Drill ist verboten. Punkt!
Immer höher, immer weiter: Die alte Mär von "Drill gleich mehr Leistung".
Überkommene Erziehungsmuster dominieren noch immer die Gesellschaft.
Drill und Gewalt sind nicht in der geringsten Form tolerierbar.
In Japan fängt die Leistungsstrapaze früh an: Überehrgeizige Eltern und die Aussicht, zur Elite des Landes zu gehören, lassen japanische Schüler spätestens nach der Grundschule zur „Höchstform“ auflaufen. Kein Wunder: Nur die, die dem hohen Leistungsdruck standhalten, haben überhaupt noch eine Chance, später an einer Spitzen-Uni studieren zu können – die Eintrittskarte für die heiß begehrte Karrierelaufbahn beim Staat oder in der Wirtschaft.
Die Aufnahme an der Uni klappt beim ersten Anlauf nicht? Kein Problem, für die „Schlaffis” unter den Schülern bietet das Land ein Jahr zusätzlichen Lern-Drill an. Ein besonderer Service: Bei ersten Anzeichen von Schwäche unterstützen Ärzte und Psychotherapeuten in der sogenannten „Yoyogi“-Klinik dabei, die gestressten und mittlerweile hart aggressiven Schüler wieder hochzupäppeln und sie damit vorm kollektiven Burnout zu retten.
Okay, so schlimm wird’s schon nicht sein, denken die einen. “Work hard, play hard – so funktioniert das System nun mal”, sagen die anderen. Aus meiner Sicht läuft hier etwas grundlegend falsch. Denn der Leistungswahn in Japan ist nur eines von vielen Beispielen von alltäglicher Gewalt: Kinder werden ständig und überall auf der Welt systematisch gebrochen, ob beim Leistungssport, zu Hause oder in der Schule – verbal, körperlich und sexuell. Die Ohrfeige in der Familie, das Mobbing durch Mitschüler – selbst in ihrer Freizeit, in dem, was ihnen womöglich die Freude ihres Lebens macht, werden Kinder Opfer von Gewalt. Ein ganz aktuelles Beispiel ist die Wiener Ballettakademie der Staatsoper. Laut dem österreichischen Magazin Falter seien Kinder dort „Opfer autoritärer, gewalttätiger und gefährlicher Unterrichtsmethoden“ geworden. Hartes körperliches Training bis zur Totalerschöpfung, Essstörungen, sexuelle Übergriffe, Psycho-Terror – leider ist der Ballettsport schon lange dafür bekannt. Doch dieses Mal betrifft es Kinder an einer der renommiertesten Schulen weltweit. Sie werden zum Spielball der Macht, weil sie von ebenjenen Menschen abhängig sind, die über ihr Wohl entscheiden.
Doch all das macht mich heute nicht wütend. Wütend – ja, richtig wütend, macht mich ein österreichischer Radiosender, der anlässlich des jüngsten Ballettskandals "das ganze Land fragt”: “Wie viel Drill braucht die Höchstleistung? Sind Drill und hartes Training erforderlich, um Kinder zu Höchstleistungen zu motivieren? Oder reicht nicht auch die Eigenmotivation? Deine Meinung ist gefragt!” Eine Empörung an sich, könnte man meinen – doch es kommt noch schlimmer: Die Mehrheit der Zuhörer findet Drill ok – aber nur solange, wie er sich noch im rechtlich erlaubten Rahmen bewegt. Doch machen wir uns nichts vor, das heißt im Klartext: Die Mehrheit hat mit Gewalt gegen Kinder kein Problem, solange sie nicht ausartet. Das macht mich wütend, es bestürzt mich und bringt mich zum innerlichen Toben. Denn wo fängt Gewalt an? Und wer entscheidet das?
Was dieser Sender offenlegt, ist aus meiner Sicht ein Schlag ins Gesicht unserer Kinder. Drill, Anschreien – all die subtilen und weniger subtilen Formen von Gewalt – gehören demnach zum erlaubten Tun. So haben Eltern, Ausbilder und andere Erzieher offenbar einen stillen Konsens gefunden: Um die Höchstleistungen der Kinder zu erhalten, nehmen sie Gewalt in Kauf oder wenden sie selbst an. Das ist eine Schande und beschämend, denn es widerspricht einerseits nicht nur den neuesten Forschungen unserer Gelehrten, und andererseits ist es sogar ganz klar verboten. Der Gesetzgeber in Deutschland und Österreich bestimmt: BGB “§ 1631 Abs. 2: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Kinder stehen unter dem besonderen Schutz des Staates, genau aus dem Grund, dass viele Menschen noch immer glauben, sie könnten überkommene Erziehungsmuster ausleben oder das, was sie selbst erlebt haben, an die Kinder weitergeben.
Wir müssen endlich aufhören, Gewalt gegen Kinder – verbal wie körperlich – als notwendigen Anreiz zu betrachten und sie sehen, wie sie ist: Ein Mittel, um Seelen zu brechen und Kindheiten zu zerstören. Denn: Kinder werden durch Drill nicht besser, nur verletzt.
Es ist erstaunlich, welche großartigen Persönlichkeiten zu den Leistungen fähig waren und sind, die wir u.a. im Leistungssport beobachten – obwohl sie als Kinder misshandelt wurden. Was könnten sie leisten, wenn man sie mit Liebe, guten Worten, Anerkennung und Wertschätzung gewaltfrei fördern und unterstützen würde? Allen, die unseren Kindern Gewalt antun oder sie auch nur stillschweigend dulden, sollte klar sein: Sie machen sich strafbar.