Debatte um Mehrarbeit: Sind die Deutschen (wirklich) zu faul?
Debatte um Mehrarbeit: Sind die Deutschen (wirklich) zu faul?
Im Ausland genießen deutsche Arbeitnehmende oft einen hervorragenden Ruf. Sie gelten als fleißig, diszipliniert und zuverlässig. Besonders in Bereichen wie Maschinenbau oder Automobilindustrie, in denen Deutschland weltweit nach wie vor eine führende Rolle spielt, werden Deutsche für ihr Qualitätsbewusstsein und ihre Gründlichkeit und Integrität geschätzt. Das langjährige Stereotyp der „deutschen Effizienz“ hat seine Wurzeln in historischen Werten wie Pünktlichkeit, Sparsamkeit und einem ausgeprägten Pflichtbewusstsein, die bereits im 19. Jahrhundert kultiviert wurden.
In Deutschland selbst allerdings gerät dieses Bild in letzter Zeit ins Wanken.
Immer lauter – und prominenter – werden die Stimmen derjenigen, die der Meinung sind, dass deutsche Arbeitnehmende sich wieder mehr ins Zeug legen müssen. So fordert Sigmar Gabriel, ehemaliger SPD-Vorsitzender, eine 42-Stunden-Woche, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern.
Auch Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), betont, dass Deutschland längere Arbeitszeiten benötigt, um den Fachkräftemangel zu bewältigen. Hüther sieht die Schweiz als Vorbild, wo bis zu 300 Stunden pro Jahr mehr gearbeitet wird als in Deutschland.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck plädiert für finanzielle Anreize, die ältere Arbeitnehmer dazu motivieren sollen, freiwillig länger im Berufsleben zu bleiben. Er will so dem demografischen Wandel entgegenwirken und das Rentensystem stabilisieren.
Unterstützt wird seine Forderung von Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Noch einen Schritt weiter geht Joachim Wenning, CEO von Munich Re, der nicht nur für eine spätere Rente, sondern auch die Streichung gesetzlicher Feiertage eintritt, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu erhöhen.
Wie gerechtfertigt sind diese Forderungen? Sind sie sozial und gesellschaftlich vertret- und vor allem umsetzbar? Und wie stehen diejenigen dazu, die die Mehrarbeit leisten sollen?
Arbeiten in Deutschland: Klagen auf hohem Niveau?
Im europäischen Vergleich (Durchschnitt: 36,9 Stunden) wird nur in den Niederlanden, Norwegen und Dänemark weniger gearbeitet als hier. Mit 34,7 Stunden durchschnittlich geleisteter Wochenarbeitszeit hat diese seit 1991 (38,4 Stunden) merklich abgenommen. Wirft man einen Blick auf die frühere Bundesrepublik, dann hat sich seit 1970 die Zahl der Arbeitsstunden pro Jahr von knapp 2.000 auf rund 1.300 reduziert.
Gleichzeitig ist die Teilzeitquote mit fast 40 Prozent auf einem Rekordhoch. „Der höchste Krankenstand, die wenigsten Überstunden, die meiste Teilzeit: Die Arbeitszeit war noch nie außer im Corona-Jahr 2020 so niedrig wie 2023“, resümiert Enzo Weber, Leiter des IAB-Forschungsbereichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen.
Auf dem Papier scheint die Lage eindeutig zu sein. Auch und gerade angesichts der Tatsache, dass die Babyboomer in den nächsten Jahren in Scharen den Arbeitsmarkt verlassen, scheint an Mehrarbeit – in welcher Form auch immer – kein Weg vorbeizugehen. Tatsächlich können sich viele derjenigen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, vorstellen, auch danach weiterzuarbeiten – wenn auch am liebsten in Teilzeit. Das Institut der deutschen Wirtschaft kommt in einer aktuellen Umfrage zu dem Ergebnis, dass das bei etwa ein Drittel der Beschäftigten der Fall ist.
Bei der im Frühjahr durchgeführten XING Studie gaben sogar 53 Prozent der Generation 50+ an, über das offizielle Rentenalter hinaus arbeiten zu wollen und zu können. Während 56 Prozent der Befragten weiterhin im Kontakt mit Menschen sein wollen, sind für die meisten (63 %) vor allem finanzielle Aspekte ausschlaggebend.
