Digitale Religion: Interview mit Christian Hoffmeister (DCI Institute)
Google, Apple, Facebook und Co. sind nicht nur Teil unseres Alltags, sondern auch globale religiöse Glaubensgemeinschaften und wir ihre Gläubigen. Der Kommunikationsexperte und Gründer des Instituts für digitale Innovation und Wandel Christian Hoffmeister beschreibt in seinem aktuellen Buch „Google Unser“, dass die Digitalisierung unseres Lebens längst religiöse Ausmaße angenommen hat und sich die Unternehmen aus dem Silicon Valley bei der Formulierung ihre Unternehmensvisionen und der Entwicklung ihrer Marketingstrategien bei dem erfolgreichsten Kultsystem aller Zeiten bedienen: der Religion. Es wird veranschaulicht, dass sie Elemente verwenden, die bei sämtlichen traditionellen Religionen und deren Glaubensgemeinschaften zu finden sind – von den Mythen der Gründung, über das Firmenlogo bis hin zu der Inszenierung der Unternehmenslenker als Propheten eines neuen Zeitalters. Auch das Interview mit ihm bestätigt, dass wir alle längst zu ihren Gläubigen geworden sind.
Herr Hoffmeister, was bedeutet für Sie "nachhaltige Digitalisierung"? Und wie ist das Thema in Ihrem Buch verortet?
Wenn „Nachhaltigkeit“ als eine Entwicklung definiert wird, die sicherstellt, „dass künftige Generationen nicht schlechter gestellt sind, ihre Bedürfnisse zu befriedigen als gegenwärtig lebende“, dann spielt dieser Gedanke in Bezug auf die Digitalisierung im Buch eine zentrale Rolle. Denn es geht um digitale Aufklärung, welche die Grundlage bildet, dass unsere und zukünftige Generationen die Chance haben, die richtigen Dinge zu tun und unser und ihr Leben positiv zu gestalten und nicht von der „Digitalisierung“ beherrscht zu werden.
An den aktuellen Diskussionen kritisiere ich, dass keine Aufklärung betrieben wird, sondern (positive wie negative) Verblendung. Und vor allem Unternehmen aus dem Silicon Valley tun einiges dafür, dass keine Aufklärung stattfindet, sondern deren Mythen verbreitet werden. Dies hat auch einen guten Grund, denn unaufgeklärte und gläubige Menschen sind einfacher steuerbar als kritische und eben aufgeklärte Menschen.
Welche Gefahr sehen Sie aktuell?
… dass zukünftige Generationen immer stärker von Software beherrscht und gesteuert werden, die ihn als magisch bzw. geradezu göttlich erscheinen. Und ich sehe eine starke Tendenz, dass wir die Digitalisierung zu etwas Magischem, besser gesagt zu etwas Göttlichem erheben.
Nachhaltige Aufklärung würde meiner Meinung nach da anfangen, wo endlich verstanden wird, dass Digitalisierung nicht auf digitale Technologie reduziert werden darf. Vielmehr ist Digitalisierung losgelöst von der digitalen Technologie und verbindet sich nur mit dieser ideal. Aufklärung umfasst zudem, dass die bewussten religiösen Unternehmensstrategien von Google und Co. aufgedeckt und nicht deren Mythen unreflektiert übernommen werden.
Weshalb ist Google für viele Unternehmen ein Vorbild für eine sich rasant ändernde Arbeitswelt? Und inwiefern hilft Ihr Buch, eine realistischere Sicht darauf zu erhalten?
Google arbeitet mit unserer Vorstellung einer idealen Welt. Es ist sozusagen ein Abbild eines idealisierten Gesellschaftssystems im Kleinen. Google wird als freundlich, gut, sozial und offen angesehen. Es treibt einen positiven Wandel an, stets auf der Suche, Dinge besser zu machen, einen Nutzen für die Menschheit zu stiften. Geld spielt keine Rolle in den Unternehmenszielen, aber das Wohl der Gemeinschaft schon. Es geht um höhere Ziele. Das Unternehmen hat dabei starke und charismatische Unternehmensführer, zugleich wirkt es auch basisdemokratisch, was heute agil genannt wird. Teams werden nicht hierarchisch geführt, sondern können „frei“ und „autonom“ agieren. Und auf dem Campus gehört sozusagen Allen Alles. Google wirkt wie eine große glückliche, weltoffene Community.
