Die Offene Gesellschaft: Wollen wir mitgestalten oder gestaltet werden?
Das Modell einer Offenen Gesellschaft
Das 1945 erschienene Hauptwerk des Sozialphilosophen Karl Popper, „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, scheint heute aktueller denn je: Was er darin verurteilt, sind geschlossene Ideologien, Gesinnungen, „die heute wiederkehren, ob in Trumps Amerika, Orbans Ungarn oder in der Türkei Erdogans“, schreibt der Mediziner, Wirtschaftssoziologe, Psychiater und Ökonom Stefan Brunnhuber in seinem aktuellen Buch „Die Offene Gesellschaft“ und fragt, ob es sich dabei nur um ein vorübergehendes Phänomen handelt oder eine hier erwachsende Gefahr. Verdichten sich die Anzeichen, dass sich Geschichte wiederholt? Haben wir es mit geschlossenen, illiberalen Gesellschaften zu tun, die sich vor allem über Ausgrenzung definieren?
Brunnhuber denkt Poppers Konzept für die Moderne weiter und plädiert für eine „Ordnung der Freiheit“ als Voraussetzung dafür, auch künftig noch das Leben führen zu können, das eine große Mehrheit befürwortet. Die Offene Gesellschaft ist für ihn wie eine regulative Idee aus der Zukunft, wie wir sie seit über 2400 Jahren nur von Platos Politeia her kennen: eine politische Orientierung, wie wir zusammenleben können, wenn wir wollen. Für die Herausforderungen im 21. Jahrhundert, zu denen Komplexität, Digitalisierung, Umweltbelastungen, Globalisierung, Migrationsströme, asymmetrische Kriege, multiple religiöse Identitäten und demografischer Wandel gehören, sind geschlossene Gesellschaften „ungeeignet und nicht zeitgemäß“, denn für sie sind Sicherheit und Wahrung des Status quo wichtiger als „kritische Auseinandersetzungen“. Bei der Offenen Gesellschaft geht es dagegen um das richtige Verhältnis von Kritik, Freiheit und Ordnung. Die Zukunft der Offenen Gesellschaft ist für Brunnhuber keine Wiederholung der Vergangenheit, sondern etwas Neues und Besseres: „Vielleicht ist es dann eine Zukunft, welche den kritischen Verstand nutzt, um das Mögliche zu entwerfen.“
Unterscheidung statt Verneinung
Das Zeitalter der Offenen Gesellschaft formuliert nach Brunnhuber neue interdisziplinäre, transdisziplinäre, für Theorie und Praxis gleichermaßen lebensrelevante Zusammenhänge. Kritisches Denken im 21. Jahrhundert wird hier integral. Für Popper zentral ist die Fähigkeit zur Kritik („Widerlegbarkeit“ oder „Falsifikation“), die vor allem auf eine soziale Dimension verweist. Denn nicht nur der einzelne Mensch kann sich irren, sondern auch die Gesellschaft. Deshalb sollten gesellschaftliche Rahmenbedingungen formuliert werden, die es erlauben, Widerlegungen zu ermöglichen. Für Karl Popper müssen Institutionen mindestens zwei Merkmale aufweisen: Sie sollten in einer schwächeren Form Kritik ermöglichen und in einer „stärkeren Form die Bedingungen der Kritisierbarkeit, der Revision oder der Abwählbarkeit aufzeigen können.“
Für Brunnhuber ist der kritische Verstand der erfolgreiche „Game Changer, der darüber entscheidet, ob wir mit Erfolg oder Misserfolg zusammenleben können.“ Kritik schafft mehr Bewusstheit, und diese schafft mehr konstruktive Kritik. Der Begriff kommt vom griechischen Verb krinein und meint trennen, prüfen, die Fähigkeit zur Urteilsbildung und zum Infragestellen des Gegebenen, des Common Sense und des Faktischen. Die Differenzen und die Herstellung sowie das Aufdecken von Wechselwirkungen machen das kritische Denken jetzt aus.
