Erfolg folgt, wenn man den Dingen Zeit gibt
Interview mit Karin Helle und (Claus-Peter Niem Coaching for Coaches)
Frau Helle, Herr Niem, in Ihrem Buch „One touch" beschäftigen Sie sich unter anderem mit dem Konzept der Nachhaltigkeit im Fußball und verweisen auf Jürgen Klinsmann und Joachim Löw, die schon 2004 von einem Zehn-Jahres-Plan sprachen. Weshalb folgt Erfolg, wenn man den Dingen Zeit gibt?
Ohne stete, immer wieder tiefgreifende Veränderung bleibt kein Unternehmen lange wettbewerbsfähig. Change-Management gilt daher als eine der schwierigsten Disziplinen der Unternehmensführung. Ein solches Reformprojekt braucht Entwicklungszeit, um die erforderlichen Rahmenbedingungen und Strukturen zu schaffen, die das Fundament des Wandels auf breiter Basis auch nachhaltig ermöglichen. Die Arbeit von Jürgen Klinsmann mit der deutschen Fußballnationalmannschaft ist ein solches wirklich positives Beispiel für den radikalen Wandel einer Organisation in nur zehn Jahren.
Gemeinsam mit seinem damaligen Co-Trainer Jogi Löw analysierte Klinsmann gründlich die Stärken und Schwächen des deutschen Fußballs. So konnte er die Dringlichkeit seiner Reformen gut begründen und ein schlüssiges Ziel entwickeln. Er scharrte ein Team von fachlich und menschlich hochprofessionellen Experten um sich, denen er Handlungsfreiheit ließ und generierte schnell sichtbare Erfolge.
Durch seinen emotionalen und integrativen Führungsstil gelang es ihm, die Spieler, die Betreuer und die Helfer von strukturellen Veränderungen zu überzeugen und sie zu aktiven Unterstützern des Wandels zu machen. Er kümmerte sich intensiv um jedes einzelne Teammitglied, analysierte dessen Fähigkeiten und coachte die Spieler. So erreichten Klinsmann und CO. die für einen erfolgreichen und nachhaltigen Wandeln so wichtige emotionale Mobilisierung.
Was machte sein Führungsteam aus?
Es teilte dieselben Werte und arbeitete in dezentralen Strukturen mit klaren, abschließenden Verantwortlichkeiten. Dadurch war es Jogi Löw, der in alle Prozesse involviert war, möglich, das Projekt nahtlos zu übernehmen und es im selben Geiste erfolgreich fortzuführen - mit dem Gewinn des WM-Titels in Brasilien nach genau zehn Jahren.
In unserem Buch verraten wir diesbezüglich dem Leser - anhand von vielen anschaulichen Beispielen und Geschichten aus der Welt des Fußballs -, wie er seine Führungsqualitäten entwickeln, seine Kommunikation verbessern, Beziehungen anschieben, Expertenwissen steigern und seine Ich-Firma stärken kann.
Wer sind die Protagonisten Ihres Buches? Welchen persönlichen und „nachhaltigen" Bezug haben Sie zu Ihnen?
Es sind Trainer, Manager, Spieler und Menschen rund um den Profifußball, die wir in den letzten 15 Jahren kennen und schätzen lernen durften - und von denen wir stets viel lernen konnten. Zu vielen entwickelte sich eine enge Freundschaft, ein nachhaltiger Bezug mit dem Ziel: Mit den Besten zusammen zu arbeiten, uns auf Augenhöhe austauschen, Wissen teilen, vernetzen, Parallelen ziehen und über den Tellerrand schauen - und uns dennoch für nichts und niemanden zu schade zu sein. Letzteres ist im Übrigen einer der Schlüssel, der uns stets begleitete und so manche Tür öffnete.
Was heißt das konkret?
Offen auf die Menschen zugehen, zuhören, neugierig sein und Fragen stellen (denn wer fragt, der führt). Sich auf jedem Parkett bewegen können, da sein, wenn es darauf an kommt und stets den ganzen Menschen im Fokus haben. Und dies alles nicht nur in Zeiten des Erfolges, sondern vor allem dann, wenn Spiele verloren werden, Protagonisten im Abseits stehen, sich wieder neu sortieren und erfinden müssen oder wollen - dranbleiben, wenn keiner mehr zuhört oder Fragen stellt, besonders in schwierigen Situationen. Nachhaltigkeit durch Persönlichkeitsentwicklung, Stärken stärken, Hilfe zur Selbsthilfe.
