„Den existenziellen Tatsachen ins Auge“ sehen: Sarah Kirschs verdichtete Nachhaltigkeit
Nach der Ausbürgerung des Sängers Wolf Biermann aus der DDR gehörten 1976 neben Günter Kunert und Jurek Becker auch Christa und Gerhard Wolf sowie Sarah Kirsch zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die eine Petition dagegen verfasst und unterschrieben hatten. Es folgten Repressionen, Parteiausschlüsse, Berufsverbote und andere Schikanen.
Die Lyrikerin Sarah Kirsch (1935–2013) verlor ihre Funktion im Vorstand des Schriftstellerverbands und wurde aus der SED ausgeschlossen. 1977 reiste sie aus, die Wolfs blieben in der DDR zurück. Bis 1981 lebte sie in West-Berlin und zog dann mit ihrem Sohn Moritz und Wolfgang von Schweinitz in das niedersächsische Dorf Bothel. 1983 brachten sie neues Leben in die alte Dorfschule von Tielenhemme am Dithmarscher Eiderdeich. Mit im Kirsch-Gepäck waren nicht nur Lyrik und Prosa, sondern auch „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ von John Seymour, das 1976 auf Deutsch erschienen war. Diese Einführung in die Philosophie und die Praxis der Selbstversorgung traf in der Bundesrepublik einen Nerv. Allerdings wurde die Vorstellung, seine Ideen umzusetzen, relativ schnell fallengelassen. Sarah Kirsch lebte einfach gern in der ländlichen Einsamkeit unter Dorfleuten und Schafen und Kühen.
„Ja, dieses Stadtleben sei ihr mit der Zeit als vergeblich erschienen – immer dieselben Leute, immer dieselben Lokale, immer dieselben Gespräche, immer dieselben Themen. Die Jahreszeiten hätten ihr gefehlt. Und die riesige Spanne zwischen arm und reich sei ihr in West-Berlin unerträglich geworden: Auf der Straße arme Leute und in der Lebensmittelabteilung des KaDeWe Croissants, die aus Frankreich eingeflogen worden waren – das war ihr einfach zuviel. Deshalb sei sie aufs Land gezogen – nicht um eine Idylle zu finden, sondern um allein am Rand der Welt wie Robinson Crusoe den existenziellen Tatsachen ins Auge zu sehen – auf einem, so sagte sie, ‚beknackten Planeten mit einer kaputten Natur‘“, schreibt Frank Trende in seinen Gedanken zu ihrem Tagebuch aus der Wendezeit, das auch ihre frühe ökologische Sensibilität und das Interesse für Umweltfragen offenbart. Am 13. Dezember 1989 notiert sie beispielsweise: „Und die Natur ist auch schon kaputt auf den großen Schlägen. Selbst der Ackerboden ist dreimal so tot und vergiftet wie hier. Alles grauenvolle Themen.“ Als er Sarah Kirsch zum ersten Mal in Tielenhemme besuchte, wo sie mit den Katzen Wassilij und Loulou, ihrem Sohn Moritz und Hund Robert lebte, durfte er nicht nur das alte Schulhaus in Augenschein nehmen, sondern auch den Garten. In den Folgejahren wurde die Dichterin allerdings nicht zur Öko-Bäuerin, sondern wollte lediglich in ungestörter Abgeschiedenheit arbeiten und die Jahreszeiten erleben.
Die innere Distanz zu Christa Wolf wurde immer größer. Das belegt auch das in der Edition Eichthal von ihrem Sohn Moritz Kirsch herausgegebenes Tagebuch aus der Wendezeit 1989/90 („Ich will nicht mehr höflich sein“). So heißt es zum Beispiel am 16. Oktober 1989: „Gestern kam noch ein Eilbrief von Krumbholz, worin u.a. stand, daß Christa aus der Partei ausgetreten sei. Sie brauchte wohl erst ihr eigenes China, ihre verhafteten zusammengeschlagenen Kinder. Jetzt geht es ihr besser.“ Am 9. November 1989 notiert sie: „Christa rief im Fernsehen zum Dableiben auf. Heym auch. Dramatisch solls gewesen sein.“ Sarah Kirsch wollte nie in „solchen Ausschüssen arbeiten wie Christa Wolf, mit alten lügenden Armee-Schweinen“. Als sie noch in der DDR lebte, erschien sie ihr immer wie eine andere Welt: „Ihre Bekannten waren nicht meine. Ihr Leben hab ich nie ganz toleriert … Christa die Kuh nun aufm Eis. Steckt fest. Was bin ich? O ich bin in diesem Zusammenhang ein hochmütiges Lama. Mit langen Wimpern.“
Manchmal scheint es, als würde das schnell Notierte, sich dem Augenblick Überlassene, noch Unreflektierte das Werk entzaubern. Wo etwas nicht direkt ausgesprochen ist, sondern sich im Werk verdichtet, wird auch der Zauber der Worte bewahrt. Wo alles zum Alltag wird, verblassen sie. Auch sollten die Tagebücher im Kontext der Briefe gelesen werden – wo Aussagen unverbunden sind, ist es auch das Bild, das vermittelt wird. Nach dem Fall der Mauer gerät Christa Wolf unter politischem und künstlerischem Rechtfertigungsdruck wegen ihrer Stasi-Vergangenheit. Kurz vor Weihnachten 1990 schreibt sie den letzten Brief an Sarah Kirsch: „Ich hätte mich in diesem langen Sommer über ein Wort von dir gefreut. Ich möchte nicht, daß wir vielleicht durch ein Mißverständnis noch mehr auseinandergetrieben werden.“ Die Antwort: „Vielleicht kannste die Politik auch mal wieder dahin rücken wo sie hingehört, diesz wünsche ich dir doch sehr von Herzen, sonst ist es kaum möglich zu schreiben.“ - „So viel also. Auweia!“ Das sind im Sommer 1992 ihre letzten Worte an das Ehepaar Wolf. Was folgt, ist Schweigen bis in den Tod. Christa Wolf, geboren 1929, stirbt Ende 2011 in Berlin, und Sarah Kirsch eineinhalb Jahre später in Schleswig-Holstein.
Sarah Kirsch: Ich will nicht mehr höflich sein. Tagebuch aus der Wendezeit. 31. August 1989 bis 18. März 1990. Edition Eichthal. Eckernförde 2022.
Sarah Kirsch, Christa Wolf: Der Briefwechsel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Christa Wolf: Umbrüche und Wendezeiten. Herausgegeben von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten - Briefe 1952-2011. Herausgegeben von Sabine Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013.