Die Deutschen sind nicht karrieremüde, sondern einfach nur zufrieden
Immer weniger Arbeitnehmer sehnen sich nach beruflichem Aufstieg, so das Ergebnis einer Studie. Die Deutschen sind karrieremüde, heißt es. Warum diese Diagnose nicht nur falsch, sondern für unsere Arbeitswelt irreführend ist.
Eine aktuelle Studie des Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsunternehmens Ernst & Young sorgt momentan für Schlagzeilen: "Die Deutschen sind karrieremüde", so die Botschaft in der Presse. Denn im Vergleich zur Befragung noch vor zwei Jahren zeigen deutlich weniger Angestellte Interesse an besseren Karrierechancen, nämlich 38% (2015: 58%) bei den Männern und 31% (2015: 49%) bei den Frauen. Ein signifikanter Rückgang bei der Lust auf den Aufstieg. Sind wir karrieremüde?
Work-Life-Balance und Familie statt Aufstieg und Karriere?
Karrieremüdigkeit ist eine Wahrnehmung, die durchaus gut in das Bild passt, welches in den letzten Jahren über den Arbeitsmarkt gezeichnet wurde: Anstieg der psychischen und gesundheitlichen Belastungen am Arbeitsplatz – Stichwort Burnout. Die Mehrheit der Angestellten macht nur noch Dienst nach Vorschrift – sagt uns alljährlich die Gallup-Studie. Dazu die Trends rund um Work-Life-Balance, Home-Office, New Work, Gesundheit, Achtsamkeit und Selbstverwirklichung.
Auch ich stelle in meinen Karriere-Coachings fest, dass Karriere im Sinne von Klettern auf der Karriereleiter, mehr Status und gesellschaftlichem Ansehen oder die Steigerung des Gehalts durch möglichst große Karrieresprünge kaum noch Anliegen sind, für die ich kontaktiert werde. Stattdessen geht es um mehr Sinnempfinden und Identifikation bei der Arbeit, um mehr Freude im Beruf durch fachliche und persönliche Herausforderungen sowie ein gutes, wertschätzendes Verhältnis zu Chef und Kollegen und oftmals auch um mehr Freiheit für alles das, was neben dem Beruf noch wichtig ist. Von „Karriere machen“ ist bei mir im Coaching jedenfalls kaum noch die Rede.
Die Ergebnisse der Studie überraschen mich angesichts des Wandels im Arbeitsmarkt sowie einer heute zunehmend veränderten Sichtweise vieler Arbeitnehmer auf ihre beruflichen Entwicklungsziele daher nicht. Einzig die Interpretation der Ergebnisse und die Botschaft in den Arbeitsmarkt hinein halte ich für falsch und damit irreführend.
Zufriedenheit bei Arbeitnehmern ist gefährlicher Stillstand?
Denn werfe ich einen Blick auf die restlichen Anteile der Befragten, die kein Interesse an Aufstiegsmöglichkeiten haben, dann sind momentan 38% (2015: 22%) der Männer mit ihrer beruflichen Situation zufrieden, bei den Frauen sind es 39% (2015: 24%). Ein extrem starker Anstieg der Zufriedenheit der Angestellten in ihren gegenwärtigen Positionen. Ist das nicht ein wirklich erfreuliches und vielmehr erwähnenswertes Ergebnis? - Doch stattdessen sind wir schrecklich karrieremüde.
Es geht noch weiter: Denn die Studie zeigt auch, dass sich 82% (2015: 77%) der Angestellten mit ihrem Arbeitgeber verbunden fühlen und parallel auch die Wechselbereitschaft weiter gesunken ist. Ebenso 82% (2015: 69%) der Arbeitnehmer haben nämlich aktuell kein Interesse, nach einem neuen Arbeitgeber zu suchen. Und wo sehen Sie sich in fünf Jahren? 63% gaben auf die Frage an, dass sie davon ausgehen, noch bei diesem Arbeitgeber zu sein, 19% sehen sich bis dahin dort in einer besseren Position.