In Bezug auf die Unternehmen will ich aufzeigen, wie sehr diese tatsächlich religiöse Kommunikations- und Handlungsstrategien einsetzen, um genau dieses Idealbild in unseren Gefühlen zu verankern und in unserem Denken zu erzeugen. In jahrelanger Recherche habe ich vor allem die Mythen untersucht, wie zum Beispiel den Genialitätsmythos rund um Steve Jobs oder den Garagenmythos um Google und zeige, dass diese eben nicht haltbar sind. Ebenso wird dargestellt und erläutert, wie wenig offen diese Unternehmen in Wirklichkeit sind, wie weit das, was sie sagen, von dem abweicht, was sie tun. Und schließlich zeige ich auf, wie stark Apple, Google und Facebook die Technologie wirklich Ideologisieren und wir uns immer merh selber zu Gläubigen der digitalen Glaubenslehre machen.
Schließlich zeigt das Buch auch auf, was eben Digitalisierung und Algorithmisierung wirklich bedeuten, und wie wir aufgeklärt und selbstbestimmt damit umgehen können.
Wie verändert sich unser Leben im Zeitalter der Algorithmen?
Algorithmen werden heute sehr stark mathematisch definiert und daher werden diese implizit als Rechenvorgänge nach einem definierten und sich wiederholenden Schema beschrieben, also als Software, die Aufgaben löst. Aber auch hier ist die Sichtweise zu eng, denn weiter gefasst sind Algorithmen auch Handlungsvorschriften zur Lösung eines definierten Problems.
Und noch allgemeiner ausgedrückt, sind alle Regelwerke, die angewandt werden, um eine Aufgabe zu erledigen, auch Algorithmen. Wenn wir also nach Rezept kochen oder wenn wir Arbeitsabläufe nach sich wiederholenden Schemata durchführen, bedienen wir uns immer Algorithmen. Diese werden heute dann eben in mathematische Rechenvorgänge überführt. Und dadurch sind diese mittels Computer ausführbar.
Daher ist der entscheidend andere Denkansatz, den ich vertrete, sein Leben nicht in Algorithmen zu leben. Es ist schon paradox, wie wir in einer Zeit, in der wir theoretisch flexibler denn je leben könnten, uns immer mehr zu Sklaven der Regulierung und Algorithmisierung machen. Unser Leben wird daher auf eine schon seltsame Weise immer eintöniger und vorhersehbarer als bisher und unsere „irre“ Lösungsstrategie liegt darin, dass wir versuchen unser strukturiertes Leben noch mehr durch Softwarealgorithmen überwachen und kontrollieren lassen: Schritte zählen, möglichst jeden Arbeitsschritt genau erfassen, den Schlaf aufzeichnen und, und, und.
Immer häufiger wird geglaubt, dass wir von unserem monotonen Alltag dann erlöst werden, wenn Computer unserer Arbeit machen und wir zugleich genügend „Erlös“ auf der Seite haben, um unsere Leben dann frei und unabhängig zu gestalten.
Was bedeutet es, wenn wir immer mehr Entscheidungen an Algorithmen delegieren?
Es bedeutet, dass wir, um es mit den Worten von Konrad Zuse auszudrücken, immer mehr zu Computern werden. Wir sind irgendwann nur noch die biologische Hardware, eine seelenlose Maschine, die von einem Android (Betriebssystem) gesteuert wird. Und um es mit einer angepassten Formulierung Max Webers zu beschreiben: Wir sind auf dem Weg, uns in die Herrschaft der Computer zu begeben. Allerdings ist das, was wir heute tun, eigentlich nur eine (un)logische Weiterentwicklung der Bürokratie. Aus der Herrschaft des Schreibtischs, hinter dem ein Mansch saß, wird nun die Herrschaft des Computers, und der sitzt heute überall.
Können uns Algorithmen zukünftig vor falschen Schlussfolgerungen bewahren?
Nein – das ist der ganz große Trugschluss, den unsere Gesellschaft als Ganzes begeht. Aus der Analyse von Daten und der Berechnung der sich draus ableitenden besten Lösung kann für den Einzeln keine gute Entscheidung getroffen werden. Das emotionale Unglück unserer Zeit besteht darin, dass wir glauben Entscheidungen wären für den Einzelnen berechenbar und vorhersagbar. Und deswegen wollen wir immer mehr Entscheidungen an Software auslagern und hoffen, dass diese es schon richten werde. In diesem Denken liegt schon etwas „Göttliches“ denn nichts anderes tun auch gläubige Menschen: sie legen ihr Schicksal in Gottes Hand.
Können Algorithmen unser Bauchgefühl ersetzen?
Hängt davon ab, wie wir in Zukunft „Gefühl“ definieren werden. Wenn Gefühle als Impulse in einem Nervennetzwerk (dem Bauch) betrachtet werden, dann sind Gefühle nichts anderes als berechenbare Impulse, die ein bestimmtes Muster erzeugen. Also sind Gefühle dann auch Algorithmen. Wenn wir aber Gefühle als etwas ganz anderes wahrnehmen, als etwas, was vielleicht nie objektiv definierbar sein wird, sondern nur subjektiv spürbar ist, dann brauchen wir keine Algorithmen dafür. Meine Frage lautet ja sowieso: Warum wollen wir das eigentlich, was ist der tragende Gedanke dahinter?
