittlerweile werden mit Desinfektionsmittel ganze Städte besprüht.

Welche Vorsichtsmaßnahmen treffen Chinesen, welche Expats?

Die meisten Chinesen glauben an die Gefahr durch den Virus. Dabei spielt es keine Rolle, ob man ihnen vorrechnet, dass die tägliche Zahl der Verkehrstoten, die bei etwa 1000 Menschen in China liegt, sehr einfach belegt, inwiefern die Angst vor dem Virus nicht berechtigt ist. Die 25.000 Grippetoten pro Winter in Deutschland verstehen sie noch weniger. Auf den Satz „Das Leben endet tödlich. Immer.“ wissen sie nicht zu antworten. Nach reichlicher Überlegung meint manch einer der gefragten Chinesen, dass den Chinesen letztlich im Gegensatz zu den Europäern einfach mehr am Leben läge und sie entsprechend mehr Herz hätten.

Im totalitären China gibt es keinen Platz für das Ende.

Sie sprechen häufig vom Herzen, von Gefühlen. Es ist die Angst vor dem Tod, die sie umtreibt. Im totalitären China gibt es keinen Platz für das Ende. Der Tod ist ein Risiko. Risiken kann man nicht kontrollieren und somit passt der Tod nicht zu China, wo es eben um die totale Kontrolle geht. Der Staat gibt seinen Bürgerinnen und Bürgern das Versprechen in Vollkommenheit für sie zu sorgen, deshalb ist die Irritation über die aktuelle Situation auch so groß. Ob eine vergleichbare Situation hierzulande anders gehandhabt würde, sei allerdings dahingestellt.

Erstaunlich ist hierbei, inwiefern ganz verschieden Schichten von der Propaganda des Staates gefangen sind. Die Angst setzt sich vom Professor, Straßenarbeiter, Restaurantbesitzer zum Polizisten durch. Äußerlich zumindest ist der Kampf gegen den Virus der Kampf der chinesischen Nation und derzeitig oberste Priorität von Volk und Vaterland.

Bei den Expats gibt es zwei Kategorien: Es gibt jene, die die Möglichkeit haben für eine Zeit lang einfach das Land zu verlassen und jene die bleiben müssen.

Jene die bleiben, haben meist ihre Familie im Land und können beispielsweise ein zu langes Fehlen der Kinder in der Schule nicht verantworten. Sie stören sich meist stark an den teilweise krassen freiheitseinschränkenden Maßnahmen der Regierung, doch ist ihnen das Wohl der Kinder und der Familie zu wichtig, als dass sie sich dagegen auflehnen würden. Allerdings sind auch hier alle Facetten vorhanden – ein weitgehend normal mögliches Leben und der Austausch mit anderen Ausländern, genauso die völlige Einschränkung des eigenen Alltags.

Es gibt Berichte von Kranken, die von ihren Gebäudemitbewohnern in ihren Zimmern mittels zugenagelter Türen eingesperrt wurden.

Diese Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen, ein wesentliches Merkmal des chinesischen Lebens, sie tritt auch hier offen zutage.

Wird sich der gesellschaftliche Umgang der Chinesen miteinander ändern?

Von außen betrachtet meint man es zumindest. Auf Grund dessen, dass der Alltag der Chinesen letztlich abgeschafft wurde, ist es fraglich, ob dem so ist. Bleiben wird ein gestiegenes Misstrauen. Bereits zuvor wurde sich in China viel misstraut. Die Kulturrevolution wurde nie wirklich aufgearbeitet. Die seinerzeitige absolute Willkür konnte einen jeden treffen, der zum Teil im Anschluss jahrelang eingesperrt und zu vollkommen wirren Zugeständnissen gezwungen wurde. Zunehmend willkürlich kann auch der Verdacht gegenüber potentiellen Coronakranken erhoben werden. Es gibt Berichte von Kranken, die von ihren Gebäudemitbewohnern in ihren Zimmern mittels zugenagelter Türen eingesperrt wurden. Ortsfremde werden ganz besonders kritisch beäugt und so schnell wie möglich wieder weggeschickt.

Die Schaffung institutionellen wie persönlichen Vertrauens untereinander wird eine wesentliche Grundlage dafür sein, dass China anders, gestärkt aus der aktuellen Situation hervorgehen kann.

Vielen Dank für das gute Gespräch!

Prof. Dr. Anabel Ternès schreibt über Leadership & Zukunftskompetenz, Digitalisierung & Arbeit 4.0, Nachhaltigkeit, Gesundheitsmanagement

Zukunftsfähige Unternehmen brauchen Nachhaltigkeit, gesunde Digitalisierung und Zukunftskompetenzen. Eine zukunftsfähige Welt braucht ein gesamtsystemisches Zusammenwirken aller Kräfte. Als eine der führenden Köpfe für Digitalisierung stehe ich für Nachhaltigkeit und verantwortungsvolle Handeln.

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