Warum müssen große Trainer viele Rollen ausfüllen können und ihr Rollenspektrum ständig erweitern?
Je mehr Wahlmöglichkeiten ein Trainer zur Verfügung hat, desto besser. Mal ist er als Pädagoge gefragt, mal als Konfliktlöser, Mentor oder Psychologe - und in jeder Situation als eine starke Führungspersönlichkeit. Besonders in Drucksituationen und vor entscheidenden Duellen diskutieren wir mit unseren Trainern häufig auch über das imaginäre Bild des Türstehers - wir sprechen dann von Türsteher-Mentalität. Das heißt nicht anderes, als stark aufzutreten in Gestik, Mimik und Körpersprache. Also gerade und aufrecht zu stehen sowie die eigenen Botschaften ruhig, prägnant und bestimmt weiter zu geben - um so das Team zu stärken, eine Einheit zu formen, seine Energien auf das Team zu übertragen - eben immer Energiegeber sein.
In vielen Studien wurde nachgewiesen, dass Trainer dann am erfolgreichsten sind, wenn sie über ein möglichst breites Rollenrepertoire verfügen. Große Trainer sind solche, die alle Rollen zu meistern zu verstehen, denn alle Rollen sind wichtig. Wenn man sich einige Trainer einmal näher anschaut, so ist festzustellen, dass ihre Erfolge über die Jahre gemeinsam mit ihren Fähigkeiten gewachsen sind, nach und nach ihr Rollenspektrum zu erweitern und situationsangemessen anzuwenden. Für einen Trainer ist es daher wichtig, sich über die Rolle, die er spielen will, im Klaren zu sein. Er muss eine klare Rollendefinition vornehmen und der Rolle entsprechend handeln lernen.
Übrigens haben sich die Trainer der Deutschen Nationalmannschaft auch schon mal eine Ritterrüstung angelegt - und zwar immer dann, wenn es zu unangenehmen Krisengesprächen oder Pressekonferenzen ging.
Im Fußball ist One Touch die schnelle Weitergabe des Balles - ohne ihn zu stoppen. Welche Voraussetzungen braucht es dafür?
Das setzt nicht nur hohe Laufbereitschaft, technisches Können und automatisierte Laufwege voraus. Bei einer solchen Taktung wird für Individualisten der Raum für Möglichkeiten immer kleiner und das Kollektiv immer wichtiger. Die Spielidee ist dabei so simpel wie genial: Alle Spieler greifen an und alle verteidigen gemeinsam im Verbund. Jeder Spieler agiert bereichs- und positionsübergreifend. Durch diese Integration aller in die jeweiligen Aktionen entstehen stetig neue Verbindungen und Wege auf dem Spielfeld, urplötzlich werden aus dem Kollektiv unerwartete Passkombinationen oder Laufwege entwickelt.
Mit dem Ergebnis?
... eine Mannschaft, die nur schwer berechenbar ist und in Auftritt und Verhalten einem Schwarm gleicht. Gaben früher einzelne Platzhirsche den Takt auf dem Spielfeld vor, so spielt heute ein ganzes Orchester zusammen. Es ist die Intelligenz des Schwarms, die Weisheit der Vielen, die Geschwindigkeit des Kollektivs, das Wir steht über dem Ich.
Der Schwarm und damit die Mitarbeiter und deren Führung stehen im Brennpunkt, um die ständig steigenden Anforderungen und die zunehmende Komplexität anzugehen. Spieler, die mitdenken, die sich einbringen und auf dem Platz einem Schwarm gleich eigenständig nach Lösungen suchen. Spieler, die wissen, dass sie sich auf einer gemeinsamen Lern- und Entwicklungsreise befinden, bei der sie sich gegenseitig helfen und unterstützen können. Eine Vision, die mit allen Beteiligten gemeinsam erarbeitet wird und die im Alltag allen Sinn und Orientierung gibt. Offenheit und Kooperation, fließende Organisationsformen und ein empathischer, involvierter und kooperativer Führungsstil - weg vom Individual-, hin zu Kollektivzielen, welche die gesamte Mannschaft betreffen. Langfristiger Erfolg bedarf echten Miteinanders.
Es wird immer wieder von einer Wissensgesellschaft gesprochen. Aber geht es nicht vor allem darum, unsere Könnensgesellschaft zu stärken? Was lässt sich diesbezüglich vom Fußball lernen?