Doch Zufriedenheit allein reicht nach Ansicht der Herausgeber der Studie nicht. Zufriedenheit ist gefährlicher Stillstand, so die Meinung. "Eine dynamische Wirschaft benötigt aufstiegsorientierte Mitarbeiter", sagt Ulrike Hasbargen, Partnerin bei Ernst & Young. Und weiter: "Dazu gehört auch, dass Karriere und Aufstieg gesamtgesellschaftlich höher bewertet und stärker akzeptiert sein sollten." (Quelle: W&V).
Zufriedenheit ist gefährlicher Stillstand? - Sind zufriedene Mitarbeiter nicht vielmehr der Motor für gute Leistungen im Team sowie Basis einer vertrauensvollen und wertschätzenden Arbeits- und Innovationskultur? Mir ist ein zufriedener, ausgeglichener und gesunder Mitarbeiter weitaus lieber als ein Karriere Besessener, der mit Ellenbogen-Mentalität, Politik und falschem Spiel über Leichen gehend permanent nur seinen eigenen Vorteil sucht.
Außerdem frage ich mich: Wieviele aufstrebende Häuptlinge braucht unsere zukünftig digitalisierte Industrie-4.0-Wirtschaft überhaupt noch? Ist es nicht heute schon so, dass Arbeitgebern ihren jungen, dynamischen Potenzialträgern immer weniger Aufstiegsperspektiven bieten können - und sich in genau diesen Häuptlings-Kämpfen regelmäßig Frust breit macht? Immerhin jeder Fünfte der Befragten sieht sich in fünf Jahren in einer höheren Position. Sind dies nicht aufstrebende Karrieristen genug?
Die Deutschen sind die alte Karriere-Denke müde geworden
Ja, es stimmt, die Deutschen sind karrieremüde. Sie sind die alte Sicht auf Karriere müde geworden. Denn in anbrechenden Zeiten von Mosaikkarrieren als Mix aus flexiblen und gleichwertigen Wechseln zwischen Experten- und Führungspositionen, immer mehr temporären Einsätzen in Projekten bis hin zu agilen Formen der Zusammenarbeit gänzlich ohne Hierarchien verliert die gute alte klassische Aufstiegskarriere immer weiter an Relevanz und damit auch an Glanz für die Beschäftigten. Dass wir uns von den alten Karriere-Fesseln befreien müssen, dazu habe ich neulich in meiner WELT-Kolumne geschrieben.
Mal ganz ehrlich, ist Zufriedenheit im Beruf nicht auch ein gutes Karriereziel? Würde Zufriedenheit in der Masse der Arbeitnehmer unsere Arbeitswelt nicht schon ein großes Stück besser und vor allem gesünder machen? Viele meiner Coaching-Klienten kurz vor der Erschöpfung im Hamsterrad des täglichen Wahnsinns wünschen sich dies so sehr mehr als endlich den wichtig klingenden Titel, das Konto voller Geld, irgendwelche Statussymbole oder als Chef noch mehr Mitarbeiter zur Vergrößerung ihrer persönlichen Führungsspanne als Symbol ihres Einflussreichtums zu besitzen.
Doch Zufriedenheit im Beruf und eine Karriereentwicklung, die je nach persönlicher Lebensphase bei einem Arbeitgeber in verschiedene Richtungen führen darf, das alles scheint weiterhin für viele unserer Arbeitgeber und insbesondere die Branche der Wirtschaftsprüfungen und Unternehmensberatungen mit ihrer gut gehegten Up-or-out-Politik – und vermutlich auch für den Herausgeber dieser Studie – immer noch keine gültige Karriere-Option zu sein.
Viele Arbeitnehmer sind zufrieden in ihren Berufen und fühlen sich richtig aufgehoben. Das ist eine gute Botschaft. Diese Zufriedenheit sollten wir nicht gefährden, indem wir ihnen einreden, karrieremüde zu sein.
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Was ist Ihre Meinung? Sind wir karrieremüde geworden und wird dies unserer Arbeitswelt schaden? Ich bin gespannt auf Ihre Meinungen und persönlichen Erfahrungen in den Kommentaren.
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