„Wir verlieren die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten über die Gegenwart, wenn wir es uns nicht zutrauen über offene Verhältnisse, welche vor uns liegen, aktiv zu streiten.“ (Stefan Brunnhuber)
Zur Streitkultur gehört es auch, die richtigen Fragen zu stellen: Wer soll regieren? Wie kann der Wohlstand nachhaltig gesteigert werden? Was ist eine gerechte Verteilung? Laufen Menschen, die in einer Offenen Gesellschaft „politisch eingeschlafen“ sind, Gefahr, in einer geschlossenen Gesellschaft wieder aufzuwachen? Das Modell einer Offenen Gesellschaft muss nach Brunnhuber ausreichend formal sein, um für möglichst viele Verfassungen der Welt und für viele Menschen attraktiv zu sein, es sollte aber auch inhaltlich konkret sein, damit sich Menschen prinzipiell damit identifizieren können. In einer Offenen Gesellschaft ist es nicht so wichtig, wer an der Macht ist, sondern vielmehr das Programm, für welches sich die Mitglieder entschieden haben. Eine Offene Gesellschaft ist immer unfertig. „Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich; ihre Stärke, weil sie anpassungsfähig und fehlerfreundlich ist; ihre Schwäche, weil die Offene Gesellschaft verletzbar und anstrengender für ihre Mitglieder ist.“
Die Offene Gesellschaft als Erzählung für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen
Die Interessen des Dahrendorf-Schülers und Mitglieds des Club of Rome sind vielfältig und umfassen Überlegungen zu Ressourcenkriegen und Friedenssicherung, Postwachstum und ökologischer Nachhaltigkeit. Es sind für ihn vor allem die Geschichten, die Menschen die Welt erklären und in ihnen etwas auslösen und bewirken können, was mit nüchternen Informationen und nackten Zahlen allein nicht gelingt. Sie entstehen aus einer evolutionären und anthropologischen Sicht immer dann, wenn etwas Selbstverständliches plötzlich erklärungsbedürftig wird: Kriege, Krisen, Katastrophen und Krankheiten gelten schon immer „als die zentralen Auslöser und Verursacher für diesen Zwang zum Narrativ.“
Im Kontext der Wirtschaft ist das Erzählen von Geschichten einer Führungskraft beispielsweise handlungsorientiert, um Träume in Ziele und konkrete Ergebnisse zu verwandeln. Worte und Ideen sprechen unmittelbar die Gefühle der Zuhörer an. Die Tradition der mündlichen Überlieferung liegt im Zentrum unserer Fähigkeit, Menschen zu motivieren, zu überzeugen, zu inspirieren und zu bewegen, das Richtige zu tun. Geschichten sind für Brunnhuber dann wichtig, wenn Ereignisse nicht erklärbar sind oder ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Sie sind für ihn ein Mittel, um Krisen zu meistern und unser Zusammenleben zu verbessern. Ein neues Narrativ wird seiner Ansicht nach mindestens von drei Erzählsträngen geprägt sein:
• von Grenzen
• von der Bedeutung der Vernetzung
• von einer neuen Balance.
In der Offenen Gesellschaft sollten wir uns auch zutrauen, nicht nur in einer anderen Gesellschaft leben wollen, sondern in einer besseren, bewussteren, kritischeren, umfassenderen freiheitlicheren und zukunftsfähigeren.
„Wollen wir nun mitgestalten, oder wollen wir gestaltet werden?“
Der Psychiater und Ökonom regt mit einem Buch an, das Leben vom Ende her richtig zu denken und fragt im Futur Indikativ II: „Wer werde ich gewesen sein und was werde ich gemacht und erreicht haben, wenn das Leben zu Ende geht?“ Oder: „Was werden wir als Gesellschaft erreicht haben?“ Dieser Passus in seinem Buch ist besonders interessant, weil er sich inhaltlich – allerdings ohne darauf Bezug zu nehmen – mit dem posthum erschienenen Essay „Wer wir waren“ des 2016 verstorbenen Publizisten Roger Willemsen berührt. Der Text ist ein Versuch, die Gegenwart und unser „Zeitalter der Zerstreuung“ von der Zukunft aus zu betrachten – ebenfalls aus der Perspektive des Futur II: „Wer also werden wir gewesen sein?“ Er sah uns in dieser Zeit stehen, „wie die Leute auf Fotos, die vor zehn Jahren in den Zeitschriften erschienen, als die Abgebildeten noch nicht wussten, dass sie ihr Haus verlieren, von der Dürre vertrieben, vom Krieg versehrt, in die Nervenklinik eingewiesen, auf Entzug gesetzt, von der Insolvenz ereilt werden würden. So stehen wir da, resistent gegen das Unheil.“ Das Buch von Roger Willemsen, das mit Brunnhubers Buch zusammen gelesen werden sollte, habe ich immer wieder in den Kontext des Nachhaltigkeitsdiskurses gebracht. Beide Ansätze spielen heute eine entscheidende Rolle, denn es geht um die Kernfrage, wie wir im Anthropozän zusammenleben werden.
Weiterführende Literatur:
Stefan Brunnhuber: Die Offene Gesellschaft. Oekom Verlag, München 2019.
Stefan Brunnhuber: Die Kunst der Transformation. Wie wir lernen, die Welt zu verändern. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.
Roger Willemsen / Insa Wilke (Hg.): Wer wir waren: Zukunftsrede. S. Fischer Verlag. Frankfurt a, M. 2016.