Mit guter Arbeit aus der Krise! Das Könnenwollen liegt uns im Blut. Die Könnensgesellschaft ist eine Kultur des Lernens und der Entwicklung selbstbestimmter tätiger Menschen, die einen Sinn in ihrer Arbeit sehen und wissen, dass sich Anstrengung lohnt. Nehmen wir beispielsweise David Wagner, dem wir als Trainer von Hudderfield Town vor vier Monaten „One Touch" in der kleinen Arbeitermetropole nördlich von Manchester überreichen durften. Vor rund anderthalb Jahren übernahm er den Club - und wurde nach drei Niederlagen in Folge schon fast wieder entlassen. Doch dann schaffte er den Turnaround, baute Beziehungen zu den Spielern auf, veränderte da, wo verändert werden musste und führte den Kickern aus Yorkshire vor Augen, dass sie sich ändern müssen - wenn sie noch erfolgreicher sein wollen.
Welche Voraussetzungen brauchte es dafür?
Ein Blick über den Tellerrand war genauso wichtig wie Offenheit für Neues - ob in Trainingsmethoden, Regeneration oder Ernährung. Vor einigen Tagen schafften die Terriers - so ihr Spitzname - das Unglaubliche: Erstmals seit 45 Jahren steht der Club wieder in der Premier League. Wagners Rezept: Viel Ballbesitz, ein dynamischer und flexibler Spielstil, Aufstockung der Trainingseinheiten. Anfangs waren die Spieler geschockt - doch das harte Training wandelte sich in Können.
Wie war das möglich?
Sie sahen den Sinn in ihrem Tun. Und so entwickelt sich Können. Üben, üben, üben eben. Darum geht es auch in einer Könnensgesellschaft. Ständig an den Fähigkeiten arbeiten, handeln, ausprobieren. Übung macht halt doch den Meister!
Im Fußball ist es wie im ganz normalen Leben: So kann man durch unzählige Übungsstunden und permanente Wiederholungen in rund zehn Jahren zu einem Experten auf seinem Gebiet werden. Können ist auch aktives Lernen. Dieses wird nicht in Minuten oder Stunden gemessen, sondern in der Zahl der guten Versuche und Wiederholungen. Nur so kommt es zu neuen Verknüpfungen im Gehirn. Und das bedeutet: Lernen und wachsen und seine Fähigkeiten ausbauen!
Warum reicht Leidenschaft für ein echtes Miteinander im Fußball nicht aus?
Neben dem Leistungsprinzip als Auswahlkriterium und Flexibilität auf den Positionen spielt die charakterliche Eignung eines Spielers eine große Rolle, wenn es vor einem wichtigen Turnier um die Kaderzusammenstellung geht. Charaktereigenschaften und Werte wie Disziplin, Hartnäckigkeit, Ausdauer, Toleranz, Respekt spielen ebenso eine Rolle wie die klassischen Fußballtugenden Leidenschaft, Fairplay, Teamgeist und Siegeswillen. Das Reflektieren über das eigene Können ist genauso wichtig wie lebenslanges Lernen und der Umgang mit Rückschlägen. Und dann noch das: Frustrationstoleranz! Man bedenke, dass ein kompletter Fußballkader aus rund 25 Spielern besteht - doch 11 dürfen immer nur spielen.
Wann ist für Sie jemand ein Meister seines Fachs?
Es sind die fünf Schlüsselfaktoren guter Führung: professionelles Ethos, Expertenwissen, Kommunikation, Selbstführung und Beziehung plus Faktor X, hinter denen wiederum eine Vielzahl einzelner Fähigkeiten steckt. Konzept- und Professionswissen? Ja! Beziehung und Inspiration? Unbedingt! Es ist das Zwischenmenschliche, das Zuhören, Einfühlen und Kommunizieren, was Menschen wachsen lässt. Die Hochform: sich auf jeden Mitarbeiter einstellen, individuell fördern und fordern, sein Umfeld kennen und anerkennen und da sein, wenn es darauf ankommt. Wie sagte Sebastian Kehl, langjähriger Kapitän des BV Borussia 09: „Der Trainer kann noch so ein exzellenter Experte sein - hat er keine Beziehung zu dir, nimmt er dich auch nicht mit."
Ein Experte auf seinem Gebiet verfügt über Fachwissen, über ein breites Spektrum seines Spezialgebietes, gepaart mit einer guten Didaktik und Beratungskultur. Er hat ein klares Konzept und kann es verständlich vermitteln. Er verfügt über ein gutes Urteilungsvermögen und ist konsequent und mutig im Handeln. Als Persönlichkeit beherrscht er die Kunst der Selbstführung und Selbstregulation, vermittelt Werte, ist authentisch und handelt als Vorbild. Er ist ein Kommunikationsprofi, Menschenfreund und Visionär - ein lebenslanger Lerner. Diese Aufzählungen ließen sich noch beliebig fortsetzen.
