Der neue US-Präsident: große Hoffnungen und viele Herausforderungen
Die Rede von Joe Biden war versöhnlich, hoffnungsvoll und zugleich kraftvoll, kurzum: präsidial. Sie hat gezeigt, dass die Rhetorik im Weißen Haus eine gänzlich andere sein wird als in den vergangenen vier Jahren unter Trump. Und allein dies ist ein enormer Fortschritt, denn Versöhnung ist eine wichtige Kraft, weil sie Menschen zusammenführt und Optimismus nährt.
Die begründete Hoffnung auf einen neuen Zusammenhalt in den USA und mehr Zusammenarbeit in der Welt sieht sich jedoch zwei großen Herausforderungen gegenüber, einer innenpolitischen und einer außenpolitischen. Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft war schon nach Obama tief und sie ist unter Trump noch tiefer geworden. Als Barack Obama im Jahr 2009 sein Amt antrat, konnte er seine ebenso hoffnungsvoll erwartete innenpolitische Agenda kaum umsetzen, denn die große globale Finanz- und Wirtschaftskrise platzte mitten in die große Reformagenda. It’s the economy, stupid – wird es wohl auch dieses Mal heißen, wenn am 20. Januar 2021 Joe Biden seine Amtszeit beginnt. Denn auch er wird sich zunächst einer großen Wirtschaftskrise gegenübersehen. Die große Herausforderung, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, wird zusammenfallen mit der Aufgabe, die Wirtschaft nach der Corona-Pandemie aus der Krise zu führen. Gleichzeitig die Wirtschaft zu entlasten und die soziale und ökologische Transformation der Gesellschaft voranzubringen, erfordert eine große wirtschaftspolitischen Idee, die von allen getragen wird.
Das zweite wichtige Feld ist die Außenpolitik. Die geopolitischen Konflikte mit China haben sich mit der Wahl Bidens nicht erledigt. Im Gegenteil: China ist sehr gut aus der Krise gekommen und wird sehr selbstbewusst seine neue Rolle definieren. Das transatlantische Bündnis mit Europa strategisch wieder zu stärken, ist vor diesem Hintergrund wichtig und notwendig. Doch auch hier zeigt sich eine große Herausforderung. Die Globalisierung wird zwar nicht zu Ende gehen, der internationale Handel unter Biden vielleicht wieder stärker multilateral ausgerichtet sein, jedoch wird sich politische und gesellschaftliche Bewertung der Globalisierung im Vergleich zu den letzten drei Jahrzehnten, als Globalisierung weitgehend akzeptiert war, signifikant verändern. Der innenpolitische Druck, die Effekte der Globalisierung sozialverträglicher zu gestalten, wird zu einer deutlichen Verlangsamung (Slowbalization), vielleicht sogar zu einer teilweisen Zurückdrängung der Globalisierung (Deglobalization) führen. Die stärker nationale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik wird nach der Coronakrise womöglich einen zusätzlichen Push erleben. Der Schutz der heimischen Wirtschaft und Beschäftigung wird in den Vordergrund rücken. Gleichzeitig - und dadurch noch verschärft - werden die geopolitischen Konflikte an Bedeutung gewinnen. Der Übergang von einer machtbestimmten zu einer wieder stärker regelbasierten Weltordnung hängt wesentlich an der politischen Einigkeit und Wertegemeinschaft zwischen den USA und Europa.
Doch Europa befindet sich in einem wenig komfortablen Dilemma: Die EU-Länder müssen dem eigenen innenpolitischen Druck nach nationaler Wirtschaftspolitik trotzen und sich gegen diesen Trend die europäische Einigung in der Coronakrise politisch weiter vertiefen, um geopolitisch die erforderliche Stärke und Größe den USA und China entgegensetzen zu können. Die größte Chance dafür bietet mehr europäische Souveränität in einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Technologie- und Industriepolitik. Hier aber hat Europa in den letzten Jahren keinen nennenswerten Fortschritte gemacht.
Die Hoffnungen, die Biden nicht nur für die USA selbst, sondern auch für Europa bedeutet, messen sich daher an der Fähigkeit Europas, einen eigenen Politikansatz zu entwickeln und nicht nur diese Hoffnungen auf Biden zu richten. Biden wird sich zunächst um die USA kümmern müssen. Dort entscheiden sich die Akzeptanz und Unterstützung für seine Politik, die vor allem auf die Überwindung der Spaltung ausgerichtet sein wird. Denn er muss auch die andere Hälfte der Bevölkerung überzeugen. Man sollte nicht noch einmal den Fehler machen, das Phänomen Trump allein mit der Person Trump und somit als Singularität zu erklären. Trump ist mehr als ein Irrtum, er ist das Ergebnis enttäuschter Hoffnungen und Versprechen. Die Hoffnungen erneut zu enttäuschen, kann in vier Jahren wiederum zu einer Gegenbewegung führen.