Das Hochstapler-Syndrom – vom Wert des Selbstzweifels

Ein Bekannter von mir verbringt seine Urlaube gern in Florida. Er liebt den Sunshine-State wegen des Klimas, der Strände, der Nationalparks und wegen der direkten Fluganbindung. Und ja, mit seinem passablen Schulenglisch kommt er auch gut durch den Alltag. Nach seiner letzten Reise erzählte er mir von seinem neuen Plan, seine Coaching- und Beratungsleistungen jetzt auch in den USA anbieten zu wollen. „Neue Zielgruppen“, „groß rauskommen“ … und so. Mir stand der Mund offen.

Ähm, also, ganz ehrlich, das ist freundlich ausgedrückt „sehr ambitioniert“. Ohne Vorerfahrung, ohne lokalen Partner und mäßigem Englisch in einen Markt einsteigen zu wollen, der sicherlich nicht auf ihn gewartet hat …

Ich bin da eher am anderen Ende der Skala: Als ich noch in der Beratung gearbeitet habe und zum ersten Mal einen Workshop mit einem Kunden aus der High-Tech-Branche leiten sollte, hatte ich in den Nächten davor Alpträume. Würde ich mich lächerlich machen, weil alle Anwesenden tausendmal mehr Ahnung von der Technik haben als ich? Ich malte mir Horrorszenarien aus, in denen die Anwesenden ihren Chef anrufen und ihn fragen würden: „Was haben Sie sich nur dabei gedacht, uns diese ahnungslose Dumpfbacke als Workshopleiterin vor die Nase zu setzen?“

Was genau ist das Hochstapler-Syndrom?

Ich wette, ihr kennt das Gefühl auch: Manche leiden nur temporär darunter, andere große Teile ihres Lebens. Es ist das nagende Gefühl, dass man nicht gut genug ist, dass man nicht dazugehört, dass man den Job, die Beförderung oder den Platz am Tisch nicht verdient hat. Und wenn etwas gelingt, dann muss Glück im Spiel gewesen sein, nicht eigenes Können oder Talent.

Das Phänomen hat einen Namen: Impostor Syndrome – auf Deutsch: Hochstapler-Syndrom. Der Begriff wurde Ende der Siebziger Jahre von den beiden amerikanischen Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes geprägt. Der Begriff bezeichnet das psychologische Muster, wenn Menschen ihre eigenen Fähigkeiten anzweifeln und von der Angst geplagt werden, als Betrüger entlarvt zu werden, der gar nicht im Stande ist, zu leisten, was er vorgibt leisten zu können.

So gut wie niemand ist davor sicher – außer echte Betrüger und ausgewachsene Schwachmaten. Warum die letztgenannten Typen nicht Gefahr laufen, davon betroffen zu sein, hat der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell auf den Punkt gebracht:

„Das ganze Unglück in dieser Welt ist, dass die Dummen so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel sind.“
Bertrand Russell

Das ist die Ironie an der Sache: Wer keine Ahnung hat, tut sich leichter – vor allem, wenn er es gar nicht bemerkt.

Müssen wir wirklich alle Selbstzweifel ablegen?

Was die Sache mit dem Hochstapler-Syndrom so herausfordernd macht für diejenigen, die davon betroffen sind, ist, dass das nagende Gefühl, nicht gut genug zu sein und damit aufzufliegen, sich auch dann nicht legt, wenn man erfolgreich ist.

Die meisten Tipps, wie mit diesen Selbstzweifeln umzugehen ist, drehen sich um die darin liegende Selbstsabotage und wie diese unterbunden werden kann. Das Hochstapler-Syndrom wird dort immer als etwas Schlechtes beschrieben und die Prämisse ist: Du musst dringend etwas daran ändern! Du musst dich von diesen Selbstzweifeln befreien!

Ich sehe das anders!

Die Dosis macht das Gift. In moderaten Mengen ist das Hochstapler-Syndrom eher eine Tugend als ein Laster. Selbstzweifel sind gut. Ich will überhaupt nichts dagegen unternehmen.

Und das aus zwei Gründen:

„Erfolg ist ein ganz schlechter Lehrer“, sagt Bill Gates. „Er verführt kluge Menschen zu glauben, dass sie nicht verlieren können.“

Das bedeutet: Wir sollten uns immer mal wieder hinterfragen, aus der eigenen Komfortzone heraustreten und uns in neue und unerforschte Gebiete vorwagen, um zu wachsen und uns weiterzuentwickeln.

Und genau da liegt die Herausforderung: Wenn die Dinge neu sind, fühlen wir uns nicht so wohl wie bei etwas, das wir in den letzten 20 Jahren getan haben. Im Umkehrschluss: Wer sich beim Betreten des Neulands unwohl und unsicher fühlt, ist gerade dabei, etwas Neues zu lernen. Und das ist doch ein gutes Zeichen!

Bei mir ist es so, dass ich immer dann besonders stark die mit dem Hochstapler-Syndrom verbundenen Ängste und Unsicherheiten spüre, wenn ich mich über meine Grenzen hinauswage. Immer dann, wenn ich neue Dinge angehe, die für mich außerhalb des Gewohnten und Vertrauten liegen. Oder dann, wenn ich schwierige Diskussionen führe. Bei all diesen Gelegenheiten, wenn ich die Grenzen des Machbaren ein Stück weit verschieben, kommt die Angst, nicht gut genug zu sein.

Was wir uns in diesen Momenten vor Augen halten sollten: Diese Angst ist die natürliche Begleiterscheinung, die zeigt, dass wir die Komfortzone verlassen. Wenn du also das nächste Mal das Gefühl hast, dass sich Selbstzweifel einschleichen, nimm sie einfach an: Du bist auf dem richtigen Weg!

Wer glaubt, mit einer vermeintlich mangelnden Kompetenz auffliegen zu können, verspürt den Druck, die Hausaufgaben zu machen und sich gründlich vorzubereiten. Dann übst du deine Präsentation eben so lange, bis du sie rückwärts aufsagen kannst. Oder du bereitest dich auf das Kundengespräch noch gründlicher vor.

Und selbst wenn der Erfolg da ist, bleibst du am Ball, denn du weißt, dass es keine Garantie für den zukünftigen Erfolg gibt:

Nur ein Idiot glaubt, er sei irgendwann angekommen!

In dem Moment, in dem du glaubst, es geschafft zu haben, hörst du auf, dich anzustrengen. Wenn du glaubst, die Antworten zu kennen, hörst du auf, zuzuhören. Wenn du glaubst, genial zu sein, fängst du an, anderen die Schuld zu geben, wenn die Dinge nicht wie geplant laufen. Und du hörst auf, aus deinen Fehlern zu lernen.

Wenn du also das nächste Mal das Gefühl der Unsicherheit und die mit dem Hochstapler-Syndrom verbundenen Selbstzweifel in dir aufsteigen spürst, dann begrüße sie!

Sei dankbar, dass sie da sind, denn die Zweifel sind ein Signal, dass du dich weiterentwickelst. Sie sind der notwendige Preis für persönliches Wachstum.

Anja Förster schreibt über Wirtschaft & Management, Perspektiv-Wechsel, Innovation, Führung

Meine Mission ist es, Denkmauern einzureißen und den Horizont zu öffnen für eine neue Art zu leben und zu arbeiten. Meine Bücher sind Spiegel-, ManagerMagazin- und Handelsblatt-Bestseller und in über 10 Sprachen übersetzt worden.

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