In Ihrem Buch „One touch" dominieren die drei Buchstaben des Erfolgs: TUN. Ist Tun dasselbe wie Machen, dasselbe wie Verrichten oder Handeln?
Eine hochphilosophische Frage! Inhaltlich kann die Frage sicherlich mit „Ja" beantwortet werden. Die Sprache betreffend ist es eine Variation des Gleichen mit einer Wirkung auf ein Ziel hin. Der Ausspruch „Erfolg hat drei Buchstaben: T U N!" von Johann Wolfgang von Goethe ist klar, einfach und selbsterklärend mit hohem Aufforderungscharakter und leicht nachvollziehbar. Er reduziert die Komplexität von unzähligen Wahlmöglichkeiten des Handelns auf das Wesentliche - den ersten Schritt. „Simplify your life" ist ein Schlagwort, mit dem Ratgeber dem Menschen dabei helfen wollen, durch Komplexitätsreduktion glücklicher zu werden. Aufgrund vielfältiger Möglichkeiten, auch im digitalen Bereich, sind wir immer in Gefahr, uns zu verzetteln. Stichwort: Multitasking und Aktionismus. Aber viel auf einmal zu tun heißt am Ende, nichts richtig tun.
Wäre es stattdessen sinnvoll zu fragen: „Was möchte und kann ich wirklich?"
Ja, und sich auf das, was ich kann und was ich bin, zu konzentrieren und das unbedingt und vorbehaltlos zu tun - sich auf Tätigkeiten zu beschränken, die man erfüllen und ausfüllen kann. Zu telefonieren, ein erstes Treffen vereinbaren, den inneren Schweinehund überwinden, ins Handeln kommen, eine Entscheidung treffen... eben der Macher der Situation sein! Oder anders gesagt: Der Anfang einer Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt.
Zu den Personen:
Karin Helle war schon immer von der Fußballwelt begeistert. Als Rektorin leitete sie eine Grundschule in der Dortmunder Nordstadt im Brennpunkt, bis sie sich selbständig machte, um sich zu 100 Prozent auf den Fußball und das Coaching von Spielern, Trainern und Managern zu konzentrieren. Neben ihrem Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie bildete sie sich als Managementberaterin, Mentaltrainerin und Coach weiter - und coachte zunächst Unternehmer, Teams und Einzelpersonen.
Claus-Peter Niem wohnt in Dortmund und arbeitet als Lehrer sowie als Coach in der Lehrerfortbildung. Schon als Junge wurde er von seinem Onkel mit ins Stadion genommen - und war fortan vom Fußball begeistert. Während seines Studiums in den Bereichen Pädagogik, Psychologie und Soziologie beschäftigte er sich insbesondere mit der Fußballsozialgeschichte des Ruhrgebiets sowie Englands - und bereiste viele Stadien in ganz Europa.
Durch eine Begegnung im Jahr 1999 mit Spitzentrainern des Premier-League-Tabellenführers Aston Villa FC tauschen sich Karin Helle und Claus-Peter Niem seitdem gemeinsam mit vielen Führungskräften aus, arbeiten mit einzelnen Profitrainern sowie Profisportlern und Teams, unter anderem mit Jürgen Klinsmann, Jogi Löw, Sebastian Kehl, Christoph Metzelder, Hansi Flick oder Stefan Kuntz - getreu Ihres Mottos: „A great leader is a great teacher who is a lifelong learner!" Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören "Meine Fußballschule" (Loewe 2004), "Die Fußballakademie" (Loewe 2006), "Raus und Spielen" (4 Bände, Loewe 2006), „Spiel, Schuss und Tor - so wirst du ein Fußballprofi" (Duden 2010), Talente-Reihe "Camp Castle - entdecke deine Stärken!", Band 1: "Jojo kommt ins Team" (Velber 2013). Regelmäßige Veröffentlichungen auf www.fD21.de sowie in Fachzeitschriften (fussballtraining, fussballtraining-junior, Kommunikation heute etc.).
Weiterführende Informationen:
Claus-Peter Niem und Karin Helle: One touch. Was Führungskräfte vom Profifußball lernen können. Mit Einwürfen von Jürgen Klinsmann, Joachim Löw & Co. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016.
Claus-Peter Niem und Karin Helle: Vom Tun über das Können zur Meisterschaft. Wege zur Persönlichkeit. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.