„Das Kapital an Genauigkeit“: Über die Kunst des Denkens
Es ist kein Zufall, dass die Idee der Gymnastik, in der die Philosophie von Paul Valéry (1871-1945) gründet, heute eine Renaissance erlebt. Ziel ist die Steigerung der Möglichkeiten, „das Kapital an Genauigkeit, an Kraft, an sicheren und raschen Reaktionen". Jeden Morgen widmete er sich in einem strengen Ritual mehr als fünfzig Jahre lang seinen „Cahiers" (Notizhefte) und setzte der Unsicherheit seiner Zeit diszipliniert und in individueller Höchstleistung die Arbeit des Denkens entgegen. Was auch immer geschah: Täglich rauchte der Schornstein seiner „kleinen Fabrik". Er eignete sich die Gedanken anderer an und listete diese Anregungen in Fußnoten auf. Ihn interessierte alles. Am liebsten dachte er allerdings über das Denken selbst nach:
Er präzisierte in seinen Cahiers auch das Können: „Ich KANN tun, handeln, ändern - das ist die Bedeutung von Fähigkeit - und der Aspekt des Handelns." Das Können (sein Zentralgedanke) hat für ihn Vorrang vor dem Wissen: „Leonardo sah, daß man A nur dann wirklich kennt, wenn man es macht, und daß, wenn man A machen kann, dies bedeutet, daß man nicht nur A machen kann, sondern auch A', A" - also Verwandte von A." Das wirkliche (wirksame) Wissen ist für ihn Können. Jede Ausbildung, „die ohne Training auskommen will, das heißt ohne eine Methode zur Entfaltung der Kräfte des Individuums", züchtet nach Valéry nur „redende Tiere" heran. Es sollte verboten werden, von etwas zu sprechen, was man nicht gesehen oder selbst erfahren hat. Valéry ist hochaktuell, weil seine Kunst des Denkens uns lehrt, wie wir richtig unterscheiden, bewerten, die Kräfte unseres Könnens entfalten und den Panoramablick im Digitalisierungs- und Innovationszeitalter schulen können. Dazu sollte vor keiner Fachgrenze haltgemacht werden: „Seien Sie zugleich Dichter, Ingenieur, Philologe, Geometer, Soldat, Physiologe ... Dann werden Sie von hundert Einfällen, die Ihrem Geist entspringen, 60 gebrauchen können. - ein einziger Eindruck wird Ihnen zehn lebende Sorten von Gedanken zuführen. - Sie werden die Zahl der intellektuellen Fehlgeburten, der vergeudeten Funken unvergleichlich verringern." Dabei geht es nicht darum, alles zu wissen, sondern darum, das Wissen besser zu nutzen, nicht „schlau" zu werden (wie es in der heutigen Managementliteratur oft suggeriert wird), sondern weise. Aber das gelingt nur jenen, die ihren Geist richtig zu gebrauchen wissen.
Durchstreichen und verändern: Warum wir denken neu lernen müssen
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Thomas Stölzel (Hg.): Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler. 2. Auflage. Heidelberg und Berlin 2021.