Der Welt abhandengekommen: Was von Karl Lagerfeld bleibt
Lagerfelds Lebenskunst
„Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
Und ruh‘ in einem stillen Gebiet!
Ich leb‘ allein in meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied!“
Karl Lagerfeld mochte die Gedichtzeilen von Friedrich Rückert, die Gustav Mahler vertont hat: „Ich bin der Welt abhandengekommen.“ Noch zu Lebzeiten war er aus der Zeit gefallen, aber Zeitprobleme kannte der Künstler und Modedesigner nicht, weil er kaum ausging. All das interessierte ihn im Alter nicht mehr. Unverständlich waren ihm auch die Klagen einiger Designer über ihre Arbeit: "Wenn man denkt, es ist zu viel, dann sollte man die Finger von solchen Verträgen lassen." Das war keine Arroganz und Überheblichkeit, sondern eine einfache Wahrheit: Fokussierung. Dies zu können bedeutet nicht nur, die höchsten Prioritäten zu setzen, sondern auch zu entscheiden, welche Aufgaben von der eigenen To-do-Liste gestrichen werden können, um sich auf die richtigen Maßnahmen zu konzentrieren.
Dabei geht es nicht nur um die Effektivität im eigenen Leben, sondern auch um die Bedeutung der Fokussierung in der Gesellschaft. Das funktioniert, wenn wir schädliches Multitasking, das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Aufgaben (das zu mehr Fehlern führt, die im Nachgang wieder korrigiert werden müssen) vernachlässigen und lernen, uns auf das eigene Potenzial und die damit verbundenen Möglichkeiten zu konzentrieren und Störfaktoren ausblenden. Schon Goethe und Steve Jobs waren klug genug, sich nicht durch den Zufluss der Realität innerlich überschwemmen zu lassen. Innerer Zusammenhalt war bei Goethe mit dem „unentbehrlichen, scharfen, selbstischen Prinzip" verbunden, das einem Menschen etwas Kompaktes und Undurchdringliches gibt. Auch Karl Lagerfeld sagte von sich: „Ich bin total Egoiste." Alle Fokussierten können sich mit einer Aufgabe intensiv und leidenschaftlich beschäftigten und nehmen alles andere um sie herum kaum wahr. Wer etwas hervorbringen möchte, muss sich vorher „abschließen", wird aber dennoch das Big Picture nie aus den Augen verlieren.
Goethe, Steve Jobs und Lagerfeld hatten viel gemeinsam, denn sie bestimmten, was für sie Priorität hatte, lebten in ihren magischen Momenten radikal aus ihrem Inneren heraus, handelten nach ihrer inneren Überzeugung und waren frei von äußeren sozialen Zwängen. Sie nahmen nur so viel Welt in sich auf, wie sie auch verarbeiten konnten. Was sich nicht produktiv verwerten ließ, wurde vernachlässigt, um die eigene Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen.
Fokussierung und Konzentration sind all jenen, die Besonderes hervorbringen, ein fundamentales Bedürfnis. Wie Goethe verbannte auch Steve Jobs alles andere aus seinem Blickfeld, bis er die richtige Ent-Scheidung im Sinne einer Scheidekunst getroffen hat. Ohne „gesunden" Egoismus (als Selbstbehauptung) kann Fokussierung allerdings nicht gelingen, denn der Schwerpunkt der eigenen Tätigkeit braucht das Unabgelenkte und den Mittelpunkt des eigenen Schaffens.
Wenn die Welt aus den Fugen gerät, braucht es einen klaren Blick, um sich in der Orientierungslosigkeit nicht zu verlieren.
Aber woher Stabilität nehmen, wenn es keinen äußeren Halt gibt? Die Klugen wissen, dass es nur eine Welt gibt, die noch klar und fest verankert ist: die innere. Sie soll möglichst rein gehalten werden, um richtig und schnell auf das reagieren zu können, was von außen auf sie einstürmt. Eigenständiges Denken macht sie selbstständig und bewegt sie dazu, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Weniger ist für sie nicht mit Verzicht verbunden, sondern mit Realitätsgewinn. Er kommt dort zum Vorschein, wo nichts vernebelt ist, deshalb sind die meisten von ihnen auch nicht an Alkohol und Rausch interessiert.
Karl Lagerfeld hat nie getrunken, auch wenn ihm „sauertöpfische Puritaner und Calvinisten" wie er ein Gräuel waren. Er schaute aber durchaus interessiert auf jene, die dazu geboren sind, sich zu zerstören. Aber er war nach eigenen Worten „fürs Überleben gemacht". Sein Selbsterhaltungstrieb war immer stärker, und das hat ihm immer geholfen, in der Wirklichkeit ganz er selbst zu sein. Alles, was ihm den „Zugang zu sich selbst" verbaut hat, mochte er nicht. Das machte ihn zu dem, der er war. Er blieb niemals stehen, zitierte sich nicht selbst, machte niemals das Gleiche und fand immer neue Ansätze, um niemals sagen müssen: „Karl, du wiederholst dich nur noch, du bist am Ende.“
Wer glaubt, alles über den Modeschöpfer, Fotografen, Illustrator und Büchersammler Karl Lagerfeld zu wissen, wird im Text-Bild-Projekt REFLECTIONS mit der Fotokünstlerin Nicole Simon eines Besseren belehrt. Auf dem Titelbild ist nur eine Hälfte seines Gesichts zu sehen. Die andere ist verborgen. So lebte er, und so starb er auch. Der Titel drückt aus, dass wir immer nur Teile von ihm wahrnehmen, aber nie das Ganze. Wo wir ihn greifbar glauben, entzieht er sich sofort. Lagerfeld kann nur in der ständigen Reflexion wahrgenommen werden, denn ein Genie lässt sich nicht fassen – es scheint immer nur in Teilen des eigenen Werkes auf und setzt sich im Leben selbst die Regeln. Lagerfeld ließ sich von niemandem sagen, was er zu tun hatte.
Er kam sich nie abhanden, weil er unbestechlich war, ein Aufrichtiger, ein Perfektionist, auf den man sich verlassen konnte. Er bewegte sich gern an den Rändern, um das Leben von allen Seiten zu spüren, aber auch, um sich nicht festlegen zu lassen. Wer sich selbst gehört, ist eben oft auch eigensinnig und wählerisch. Wenn alle ins Kollektiv flüchteten, blieb er ein Einzelgänger, der nicht viele Menschen um sich brauchte, sondern die richtigen. Er hatte eine sehr reale Wahrnehmung von sich selbst und wusste, was er wollte. Entscheidungen traf er innerhalb von Sekunden. Lagerfeld hatte Tiefgang, belastete aber andere nicht mit Schwere, auch war ihm aufgesetzte Nachdenklichkeit fremd. Sein erfindungsreicher Verstand war immer in Bewegung. Doch Talent, das wusste er, reicht nicht, um ein guter Lebenskünstler zu sein. Es nur zu „besitzen“, heißt, auf ihm sitzen zu bleiben.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt und Nicole Simon: KARL. Reflections. Kindle Edition 2020.