Diversity oder warum in Finnland die Frauen regieren
Genau 5 Tage vor der finnischen Regierungswahl sitze ich im Dezember in der Sendung „Blaue Couch“. Thorsten Otto, der Moderator ist neugierig auf meine Forschungsergebnissen zum nordischen Glück: „Maike, ist es in Skandinavien auch für Frauen leichter Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen?“ Ich lache herzlich: „Das ist jetzt ne typisch deutsche Frage, das weißt du schon, oder? Weil die typisch nordische Antwort wäre jetzt: ‚Åh ja. Und für Männer auch.’"
Sie schaffen die Schulfächer ab. Sie experimentieren mit bedingungslosem Grundeinkommen. Sie wählen den jüngsten weiblichen Premierminister der Welt. Seit dem 10. Dezember 2019 regiert die 34-jährige Sanna Marin. Sie ist Chefin einer Koalition aus fünf Parteien, die wiederum alle von strahlenden Frauen in modischem Outfit angeführt werden. Vier davon sind jünger als 35.
„Was ist da oben los?“, fragt sich der Deutsche und der Rest der Welt. "Spinnen die Finnen?"
"Nö, einfach Business as usual.", denkt der Nordling erstaunt und zuckt mit den Schultern.
Skandinavier sind weibliche Führung gewohnt
Immerhin gehören Norwegen, Schweden, Dänemark, aber auch die offiziell nicht skandinavischen Länder Finnland und Island, zu den femininsten der Welt. Schweden erreicht in der Kultur-Dimension des Organisationsanthropologen Geert Hofstede in Sachen Maskulinität 5 Punkte von 100 und ist somit eine betont weibliche Gesellschaft. Es mag nicht erstaunen, dass die schwedische Regierung dann auch die weltweit einzige ist, die sich offiziell "feministisch" nennt.
Führung in Strapsen?
Was übrigens nicht bedeutet, dass dort alle Wikingermänner in rosa Strapsen herum laufen. Es bedeutet einfach nur, dass Kinder von klein auf eine sehr große Vielfalt an Verhalten und Emotionen zeigen und erfahren dürfen. Jungs dürfen weinen und Mädchen stark sein, wie Pippi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter. Denn es geht nicht um oben oder unten, wie in maskulinen Gesellschaften, wie Deutschland eine ist (66 Punkte). Es geht darum, dass es allen gut geht. Und wann geht es uns am besten? Wenn wir so sein können, wie wir sind. Einer der Gründe, weshalb alle nordischen Länder trotz Kälte und Dunkelheit zu den glücklichsten der Welt gehören. Privat und im Job.
Der Mensch steht als ganzheitliches Individuum im Mittelpunkt und bereichert so die Gemeinschaft mit dem, was er am besten kann. Zum Beispiel Menschen inspirieren und zu neuen Ufern führen. So, wie es schon vor 1.000 Jahren die Wikingeranführer, pardon -anführerinnen, bzw. Schildmaiden, taten.
Und nun stehen halt wieder ein paar Schildmaiden an der Spitze. Zusammen mit ihren Kolleginnen in Norwegen, Island und Dänemark. Was soll daran bitteschön so besonders sein?
All hands on deck!
Das weibliche Viergespann aus Finnland ist kein Gender-Diversity-Thema, sondern nur das Resultat der tief verwurzelten nordischen Liebe zur Vielfalt. Die Antwort auf die Frage: Nutzen wir das gesamte Potenzial aller Menschen der Gesellschaft oder nicht? Der Norden kann es sich mit seinen unendlichen Landschaften, dem harschen Klima und den wenigen Menschen gar nicht leisten, die Wirtschaft nur mit der Hälfte der Crew am Laufen zu halten.
„Alle Menschen! Jederzeit!“, heißt die Devise deshalb damals wie heute in der Gesellschaft, aber auch im Management wie beim schwedischen LKW Hersteller Scania. Wikinger müssen das gesamte Potenzial aller Menschen nutzen.
Liebt kollektive Individualisten!