Denn auch beim Thema Rente schneidet Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern schlecht ab: Im Schnitt werden nur 52,9 Prozent des letzten Gehalts als Rente ausgezahlt. Konkret erhielten Ruheständler 2023 eine Rente von durchschnittlich 1.102 Euro – Männer 1.348 und Frauen 908 Euro. Und das reicht angesichts steigender Lebenshaltungskosten oft nicht aus.
Aber auch wenn eine freiwillige Verlängerung der Arbeitszeit von älteren Beschäftigten die strukturellen Probleme abfedern kann, ist sie eine bestenfalls mittelfristige Lösung. Denn es fehlt nicht nur an Arbeitskräften für die Mehrarbeit, sondern auch oft am Willen. Generationenübergreifend möchten 49 Prozent ihre Arbeitszeit reduzieren, bei den Beschäftigten der GenZ ist der Anteil mit 53 Prozent am höchsten (Millennials: 50 %; Generation X: 48 %) – das zeigt der XING Arbeitsmarktreport 2024.
Aus ökonomischer Perspektive nüchtern betrachtet, muss das allerdings nicht unbedingt ein Problem sein: wenn die Mehrheit der Gesellschaft den Wert von Freizeit höher bewertet als den von zusätzlicher Wirtschaftsleitung – also bewusst einen Wohlstandsverlust in Kauf nimmt – ist das eine rationale Entscheidung.
Selbstbestimmung als Schlüssel
Was man beim Blick auf Kennzahlen wie Teilzeitquote und durchschnittliche Wochenarbeitszeit stets beachten sollte, sind die Gründe, aus denen sich Menschen für ein gegebenes Modell entscheiden. Bei den Gründen für Teilzeitarbeit gilt beispielsweise, dass insgesamt 36 Prozent der Deutschen in Teilzeit arbeiten, da sie aufgrund der Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen gar nicht in Vollzeit arbeiten können. Während das für nur 18 Prozent der Männer gilt, ist die Betreuung im familiären Umfeld für 42 Prozent der Frauen der Hauptgrund dafür nicht in Vollzeit zu arbeiten.
Sollten wir als Gesellschaft wollen, dass die Wochenarbeitszeit und damit die volkswirtschaftliche Wertschöpfung steigt, wären bessere Betreuungs- und Pflegeangebote also sicherlich ein guter und effektiver Hebel. Dann könnten auch die vielen Menschen, die unfreiwillig in Teilzeit arbeiten frei entscheiden, wie lange sie pro Woche arbeiten wollen.
Auch wenn es darum geht, wie man die Arbeitskraft der aus dem Arbeitsmarkt ausscheidenden Babyboomer erhalten könnte, würde ich die Freiwilligkeit in den Vordergrund stellen: statt das Rentenalter immer weiter anzuheben – was in Frankreich unlängst zu Massenprotesten führte und auch hierzulande nicht gut gelitten ist – gilt es meiner Meinung nach, Anreize zu schaffen, die Menschen eigeninitiiert motivieren, sich für einen längeren Verbleib am Arbeitsmarkt zu entscheiden.
Der übersehene Faktor: Produktivität
Wenn man das Lehrbuch befragt, woraus sich volkwirtschaftliche Leistung ergibt, so lernt man, dass man neben der Anzahl an Erwerbspersonen und der Anzahl an geleisteten Arbeitsstunden pro Erwerbsperson auch die Arbeitsproduktivität pro Stunde beachten muss. Immerhin ist diese Arbeitsproduktivität pro Stunde in Deutschland zwischen 2011 und 2023 um mehr als 9 Prozent gestiegen.
Wenn es uns gelingt, künstliche Intelligenz so einzusetzen, dass sie einen Teil der Arbeit übernimmt und sich Menschen höherwertigen Tätigkeiten widmen können, könnte dies substanzielle Steigerungen der Arbeitsproduktivität zur Folge haben – frühe Studien auf diesem Feld legen das zumindest nah.
Wie steht ihr zum Thema Arbeitszeit? Sollten wir (wieder) mehr arbeiten? Oder ist der Blick auf die Wochenstundenanzahl überholt?
Ich freue mich auf eure Einschätzungen!