Dr. Bernd Slaghuis

Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Die Rückkehr der Stechuhr wird Arbeit nicht gesünder machen

Bild: 123rf.com

Warum die Rückkehr zur Stechuhr nicht vor Überstunden schützen wird und mehr Kontrolle Gift für gesundes Arbeiten ist. Die Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung ist zu kurz gedacht! Ein Kommentar. 

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, in Zukunft jeden Arbeitgeber zu verpflichten, die Arbeitszeiten aller Angestellten systematisch zu erfassen. Nur so könne gewährleistet werden, dass bestehende Arbeitszeitgesetze eingehalten und Arbeitnehmer vor Überstunden geschützt werden. 

Die Reaktionen auf die Entscheidung sind sehr gemischt: Logisch, dass Gewerkschaften in Champagnerlaune sind und Arbeitgeberverbände zu viel Bürokratie befürchten. Doch auch an der Basis  gehen die Meinungen auseinander: Während sich die überlasteten Opfer ihrer grenzenlos Leistung einfordernden Chefs freuen, dass der bösen Ausbeutung nun endlich ein Riegel vorgeschoben wird, befürchten andere, die schon in den Genuss von Vertrauensarbeitszeit oder Homeoffice kommen das baldige Ende ihrer lieb gewonnenen Flexibilität.

Stechuhren schützen nicht vor Überstunden

Es ist naiv anzunehmen, dass eine gesetzlich vorgeschriebene, flächendeckende Arbeitszeiterfassung signifikante Auswirkungen auf die in Unternehmen geleisteten Überstunden haben wird. Wir verfügen über starke Arbeitszeitgesetze, die klare Regeln zum Schutz von Arbeitnehmern schaffen. Gesetze, die die tägliche Arbeitszeit begrenzen sowie Pausen- und Ruheregelungen vorschreiben. Warum sollte eine zusätzliche Aufzeichnungs- oder Meldepflicht von Arbeitszeiten durch Arbeitgeber etwas daran ändern, dass nach dem Ausstempeln auf Anweisung von oben fleißig weitergearbeitet wird oder Arbeitnehmer sich aus freien Stücken entscheiden, mehr als vereinbart zu arbeiten?

Zeigt nicht gerade der Blick zurück, dass eine Begrenzung oder staatliche Regulierung von Arbeitszeit nicht mit dem tatsächlich geleisteten Arbeitseinsatz korreliert? Während die Wochenarbeitszeit von 60 Stunden im Jahr 1900 auf heute durchschnittlich 37,7 Stunden gesunken ist, steigt die Anzahl der Überstunden weiter an. Warum sollte sich dieser Trend durch die nun getroffene Entscheidung umkehren?

Tschüss Vertrauensarbeitszeit :-( 

Ich spreche im Karriere-Coaching mit vielen Angestellten über das, was sie sich im Beruf und von Arbeitgebern wünschen, um motiviert und gesund zu arbeiten. Vielen ist es wichtig, über ihre Arbeitszeit in einem definierten Rahmen selbst zu bestimmen und flexibel entscheiden zu dürfen, wann sie wie, wo und woran arbeiten. Das Ergebnis soll im Vordergrund stehen, nicht Präsenz im Büro und Absitzen von Zeit. Sie sind alle bereit, auch über die vertraglich definierte Arbeitszeit hinaus zu arbeiten, wenn es brennt – doch es sollte nicht die Regel, sondern Ausnahme sein. Fast alle wünschen sich die Möglichkeit, freiwillig einzelne Tage im Homeoffice zu arbeiten, doch auch die gemeinsame Zeit mit Kollegen im Team ist ihnen wichtig.

Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und -orten hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Ein hoher Wert, den die EuGH-Entscheidung massiv gefährdet. Auch wenn es in unserer digitalen Welt nicht mehr die Stechuhr sein wird, die Zeit von Arbeit erfasst, so wird die Zeit der Vertrauensarbeitszeit definitiv gezählt sein.

