Der Hype ums Scheitern ist ein Fehler
Macht mehr Fehler und redet darüber! Scheitern liegt im Trend, so scheint es. Werden Loser etwa zu neuen Helden unserer Arbeitwelt von morgen? Warum wir aufhören sollten, Fehler und Scheitern zu glorifizieren.
„Mach was, womit Du scheitern kannst!“ titelte kürzlich ein großes Management-Magazin. „Wir müssen mehr über unsere Fehler reden“ las ich woanders am Tag darauf. Sogenannte "Fuck-up-Nights" ziehen Scharen von Menschen an und Scheitern ist zu bejubeltem Entertainment geworden. Wer scheitert, der hat es wirklich drauf und ist cool, so scheint es. Keine Fehler machen nur Loser. Der populärste Verfechter dürfte Amazon-Chef Jeff Bezos sein, der regelmäßig öffentlich verkündet, Erfolg und Scheitern seien untrennbar miteinander verbunden.
Die Logik dahinter ist simpel: Keine Angst vor Fehlern, denn Angst lähmt und blockiert uns. Lernen durch Fehler. Persönliches Wachstum durch Überwindung schwieriger Situationen. Innovation durch Eingehen von Risiken. Erweiterung des persönlichen Horizonts durch Verlassen der sicheren Komfortzone. Entwicklung und Wachstum durch erlebte Grenzerfahrungen. Ja, so ist es. Doch ist es daher richtig, mehr Scheitern zu fördern?
Arbeiten 4.0: Fehler und Scheitern erwünscht?
Der aktuelle Hype ums Scheitern ist wohl ein Zeichen der Zeit. Denn unsere Arbeitswelt wird immer stärker von Dynamik und Komplexität und damit extremer Unsicherheit geprägt. Innovationen müssen in kürzeren Zyklen erfolgen, Kundenanforderungen werden immer individueller. Der Wandel rund um Industrie 4.0, Digitalisierung und neue Formen der Zusammenarbeit erfordert ein hohes Maß an Veränderung und Bereitschaft hierzu.
Der Aufruf zu mehr Scheitern und damit der Mut Zuspruch für mehr Fehler wirken in der hohen Unsicherheit und Unberechenbarkeit des täglichen Handelns und seiner Folgen wie eine heiß ersehnte, erleichternde Erlaubnis. Mehr noch, denn derartige Plädoyers sollen unsere Neugierde und Lust aufs ungewisse Ausprobieren beflügeln. Fortschritt durch Absolution des Scheiterns?
Die Angst vor Fehlern sitzt tief
Dabei haben wir doch von klein auf gelernt, dass Fehler schlecht sind und bestraft werden. Die Angst vor Fehlern sitzt tief in uns. So laut der Hype ums Scheitern auch sein mag, für die breite Masse der Unternehmen, ihrer Manager und Angestellten wird zumindest in den nächsten Jahrzehnten noch gelten, dass Fehler negativ belegt sind und ökonomisch folgenschwere Fehler auch zu Bestrafung im Beruf oder sogar zur Kündigung führen. Denn Fehler verursachen Kosten und Kosten wiegen in der ebenfalls für unsere Zeit typischen unternehmerischen Kurzsichtigkeit deutlich schwerer als unbestimmte Erlöse aus zufälligem Fortschritt als Folge von Scheitern.
Schauen Sie sich um, wie die Realität in Unternehmen aussieht: Leistung und Erfolg werden an Perfektion und Zielerreichung gemessen. Planungsmethoden und die unbedingte Einhaltung von Prozess-Standards sollen Sicherheit schenken und Qualität sichern. Ein Gefühl von Gefängnis statt Freiheit. Selbst das momentan so angesagte „Agile“ muss sich vielerorts am Ende doch wieder den altbekannten KPIs und der angestaubten Richtig-Falsch-Denke beugen.
Wir sind in den meisten Konzernen und vor allem in den vielen mittelständischen Betrieben in Deutschland meilenweit entfernt von einer Unternehmenskultur, die Fehler zulässt, geschweige denn fördert.
Denkfehler: Scheitern um des Scheiterns Willen
Ist es der richtige Zeitpunkt und eine gute Botschaft, Scheitern zu solch wertvollem Gut zu küren? Viele Arbeitnehmer würden ihren Chefs sicherlich liebend gerne die öffentlichen Aufrufe zum Fehler machen vor die Nase halten und fordern: „Boss, loben Sie mich gefälligst, weil ich es verbockt habe!“ Ich halte mich für sehr fehlertolerant, doch ich finde, das klingt absurd und frage mich, was wohl Jeff Bezos von Amazon seinen Mitarbeitern antworten würde: „Danke für diesen neuen, großartigen Misserfolg“?