Die skandinavischen Länder sind nach dem World Value Survey die individualistischsten der Welt. Das bedeutet, dass sie Werte leben, die auf Selbstentfaltung einzahlen. So lernen die kleinen Wikinger schon in der Schule, den Mund aufzumachen und sich nicht zu sehr anzupassen. Prinzipiell gibt es kein richtig oder falsch, nur deine eigene persönliche Meinung. Noten gib es deshalb in den meisten nordischen Ländern erst ab der achten Klassen. Ganz einfach, weil es total uninteressant wird, wenn alle Menschen zur selben Zeit dasselbe können. (Lesetipp!) So entsteht nichts Neues, so entfacht man keine Kreativität. All die schönen Innovationen bleiben in der Schublade liegen.
Her mit der Vielfalt! Lauter Experten bringen keine Expertise.
Das ist das Geheimnis des wirtschaftlichen Erfolges und der nordischen Innovationskraft: Starker Individualismus kombiniert mit gesundem Kollektivismus.
Diversity ist im Norden absolut erwünscht. Die besten Ideen erstehen, wenn man viele Menschen mit unterschiedlichen Schwächen, Talenten, Interessen und Lebenserfahrungen in unterschiedlichen Lebensphasen auf einen Haufen wirft und dann wertschätzend miteinander diskutieren lässt. Schildmaid wie Wikingermann. Ihnen geht der wertvolle weibliche Beitrag verloren, wenn nicht beide die Karriereleiter hoch steigen. Wenn wir also in Deutschland all diese High-Potentials m/w/d mit der guten Ausbildung suchen: Nun, sie sind schon da. Nur leider hat sie noch keiner von der Leine gelassen.
Wir nutzen das Beste von allen für alle.Loffe, schwedischer Bauarbeiter. MTA, Halmstad, Schweden
Und damit wir das können, müssen wir dafür sorgen, dass jeder gleichberechtigt am Berufsleben teilhaben kann und auch jeder die Chance hat sich zu entwickeln. Unabhängig vom Geschlecht.
Das ist nur fair und der Grund für die exzellente Kinderbetreuung im Norden. Wobei das Kinderkriegen nicht als Ausfall von Arbeitskraft gewertet wird. Im Gegenteil! Es ist eine Chance für emotionale, geistige und organisatorische Weiterentwicklung: „Du durchläufst auch einen wertvollen Prozess. Du setzt andere Prioritäten und verlierst dich nicht mehr so schnell in Details. Ich denke, diese Sichtweise ist großartig in Schweden.“, so eine Mitarbeiterin der Personalabteilung bei Scania. „Dieser Perspektivwechsel ist unbezahlbar“, findet auch Johan, CEO einer schwedischen Eisenbahngesellschaft. Und deshalb stellen sich auch Unternehmen dem persönlichen Leben ihrer Mitarbeiter gegenüber extrem flexibel auf.
Seid flexibel!
Wen wundert’s dann noch, dass Menschen m/w/d auch während der Elternzeit befördert werden? Dass Meetings nicht vor 9 Uhr und nach 15 Uhr gelegt werden? Dass übermüdete Eltern im internen Ruhezimmer ein „Power Nap“ halten können. Sport während der Arbeitszeit, wenn es abends zu eng wird. Von dieser Flexibilität profitieren dann auch die Unternehmensmitglieder ohne Kinder, wie Malin, die Werte-Beauftragte des börsennotierten Baukonzerns Skanska: "Ich habe diesselben Freiheiten. Ich sehe hier aber auch Männer wie Frauen, die eine Karriere machen, obwohl sie abwechselnd jeden Tag um drei Uhr ihre Kinder vom Kindergarten abholen. Ich verliere nicht 50 Prozent der Kollegen. Das macht mich glücklich." Das Ergebnis ist eine extrem loyale und engagierte Crew. Das Thema Employer-Branding könnt ihr dann getrost von eurer To-do-Liste streichen.
Hier zeigt sich einfach der nordische Pragmatismus. Im Prinzip ist es doch völlig egal, wer in Elternzeit geht, ob das der männliche Bauarbeiter ist oder die weibliche Managerin. Eine(r) fehlt halt immer. Auf jeden Fall sind zwei kürzere Perioden für alle einfacher zu überbrücken, als eine lange. Deshalb wird in Schweden bereits 30 Prozent der bezahlten Elternzeit von Vätern genommen. Viermal mehr als in Deutschland. Tendenz steigend. Und jeder Vater nimmt in Skandinavien Elternzeit. Tun Sie das nicht, meine Herren, dann werden Sie auf der nächsten Party richtig schief angeguckt!