Mehr Kontrolle ist Gift für gesundes Arbeiten

Was mich an der Entscheidung des EuGH stört, das ist die alt gewohnte Fokussierung auf Kontrolle. Es ist wichtig, im Straßenverkehr Geschwindigkeit zu kontrollieren, um Menschenleben zu schützen. Doch ist es ebenso wichtig, jeden Arbeitnehmer davor zu beschützen, Überstunden zu leisten? Wie wird sich Herr Müller aus der Buchhaltung fühlen, wenn die Ampel in seinem Arbeitszeitkonto am 20. des Monats auf „gelb“ springt, der Rückstand in der Bearbeitung jedoch weiter ansteigt? Wie wird es all jenen gehen, die wirklich Lust auf ihre Herausforderungen und Themen haben, engagiert sind und gerne mehr leisten, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen? Ja, es gibt sie reichlich, die ambitionierten Macher, für die Arbeit Erfüllung im Leben ist. Zeit gegen Geld war einmal, heute sind es andere Werte, die Menschen in Arbeit zufrieden stimmen und gesund halten. 

„Ich fühle mich im Job wie im Gefängnis“, dieses Empfinden vieler Arbeitnehmer habe ich vor zwei Jahren hier gezeichnet. Der Beitrag ging durch die Decke, die Zustimmung war hoch. Freiheit ist in unserer modernen Arbeitwelt zu einem hohen Gut erwachsen, Kontrolle ist der Feind von Freiheit. Als ich gestern von der Entscheidung erfuhr, hatte ich ein Bild von einer Arbeitswelt im Kopf, deren Räume wieder enger werden. Ein Mehr an Kontrolle, die im ersten Moment sinnvoll für den Schutz von Arbeitnehmern anmutet, jedoch gleichzeitig die Gefahr birgt, den für die Mehrheit der Arbeiter und Angestellten wichtigen Wert „Freiheit“ nicht nur zu gefährden, sondern in der Umsetzung dauerhaft zu verletzen. Wenn Arbeit gegen unsere persönlichen Werte versößt, dann ist sie ungesund.

Mehr Selbstverantwortung macht Arbeit in Zukunft gesünder

Mal angenommen, die EuGH-Entscheidung zur flächendeckenden Arbeitszeiterfassung diene keinem gefräßig zahnlosen Bürokratiemonster aus Datenerfassung und Meldung an Behörden, aufsichtsrechtlichen Kontrollen und harten Strafen zur Sanierung staatlicher Finanzen, sondern sie verändere wirklich etwas in unserer Arbeitswelt zum Positiven – was könnte dies sein?

Na klar, die Hersteller von Zeiterfassungssystemen werden fette Jahre erleben und es werden neue Stellen in Personalabteilungen und Behörden geschaffen, die die Umsetzung der Vorschriften sicherstellen. Doch Sie ahnen vermutlich, dass es mir nicht um diese Effekte geht.

Ich bin der Überzeugung, dass erst die weitere Stärkung von Selbstverantwortung jedes einzelnen Menschen als Chef seines eigenen Lebens dazu führen wird, dass Arbeit heute umso stärker als integraler Teil des Lebens gesünder wird. 

Es ist nicht der staatlich auferlegte behütende Schutz vor ungerechter Ausbeutung und harter Lohnknechtschaft durch böse Arbeitgeber, sondern vielmehr die individuelle Entscheidung eines jeden von uns, sowohl die tägliche Arbeit als auch die berufliche Entwicklung in einer persönlichen Lebenssituation und auf Basis unserer Werte und Ziele so gesund wie möglich zu gestalten.

Hierzu könnte die Pflicht zur Erfassung und Dokumentation von Arbeitszeiten etwas beitragen. Sie würde allen Arbeitnehmern konsequent vor Augen führen, wieviel Zeit sie für Arbeit verwenden und sie kann saisonale Schwankungen oder unbewusste Entwicklungen sichtbar machen. Dies kann dazu beitragen, die vielfach bereits als Normalität hingenommene Mehrarbeit sichtbarer zu machen, so den eigenen Blick auf die Arbeitszeit zu schärfen und die Entscheidung über den persönlichen Arbeitseinsatz regelmäßig bewusster zu reflektieren. 

Aus dem eigentlichen Ziel der stärkeren Kontrolle von Arbeitgebern würde somit ein Instrument zur Stärkung der Selbstkontrolle für Arbeitnehmer werden. Das kann nicht schaden. 

Was ist Ihre Meinung zur Entscheidung des EuGH? 

www.bernd-slaghuis.de

Wer schreibt hier?

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Karriere- und Business-Coach, Dr. Bernd Slaghuis

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Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 1.800 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.
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