Mal ehrlich, jeder von uns erwartet von einem Chirurgen, dass er keine Fehler macht und der Postbote soll den Steuerbescheid bitteschön auch nicht in den Briefkasten des Nachbarn einwerfen. Spätestens wenn wir selbst unmittelbar von Fehlern betroffen sind, schrumpft unsere Fehlertoleranz auf ein Minimum.
Es ist ein Fehler, Scheitern um des Scheiterns Willen derart attraktiv zu machen. Denn ich frage mich, wie sähe die Arbeitswelt in Zukunft aus, in der jeder von uns unbesorgt eine Haltung einnimmt, in der es egal ist, ob Fehler geschehen oder nicht? – Tschüss Selbstverantwortung!
Das Verrückte: Mitarbeiter im Team sollen in Zukunft mehr Selbstverantwortung übernehmen, heißt es vor allem dort, wo strukturell weiter fleißig am Hierarchie-Abbau gebastelt wird. Wie passt das beides zusammen?
Pssst! Fehler dürfen dazugehören
Die Lautstärke und damit die Aufmerksamkeit machen die Musik. Eine gute Fehlerkultur in Unternehmen fokussiert nicht auf Fehler, sondern sie akzeptiert sie. Fehler und Scheitern gehören dazu, wo Menschen arbeiten - mal mehr, mal weniger. In manchen Organisationen mag es hilfreich sein, für Fortschritt und Innovation bewusst stärker Risiken einzugehen und mehr Fehler zuzulassen, für ein Krankenhaus wird das hoffentlich auch in Zukunft nicht gelten.
Der aktuelle Hype um mehr Fehlertoleranz darf nicht zu einer Haltung in unserer Gesellschaft führen, in der Fehler egal und damit gleichwertig oder sogar besser als Fehlerfreiheit sind. Fehler tolerieren bedeutet, sie als möglichen Bestandteil von Arbeit und Leben bewusst anzuerkennen, wahrzunehmen und in einem definierten Toleranzbereich auch zuzulassen. Erst dann kann aus Fehlern Lernen und Entwicklung werden.
Bevor wir uns in unserer Arbeitswelt im Wandel einreden, dass Scheitern cool ist, sollten wir erst den nächsten Entwicklungsschritt gehen und damit aufhören, Perfektion und jederzeitiges Funktionieren zu fordern, Fehler mit Angst belegt zu verteufeln und im Fehlerfall zuerst nach Schuldigen statt nach Verantwortlichen zu suchen.
Es ist ein Fehler, Fehler zum Gesprächsthema in Meetings oder Mitarbeitergesprächen zu machen, nur weil es angesagt erscheint, über Fehler zu sprechen. „Redet über Eure Fehler!“ wird heute noch nicht den Schalter für mehr Fehlertoleranz umlegen, sondern die Problemfixiertheit in Unternehmen weiter stärken und Schwache weiter schwächen.
Fehlertoleranz: Erst Haltung, dann Verhalten
Erst wer die Verantwortung für sich, sein Denken und Handeln als einzelner Mensch und als Teil eines Teams in einer Organisation oder Gesellschaft übernimmt, der wird mit Fehlern wertschätzend und gesund umgehen und sie als Entwicklungschance begreifen können.
Management und Führung haben die Aufgabe, Arbeitnehmern nicht nur oberflächlich rational die Angst vor Fehlern zu nehmen, sondern sie gleichzeitig zu wirklich Verantwortlichen ihres Denkens und Handelns in ihrem Arbeitsbereich zu machen. Es wird nicht funktionieren, Scheitern zu bejubeln und offen über Fehler zu sprechen, solange die hierfür wichtige Haltung als Ergebnis von übernommener Selbstverantwortung nicht vorhanden ist und gelebt wird.
Fehler sind Bestandteil von Arbeit und Leben, doch ihre Glorifizierung ist ein Fehler. Fehlertoleranz erfordert keinen Lautsprecher, sondern Arbeit jedes Einzelnen – vom Top-Management bis zur Basis – an seiner individuellen Haltung Fehlern gegenüber. „Lasst uns drüber reden!“ ist lediglich das Ventil für heiße Luft. Erst die Übernahme von mehr Selbstverantwortung als Ausdruck einer Erfolge und auch Fehler richtig wertschätzenden Haltung wird dazu führen, situativ gut mit Fehlern umzugehen und solch heiße Luft ums Scheitern in Zukunft überflüssig zu machen.
Wie stehen Sie zum Hype ums Scheitern? Was ist für Sie eine gute Haltung Fehlern gegenüber und welche Fehlertoleranz besitzen Sie heute oder wünschen Sie sich für die Zukunft?
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