Entscheiden in der Krise: Warum wir gesunden Menschenverstand brauchen
In einer unübersichtlichen Zeit und offenen Gesellschaft, in der vieles aus den Fugen gerät, ist eine Rückbesinnung auf den gesunden Menschenverstand nötig und nützlich.
„Gesund“ steht hier für „natürlich“ im Sinne von „intuitiv, emotional“ - mit Verstand, der hilft, Dinge zu erkennen und zu begreifen. Für Claudia Silber, die beim ökologischen Onlineversender memo die Unternehmenskommunikation leitet, ist der gesunde Menschenverstand „eher Teil des Kopfes, der bei Entscheidungen unterstützend eingreift. Er ist bei Entscheidungen der praktische Teil neben dem emotionalen.“ Sie ist ein Mensch, der berufliche Entscheidungen sehr gut überdenkt und dabei versucht, alle relevanten Aspekte einfließen zu lassen: „Ich blicke zurück, welche Erfahrungen ich bei ähnlichen Entscheidungen gemacht habe, und ich blicke nach vorne, welche Auswirkungen meine Entscheidung in der Zukunft haben könnte.“ Sie wundert sich oft, wie wenig Menschen im täglichen Leben ihren gesunden Menschenverstand einsetzen und vermutet die Gründe darin, „ dass wir schon viel zu sehr ans ‚Folgen‘ gewöhnt sind und nicht mehr selbst die Richtung bestimmen wollen oder sogar können“.
Ihrer Meinung nach gibt es allerdings fast immer die Möglichkeit, Bauch, Herz und Verstand gemeinsam entscheiden zu lassen. „Wenn mir eine Entscheidung schwerfällt, halte ich kurz inne oder schlafe einmal darüber – am nächsten Tag ist dann meistens alles klar und deutlich, auch dank des gesunden Menschenverstands.“ Er kann dabei helfen, Gelegenheiten auch dann zu erkennen, wenn es schwierig wird, Unvorhergesehenes zuzulassen und die eigene Sichtweise zu fokussieren.
Es gibt aber auch Umstände, die uns den gesunden Menschenverstand vergessen lassen.
Die Publizistin und Herausgeberin Arianna Huffington beschreibt dies beispielsweise sehr treffend in ihrem Buch „Die Neuerfindung des Erfolgs“: Sie verliert sehr leicht den Zugang zu ihrer Intuition (die sie mit dem gesunden Menschenverstand gleichsetzt und als eine Stimmgabel bezeichnet, die uns in Harmonie hält), wenn sie zu wenig schläft. Das ist nicht nur schlecht für die Konzentrationsfähigkeit und das Gedächtnis, sondern auch für die emotionale Intelligenz, das Selbstbewusstsein und unsere Empathiefähigkeit.
Wichtig ist zu erkennen, dass Verstand und Gefühl, Inneres und Äußeres, Sein und Bewusstsein zusammengehören.
Erst dann ist man in der Lage, richtige Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist, dass auch in Unternehmen vermittelt wird, dass der gesunde Menschenverstand hilft, mit den Anforderungen moderner Führung besser umzugehen. Charakter und Persönlichkeit sind heute wichtiger als Wissen. Beides ist aber nur zu haben, wenn der Instinkt dafür nicht verlorengeht, was richtig ist. Wer sich auf sein Inneres verlässt, ist auch in der Lage, das Richtige zu tun.
Der gesunde Menschenverstand war zu allen Zeiten präsent – aber vielleicht ist die Besinnung auf das Einfache, das uns als Menschen ausmacht, in Krisenzeiten besonders ausgeprägt. Es wird wieder mehr auf das „Innerste“ gehört. Es ist für die Augen nicht zu sehen, aber es ist spürbar, es geht uns an - es ist der „Stoff“, aus dem das Leben ist. Der Begriff „gesunder Menschenverstand“, der viele Bedeutungsnuancen kennt - unter anderem „innerer Sinn, gewöhnlicher Verstand, natürliches Urteilsvermögen, Sinn für Gemeinschaft, gemeinsames Wissen, Meinung der Menge“ - geht wie „Gemeinsinn“, die französischen Pendants „bon sens“ und „sens commun“ sowie der englische „common sense“ auf den lateinischen Terminus‚ „sensus communis“ zurück. Er ist eine Übersetzung des von Aristoteles geprägten Begriffs „koine aisthesis“ – ein innerer Sinn mit Sitz im Herzen, der die verschiedenen Informationen der Einzelsinne zusammenfasst und beurteilt.
In der Moralphilosophie des deutschen Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant spielt er ebenfalls eine wichtige Rolle, denn in Fragen der Moral urteile dieser oft richtiger als die Wissenschaft. Kant formuliert drei Maximen für den erfolgreichen Gebrauch des gesunden Menschenverstands:
• „Selbstdenken“
• „An der Stelle jedes andern denken“
• „Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“.
Aus alledem lässt sich viel für uns ableiten – zum Beispiel die Fragen: Kann jemand eine gute Führungskraft sein, wenn er kein großes Herz hat? Wenn ihm die Gabe fehlt, es „sprechen“ zu lassen? Wohl kaum. Damit verbunden ist auch eine Philosophie des Handelns, die in der Lage ist, dem Leben einen Sinn zu geben.
Weiterführende Informationen:
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.