Wie kann die unbestreitbare Nützlichkeit und Notwendigkeit der Algorithmen mit größerer Transparenz und externen Kontrollmöglichkeiten verbunden werden?
Ich bin davon überzeugt, dass die Lösung nicht in Kontrolle und Transparenz liegt, denn Kontrolle ist ja wieder ein „Algorithmus“. Ich sehe die Aufgabe darin, dass wir die Sphären trennen müssen. Mensch und Maschine sind andere Dinge, Biologie ist keine Physik und keine Mathematik. Es gibt Schnittmengen, es gibt hilfreiche Anwendungen, aber es sind zwei nicht kompatible Systeme, die in Wahrheit nur „analog“ sind, die sich also von einem gewissen Standpunkt aus in einigen Phänomenen und Konzepten „ähneln“ aber in Wahrheit völlig unterschiedlich sind. Leider wird immer mehr der Versuch gemacht, diese Welten zu verschmelzen.
Ich glaube, Akzeptanz und ein aufgeklärter selbstbestimmter Umgang mit der Digitalisierung (und der Technologie) ist nötig. Es ist möglich, ohne Instagram und Facebook ein erfülltes sozial Leben zu haben. Es ist möglich, ohne SEO erfolgreiche Unternehmen zu haben. Es ist möglich, ohne E-Commerce einkaufen gehen zu können. Und umgekehrt ist es möglich, dass ich all dies nutze, ohne mich deswegen schlecht fühlen zu müssen.
Entscheidend ist die Ebene darüber: Will ich mein Leben wie ein Computer führen, oder wie ein echtes biologisches Lebewesen?
Was ist Ihre Entscheidung?
Mensch sein und Technologie nutzen. Und das bedeutet vor allem, dass ich mein Leben weniger algorithmisiere und berechne und mehr im Hier und Jetzt Lebe. Und ich muss lernen zu akzeptieren, dass Technologie ein genauso nützlicher wie schädlicher Teil unseres Lebens darstellt.
Ist ein Leben ohne Google heute überhaupt noch möglich?
Ja klar. Viele Menschen auf der Welt leben ohne Google. Es wäre eben anders als heute. Das spannende an dieser Frage finde ich, warum wir diese Frage stellen. Wir kämen nie auf die Idee, die Frage zu stellen, ob ein Leben ohne Bosch und deren Kühlschranke möglich wäre, wobei der Kühlschrank für unsere Zivilisation wohl von ebenso großer (wenn nicht von wesentlich größerer) Bedeutung ist wie Google bzw. das Internet. Insofern zeigt gerade diese Frage, wie sehr wir Google und Co. als etwas sehr Mächtiges und Bedrohliches, aber als auch etwas sehr Gutes und Hilfreiches empfinden. Wir erheben die digitale Technologie und ihre „Portale“ zu etwas Göttlichem und jedes Göttliche kann nur im Gegensatz zu etwas Bösem, wie dem Teufel stehen. Daher wäre ja eben ein entspannter und aufgeklärter Umgang so wichtig. Weder als Gott noch Teufel sollte das Internet und Google wahrgenommen werden.
Weshalb werden grüne Suchmaschinen beispielsweise kaum genutzt?
Weil wir eben glauben, dass Google die beste ist und wir auch in Bezug zu der Marke ein größeres Vertrauen haben. Alternativen kommen uns gar nicht in den Sinn. So wie ein religiöser Mensch auch nicht die Religion wechselt oder sich nach anderen Religionen umsieht. Zudem schaffen es diese Unternehmen auch, sich als Vorreiter der Green-IT zu positionieren und erstaunlicherweise wird in der Diskussion um die CO2 Reduktion das Thema der Onlinenutzung praktisch nicht thematisiert, und das obwohl laut "New York Times" die Datenzentren von Google so viel Strom wie eine 200.000-Einwohnern-Stadt verbrauchen.
Können Sie die wichtigsten Handlungsempfehlungen aus Ihrem Buch zusammenfassen?
Der wichtigste Aspekt ist, nicht den Mythen und Erzählungen der großen Konzerne zu glauben. So wie jede Werbung versuchen diese durch sehr geschicktes Kult- und religiöses Marketing ihre Marken und Angebote emotional aufzuladen. Hier nehme ich vor allem traditionelle Medien in die Pflicht, die zu oft diese Mythen unreflektiert übernehmen.