Diversity bedeutet: Team-Boni gehen über individuelle
Im Norden ist es egal ob Mann oder Frau, jung oder alt, erfahren oder unerfahren! Skandinavische Wikis arbeiten bereits in der Schule überwiegend in Diversity-Teams, denn alle Kinder gehen zusammen in eine Schule bis sie 15 sind. Dort ist Gruppenarbeit Trumpf und Noten werden dementsprechend auch oft an Teams vergeben. Schule, das ist ein Ort an dem die Kinder nebst Wissen vor allem Sozialkompetenz erwerben sollen. Weniger beliebt sind deshalb individuelle Boni. Wichtiger als dass einer glänzt ist es doch, dass wir zusammen glänzen. Dann strahlt es auch viel heller im dunklen Norden.
Teilen, nicht kloppen
Skandinavier haben früh lernen müssen, dass es einfach nichts bringt, sich im Sommer allein an einem gefangenen Wal kugelrund zu fressen, um dann im Winter zu verhungern. Besser, man teilt im Sommer den Wal und im Winter den Reisbrei, dann bekommt man auch mit den Weihnachts-Wichteln keinen Ärger. Das erfordert viel Dialog, gegenseitigen Respekt und den Willen zum Konsens. Teilen, nicht prügeln. Diese jahrhundertealte Liebe zur Zusammenarbeit ist der Grund für den Gleichheitsgedanken des Nordens.
Gleichheit bedeutet, Anerkennung dafür, dass jeder etwas Wertvolles beitragen kann.Tommy, Gründer Bauunternehmen MTA, Halmstad, Schwedens
Jeder ist gut, so wie er ist. Jeder kann in seiner Einzigartigkeit bedeutungsvoll für die Gemeinschaft sein. Gerne auch als 34-jährige Regierungschefin. Sanna Marin regiert ja nicht allein. Sie regiert im Team.
Was können wir von den Skandinaviern lernen?
Erfolgreiche, innovative Länder und auch Unternehmen nutzen die Kreativität und das Wissen aller Menschen. Traut euch also, Menschen aus den Kartons ihrer Rollenumschreibung zu befreien, sprich, lockert Strukturen. Schaut euch hierarchiebefreit als Kollegen in die Augen und überlegt euch: Was kann ich tun, damit es dir gut geht? Damit du dein Potenzial frei entfalten kannst? Wie können wir all die individuellen Kräfte bündeln? Welche Elemente in unserem Team, Unternehmen oder in den Unternehmensabläufen trennen Menschen von einander, kreieren Missgunst, Neid oder interne Konkurrenz? Weg damit! Wale erlegt man zusammen. Auch und vor allem in 2020!
Was meint ihr? Ich freue mich auf eure Reaktionen, bin neugierig auf eure Ideen und liebe Diskussionen.
Bis dahin: Adjö för idag!
Eure
Über die Autorin
Maike ist neu hier als Insider und grüßt alle Leser aus ihrer neuen Wahlheimat Stockholm. Sie ist Autorin, Unternehmerin, Vortragsrednerin und Mitorganisatorin des European Bildung Network. Sie hat sich auf die Fahne geschrieben, die Deutschen glücklicher zu machen. Minimal 8 Stunden täglich. Deshalb reist sie regelmäßig durch Skandinavien. Denn dort leben und arbeiten die glücklichsten Menschen der Welt. Für ihr neustes Buch hat sie 30 skandinavische Unternehmen besucht. In den Medien erscheint sie regelmäßig als Expertin für die Themen Glück, Skandinavien und Zukunft der Arbeit. Maike ist neugierig, liebt Sprachen und Sport, und hasst, Kommaregeln. Sie hat, wie alle Mütter, die beste Tochter der Welt. Ansonsten stiftet sie Menschen und Unternehmen an der Zukunft auf nordische Art zu begegnen: Arschbomben machen und Räuberleiter geben.