Die richtige Entscheidung: Was wir von Schiedsrichtern lernen können
Kopf und Bauch, kühle Logik und intensive Gefühle gehören zusammen.
Erst diese Verbindung sorgt dafür, unsere Urteilsfähigkeit zu schärfen, um klare Entscheidungen treffen zu können: Erst, wenn der Verstand eingeschaltet ist, weiß man, ob die vom Bauch ausgesendeten Signale die richtigen sind. Das lässt sich in besonderer Weise von Schiedsrichtern lernen, deren Anspruch es ist, richtige Entscheidungen zu treffen. Dabei geht es im Kern immer um Kommunikation, Führung und Verantwortung.
Patrick Ittrich, geboren 1979 in Hamburg, ist Schiedsrichter für den DFB. Er pfeift in der Bundesliga und der 2. Bundesliga sowie im DFB-Pokal und ist international für die UEFA im Einsatz. Als Polizeibeamter arbeitet er zudem als Handpuppenspieler in der Verkehrserziehung der Polizei Hamburg. Seine sportliche Karriere startete er bei seinem Heimatverein Mümmelmannsberger SV Hamburg, dem er bis heute treu ist. Als erster aktiver Bundesligaschiedsrichter gewährt er in seinem Buch „Die richtige Entscheidung“ exklusive Einblicke hinter die Kulissen seiner Arbeit. Er berichtet von Momenten seiner Karriere – von der F-Jugend bis zur Bundesliga, vom Umgang mit Spielern und Trainern und vom Verhältnis zum Publikum.
Ittrich ist ein Befürworter der Torlinientechnik und des Videoassistenten. Dadurch bleiben die groben Fehlentscheidungen aus, „und der Schiedsrichter wird nicht mehr wie die Sau durchs Dorf getrieben.“ Denn besonders Fußballschiedsrichter stehen heute im Fokus wie nie zuvor, denn die Spiele werden immer schneller, es geht um immer mehr Geld, Medienvertreter und Zuschauer sehen genauer hin. Erfahrung, vorausschauendes Denken, Vorbereitung, Konzentration, Wille, fachliche Kompetenz, Reflektion, Sportpsychologie, Qualität und Tischtennis (Schulung für das Auge) sind für ihn Voraussetzungen, die am Ende für die richtige Entscheidung stehen.
„Wenn die Klarheit der Entscheidungen stimmt, ich mich körperlich fit fühle, die Akzeptanz der Spieler habe und völlig frei im Kopf bin.“ Ein bemerkenswerter Schwerpunkt des Buches ist das Thema „Bauchgefühl und richtig Entscheiden“ – ohne dass ihm ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Vielleicht, weil es überall mit hineinspielt und sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Zusammengefasst wird es vom Psychologen Dr. Ole Benthien von der Universität Potsdam, den ihm der DFB vermittelte. Er verweist darauf, dass Schiedsrichter in unterschiedlichsten Situationen Entscheidungen treffen müssen. „Die Konsequenzen daraus sind unglaublich wichtige Erfahrungswerte. Aus diesen gesammelten Werten entsteht eine sehr stark ausgeprägte Antizipationsfähigkeit. Deswegen sind die Entscheidungen aus dem „Bauch heraus“ oft richtig.“ Je mehr Erfahrung Schiedsrichter sammeln, „desto besser können sie abschätzen, welche Konsequenz eine Entscheidung für die gesamten 90 Minuten haben kann.“ Ittrich geht es in seinem Buch aber nicht nur um Entscheidungen auf dem Platz.
Nachhaltigkeit
So widmet er sich vor allem den besonderen Herausforderungen in Zeiten von Corona, denn die Krise hat viele Sportler hart getroffen. Deshalb lässt er die Hälfte seiner Buch-Einnahmen der DFB-Stiftung Sepp Herberger zukommen, die am 20. März 2020 einen Corona-Nothilfefonds für unverschuldet in Not geratene Mitglieder der Fußballfamilie ins Leben gerufen hat.
Als Bayer Leverkusens Nationalspieler Jonathan Tah davon erfuhr, beteiligte er sich als erster privater Spender. Im Rahmen einer ersten Sofort-Maßnahme kann die älteste Fußballstiftung Deutschlands so mehr als 100.000 Euro zur Verfügung stellen – und viele Menschen konnten davon bereits profitieren. „Unsere Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn wir füreinander da sind. Es geht dabei viel weniger um die Größe oder die Menge, die ein jeder von uns tun oder geben kann, manchmal sind es schon die kleinen Gesten, die Großes bewirken“, sagt Jonathan Tah, der beim Hamburger Stadtteilklub Altona 93 mit dem Fußball begonnen hatte, bevor er 2009 ins Nachwuchsleistungszentrum des Hamburger SV aufgenommen wurde. Seit 2019 ist der frühere Kapitän der U21-Nationalmannschaft Botschafter der DFB-Stiftung Egidius Braun.
