Die Schule des Sehens braucht eine Ausbildung der Phantasie
Am 25. Juni jährt sich zum 200. Mal der Todestag von E. T. A. Hoffmann (1776 – 1822). Das Interesse an dem Juristen, Musiker, Zeichner und Schriftsteller ist ungebrochen. In diesem Jubiläumsjahr finden zahlreiche Veranstaltungen zu Leben, Werk und Wirkung dieses grandiosen Mehrfachkünstlers statt. Ein Höhepunkt ist nach Angaben der Stadt Bamberg die E.T.A.-Hoffmann-Nacht am 1. Oktober mit Konzerten, Lesungen oder einem „hoffmanesken“ Poetry Slam. Hoffmann zog 1808 im Alter von 32 Jahren nach Bamberg und verbrachte hier fünf Jahre. Die meiste Zeit davon lebte er mit seiner Frau Mischa im heutigen E. T. A. Hoffmann-Haus, wo heute ein Museum an sein Wirken erinnert. Viele seiner Erzählungen gehören zum festen Bestandteil des Literaturunterrichts und des Literaturstudiums. Die wichtigste Bedingung für einen Künstler war für E. T. A. Hoffmann „ein Auge, welches wirklich schaut“, ein die äußeren Phänomene fixierender Blick, die Fähigkeit, im Inneren Geschautes zur Anschauung zu bringen. Künstlergestalten sind daher in seinem Oeuvre wesentlich durch ihren Blick und ihre Anschauung auf die Welt charakterisiert. Sein poetisches Werk ist eine fortgesetzte „Schule des Sehens“ (Wulf Segebrecht), eine Poetik des Blicks, deren Stadien der Dichter vom Beginn seines literarischen Werkes an bis zum Ende mit anhaltendem Interesse entwickelt, verbessert und vollendet hat.
Ohne Ausbildung der Phantasie kann diese Schule nicht „nachhaltig“ absolviert werden.
In seiner Kunst sind Brüche und Inkongruenzen zum Prinzip erhoben, konventionelle Normen fungieren nur als kurzlebige Erwartungen von Bruch zu Bruch – so auch in seinem Kunstmärchen "Der goldne Topf" (1819), wo die Zauber- und Fantasiewelt mit der Frage nach dem richtigen Leben in einer beengenden Alltagswelt verknüpft wird: Der Student Anselmus verliebt sich in die Schlange Serpentina und betritt mit ihr eine fantastische Welt. So stößt er den Korb einer alten Apfelhändlerin um, läuft weg und hält erst am Ende einer Allee unter einem Holunderbusch an. Registrator Heerbrand verhilft ihm zu einer Anstellung beim Geheimen Archivarius Lindhorst. An seinen ersten Arbeitstag erscheint ihm das alte Äpfelweib im Türklopfer: „Da stand er nun und schaute den großen schönen bronzenen Türklopfer an; aber als er nun auf den letzten die Luft mit mächtigem Klange durchbebenden Schlag der Turmuhr an der Kreuzkirche den Türklopfer ergreifen wollte, da verzog sich das metallene Gesicht im ekelhaften Spiel blauglühender Lichtblicke zum grinsenden Lächeln. Ach! es war ja das Äpfelweib vom Schwarzen Tor!“ In der Bamberger Altstadt befindet sich ein Messing-Türknopf mit ihrer Darstellung. Das Original befindet sich heute in Bambergs Historischem Museum. Am ursprünglichen Standort (Eingangstür zum Haus Eisgrube 14) ist eine Nachbildung angebracht.
Interview mit dem Schriftsteller und Journalisten Andreas Reuß
Herr Reuß, warum ist E.T.A. Hoffmann noch immer aktuell?
Hoffmann war ein Protagonist bei der Ergründung der menschlichen Seele. Einhundert Jahre nach ihm hat etwa Sigmund Freud auf seine Erzählung vom „Sandmann“ zurückgegriffen. Außerdem war er ein Schrittmacher, was Musikkritiken betrifft, an diese Mischung aus Gefühl, Analyse und Interpretation können sich die Heutigen noch ein Beispiel nehmen. Dasselbe gilt für Theater- und Operninszenierungen, deren klassischen Stil er mitgeprägt hat. Das Aktuellste ist wohl der experimentelle Stil vieler seiner Schriften, insbesondere der „Lebensansichten des Katers Murr“. Sehr aktuell ist auch sein Umgang mit Rauschmitteln aller Art.
Wie wird er heute wahrgenommen?
Hoffmann wird heute als einer wahrgenommen, der auf vielen Gebieten kreativ und gebildet bzw. vorbildlich war. Seitdem war wohl keiner mehr gleichzeitig kompetent auf den Feldern der Dichtkunst, der Musik, der bildenden Kunst, der Psychologie und der Rechtswissenschaften. Er wird von vielen mit großem Staunen und als unerschöpfliche Quelle von Inspirationen wahrgenommen. Schumann, Tschaikowski, Jacques Offenbach, Kafka und viele andere schöpften aus diesem Geist und schufen Kunstwerke der Spitzenklasse.
Was fasziniert Sie persönlich an ihm, und wie hat er Ihr eigenes Schaffen geprägt?
Mich hat sehr inspiriert, wie er die Natur und die Stadt, insbesondere meine Heimatstadt Bamberg, gesehen hat. Er kam hierher als Entdecker von Hintergründen, sowohl baulicher als auch geistiger Art. Bamberg hatte schon im 18. Jahrhunder viele Barockfassaden, gleichsam „Kulissen“ oder „Masken“, bekommen – ein Phänomen, das Hoffmann auf die Betrachtung des Wesens des Menschen übertragen hat. Hinter seiner äußeren Erscheinung befinden sich in jedem Menschen tiefe Hintergründe, ja Abgründe des Seelischen und des Geistigen, der Existenz insgesamt. Seitdem ich E.T.A. Hoffmann kennengelernt habe, betrachte ich die Welt, den Menschen und die Natur mit anderen Augen und versuche als Autor, im Sinne dieses Vorbilds – vielleicht geheimnisvolle – Zusammenhänge und doppelte Bedeutungen zu finden und zu ergründen.
Zur Person:
Andreas Reuß wurde am 12. Oktober 1954 in Bamberg geboren. Nach Studien- und Referendariatsjahren u.a. in München kehrte er 1980 nach Bamberg zurück, wo er heute als Schriftsteller, Journalist und Fotograf lebt. Zusätzlich berät Reuß Kreative bei Kulturprojekten und veröffentlicht regelmäßig Gedichte.
Weiterführende Informationen:
- Andreas Reuß & Matthias Scherbaum: E.T.A. Hoffmann in seiner Zeit. Ein Streifzug durch sein Leben und Schaffen. Erich Weiß Verlag, Bamberg 2022.
- Alexandra Hildebrandt: Die „Sprache“ der Enurese. Analerotische Phantasien in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldne Topf“. In: Il Confronto Letterario 13 (1996), S. 617–631.
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