Der zweite wesentliche Aspekt ist die Trennung der Digitalisierung von der digitalen Technologie. Die digitale Technologie baut auf der Digitalisierung der Welt auf und diese lässt sich durch vier Ebenen beschreiben:
1. Quantifizierung von allem. Wir wollen alles genau in Zahlen und Ziffern ausdrücken, unser Gewicht, die Schritte, die Arbeitszeit, die Effizienz, die Intelligenz. Alles soll messbar sein.
2. Alphabetisierung der Realität. Das gemessene soll in standardisierte Zeichen- oder Symbolsysteme überführt werden. Die IBANnummer, die eTin, die ISBN, die Strichcodes auf Produkten, die Seriennummern im Auto …. Alles soll einheitlich codiert und formalisiert werden.
3. Algorithmisierung: Wir wollen immer mehr Aufgaben und Tätigkeiten formal richtig lösen. Wir wollen passende Vorschläge zu einem Buch oder Film angezeigt bekommen, den richtigen und schnellsten Weg per Navigation, die günstigste Verbindung von A nach B und so weiter. Arbeitsabläufe sollen formal und effizient nach festen Regeln gestaltet werden, der Tagesablauf soll möglichst strukturiert und berechenbar ablaufen, die Urlaubsreise exakt planbar sein und der Burger überall auf der Welt gleich schmecken sowie jedes Hotelzimmer immer denselben Standard haben soll.
4. Stochastifizierung = Berechnung der optimalen Entscheidung aus einer Auswahl unter Möglichkeiten. Wir wollen immer mehr Entscheidungen in Wahrscheinlichkeiten und in „Optima“ ausgedrückt haben. Welcher Partner passt am besten zu mir, welchen Job soll ich wählen, soll ich ein Haus kaufen oder mieten, wieviel muss ich monatlich auf die Seite legen, um abgesichert zu sein, wie wahrscheinblich erkranke ich an Krebs.
Aus dieser Analyse der Digitalisierung des Lebens - oder wie ich es im Buch nenne „die Googleisierung der Welt heraus - leitet sich die Empfehlung ab, diese vier Dinge weniger in seinem Leben zu tun. Weniger zählen, weniger berechnen, weniger in Wahrscheinlichkeiten denken (was der Mensch eh nicht wirklich kann), weniger die Zukunft mathematisch vorhersagen wollen, weniger glauben, dass Entscheidungen richtig der falsch sein könnten oder in Prozent ausrückbar wären, weniger Entscheidungen von Computern treffen lassen.
Einfach ausgedrückt: Etwas mehr Chaos, Unordnung und Ungenauigkeit ins Leben bringen und diese Konzepte auch zu akzeptieren. Die Welt ist unsicher, und daran werden PC und AI nichts ändern. Wobei Chaos, Unordnung und Ungenauigkeit unter einem philosophischen Aspekt zu verstehen ist, weniger wortwörtlich auf die Küche und den Kleiderschrank bezogen werden sollte.
Und schließlich sollten wir verstehen, dass Mensch und Maschine, das Leben und KI nicht dasselbe sind und auch nie werden. Um am Ende noch einmal inhaltlich Konrad Zuse zu zitieren: Die Gefahr, dass der Mensch wie ein Computer wird ist größer als die Gefahr, dass der Computer ein Mensch wird.
Und wir müssen unsere Perspektive komplett drehen. Inzwischen glauben wir immer mehr, dass das Leben und die Natur logisch und prinzipiell berechenbar wären, während Computer und die KI etwas Übernatürliches, Magisches und Göttliches wären, deren Prinzipien und deren Funktionsweisen wir nicht mehr verstehen würden. Die größte Leistung der Propheten dieser Technologie ist die Etablierung dieses Mythos.
Weshalb haben Sie Ihr Buch im Selbstverlag herausgegeben und nicht in einen Verlag, der diese Themen auch als Schwerpunkt hat?
Im innersten meines Herzens bin ich schon immer „Verleger“ gewesen. Mir macht es Spaß, ein Buch von A bis Z entwickeln und produzieren zu können und auch Kontrolle über die Vermarktung zu haben. Zudem hatte ich Lust, das mal völlig anders zu machen als die klassischen Verlage, und die Gespräche vor der Veröffentlichung mit Verlagen haben mir noch mal gezeigt, dass es an der Zeit ist, es selber zu tun. Schon allein wegen der Lernkurve, die ich durchlaufen konnte, hat es sich gelohnt. Es ist immer wieder spannend, wie viel es zu lernen gibt, selbst wenn man schon erfolgreiche Bücher auf den Markt gebracht und viel mit und in Verlagen gearbeitet hat.
Weiterführende Literatur:
Christian Hoffmeister: Google Unser. DCI Institute Gmbh, Hamburg 2019.
Christian Hoffmeister: Die MacGoogleisierung als neue Religion. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler, Heidelberg und Berlin 2017.