Antragsberechtigt sind Menschen, die sich haupt- oder ehrenamtlich in den DFB-Mitgliedsverbänden, deren Untergliederungen (zum Beispiel Schiedsrichtervereinigungen) und den bundesdeutschen Fußballvereinen engagieren. Förderanträge können formfrei per E-Mail bei der Stiftung gestellt werden. Wichtig ist der Nachweis über die individuellen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den jeweiligen Antragsteller.
Corona**-Nothilfefonds**
Dieser besagt, dass sich die große „Fußballfamilie“ hilft, wenn einzelne Mitglieder unverschuldet in Not geraten sind – schon zu Lebzeiten war diese Fürsorge für Sepp Herberger ein wichtiger Aspekt seines Handels. Der frühere Bundestrainer und seine Frau haben ihr Privatvermögen der DFB-Stiftung Sepp Herberger vermacht und dabei verfügt, dass dieses vorrangig für solche Zwecke eingesetzt wird.
Die Corona-Pandemie hat auch Daniel Güney finanziell hart getroffen. Als Trainer der U 19 des VfR Aalen hatte er von heute auf morgen keine Aufgabe mehr, weil es keine Fußballspiele mehr gab. Der Verein beantragte Kurzarbeit und er verlor einen wichtigen Teil seines Einkommens. „So bin ich wirklich in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Ich hatte vorher nicht die Möglichkeit, mir großartige Rücklagen zu bilden“, sagt Güney, der durch Zufall auf den Corona-Nothilfefonds der DFB-Stiftung Sepp Herberger aufmerksam wurde. Es dauerte nur ein paar Tage, bis die Hilfe bewilligt wurde.
Bei Güney kommt noch dazu, dass sein Trainervertrag aufgrund der Ungewissheit in dieser Zeit nicht verlängert wurde: „Man kann sagen, dass mich die Corona-Pandemie den Job gekostet hat. Das ist bitter. Als Verantwortlicher im Fußballbereich ist man es zwar gewohnt, dass es schnell mal Veränderungen geben kann. Dass durch die Kurzarbeit Gehalt wegfällt und ich ab dem 30. Juni keinen Job mehr habe, macht es aber wirklich kompliziert.“ Es ist ihm ein großes Anliegen, im Fußballbereich eine neue Aufgabe zu finden. Wenn er hier keine Arbeit erhalten sollte, hätte er noch ein zweites berufliches Standbein, denn er hat Lehramt studiert und könnte in den Lehrerberuf wechseln. Außerdem hat er einen Bachelorabschluss als Bauingenieur.“ Die finanziellen Mittel aus dem Corona-Nothilfefonds der Sepp-Herberger-Stiftung verschaffen ihm nicht nur etwas Sicherheit in einer schwierigen Lebensphase, sondern auch etwas Zeit bei der beruflichen Neuausrichtung.
Auch Oliver Stephan hat davon Gebrauch gemacht. Der 49-Jährige engagiert sich ehrenamtlich als Vorsitzender des Fußballkreises Rhein-Lahn im Fußballverband Rheinland. Hauptberuflich arbeitet er im Lager und Versand eines Etikettenhandels. Sein Arbeitgeber musste im Zuge der Corona-Krise Kurzarbeit anmelden, von der auch er betroffen ist. „Ich komme schon mit meinem normalen Einkommen gerade so über die Runden“, sagt er. „Durch die Kurzarbeit hat sich meine Lage weiter verschärft.“
In dieser Situation ist er auf die Initiative der Sepp-Herberger-Stiftung aufmerksam geworden. Er erhält bis höchstens Ende des Jahres durch die Stiftung eine monatliche Unterstützung, um so den Ausfall seines Verdiensts durch die Kurzarbeit im Unternehmen zu überbrücken. Stephan selbst ist durch und durch Fußballer. Ihm ist die ehrenamtliche Arbeit an der Basis sehr wichtig, weil er dort viel bewegen kann. Seit seinem 20. Lebensjahr engagiert er sich an verschiedensten Stellen im Fußball. Etwa acht Jahre ist er jetzt Kreisvorsitzender, davor war er schon Jugendstaffelleiter. Begonnen hat alles mit verschiedenen Vorstandstätigkeiten in seinem Heimatverein: „Ich habe dafür viel Zeit und teilweise auch Geld investiert. Aber ich habe das immer gerne gemacht und werde es auch weiterhin gerne tun.“
„Diese Tage fordern uns als Gemeinschaft heraus. Wir müssen und werden zusammenstehen und diese besonderen Herausforderungen gemeinsam meistern“, sagt Dirk Janotta, DFB-Vizepräsident und Vorsitzender der DFB-Stiftung Sepp Herberger. Genauso, wie es sich Sepp und Eva Herberger gewünscht haben.
Weiterführende Literatur:
Patrick Ittrich mit Mats Nickelsen: Die richtige Entscheidung. Warum ich es liebe, Schiedsrichter zu sein. Edel Verlag. Hamburg 2020.
CSR und Sportmanagement. Hg. von Alexandra Hildebrandt. 2. Auflage. SpringerGabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2019.