Erinnerungen an Gunther Emmerlich: Interview mit Uwe Karte
„Manch wertvoller Moment wird im Leben unersetzbar“, schrieb der Autor, Filmemacher und Moderator Uwe Karte zum Abschied von Gunther Emmerlich auf Instagram, der am 19. Dezember 2023 in Dresden starb. Einen Tag später strahlte der MDR die letzte Sendung unter dem Titel: „Wenn Engel lachen“ aus. In der DDR war Gunther Emmerlich Ende der 1980er Jahre ein Superstar, dazu Multitalent, Sänger, Entertainer, aber eben auch ein sehr kluger, aufmerksamer, witziger und kritischer Gesprächspartner. Beide trafen sich zuletzt bei einem Benefizspiel der DDR-Oldies in Großröhrsdorf, nahe Dresden. Dort war die erst restaurierte Kirche durch einen verheerenden Brand zerstört worden. Gunther Emmerlich machte den Ehrenanstoß. Im Interview erzählt Uwe Karte über ihre Begegnungen und Projekte, die zugleich ein Stück deutscher Geschichte im Kleinen spiegeln. Zugleich zeichnet er ein beeindruckendes Bild des Menschenfreundes Gunther Emmerlich.
Singen, talken, ulken, und dabei auf Missstände hinweisen, kritisieren, das konnte kaum ein anderer mit so einer Leichtigkeit wie er. Der Applaus im Schloss Schönfeld war gerade verklungen und das Handgepäck bereits im Auto verstaut. So konnten wir die Heimfahrt starten. „Schön wars!“, jubilierte Gunther mit seinem unverwechselbar sonoren Bass, griff mit seiner Linken nach dem Gurt und fügte an: „Ob du es glaubst oder nicht, davor war ich aufgeregt wir selten zuvor!“ Dabei kam der Auftritt an einem Januarabend im gerade zu Ende gegangenen Jahr einem Heimspiel gleich. Mit seiner Gitarre saß er vor knapp 100 Besuchern im kleinen Schönfeld, 20 Kilometer vor Dresden. Er sang Pete Seegers „We shall overcome“, und längst sang das Publikum mit. Dazu bot er entzückende Episoden aus seinem Leben. Der gebürtige Thüringer plauderte über seine ersten Annäherungsversuche an das weibliche Geschlecht im Eisenberg der späten 1950er Jahre. Oder beschrieb, wie er 1975 in Dresden für drei Wochen in Untersuchungshaft landete, und warum Helmut Kohl am Tag nach dem Mauerfall im November 1989 die Mauer am liebsten wieder hochgezogen hätte.
Ich saß als Moderator neben ihm und durfte mich glücklich schätzen: Was für ein wundervoller Abend!
Unsere erste Begegnung war im Frühjahr 1992: Schulter an Schulter standen wir, eine bunte Mischung aus Nicht-Fußballern und ehemaligen Dynamo-Helden, auf dem Rasen des Rudolf-Harbig-Stadions Dresden, um das Vorspiel der letzten Heimpartie in Dynamos erster Bundesliga-Saison zu bestreiten. Die Dresdner hatten den Klassenerhalt bereits sicher, das sollte mit einem bunten Rahmenprogramm entsprechenden gefeiert werden. Als Vorbild dienten die legendären Stadion-Shows im Vorprogramm der Europapokal-Abende der Schwarz-Gelben. In der Saison 1988/89 klatschte und johlte das Publikum, als Gunther Emmerlich mit Opernsänger Theo Adam auf einem Tandem mit Wolfgang Lippert, Antje Garden oder anderen DDR-Prominenten auf der tiefen Aschenbahn um die Wette strampelten. Das Stadion in Dresden war traditionell schon Stunden vor dem Anpfiff einer Europapokal-Partie gefüllt, und die Anhänger fühlten sich mit dem unterhaltsamen Klamauk bestens eingestimmt. Ganz nebenbei sollten sich ihre Dynamos gegen den FC Aberdeen oder AS Rom in die Top 10 in Europa spielen.
Nun saßen wir also im Heiligtum, in der Mannschaftskabine im alten Rudolf-Harbig-Stadion. Hier regierte noch der spröde Charme der DDR. Messinghaken an der Wand, mittendrin ein Sprelacart-Tisch, darauf der Trikotkoffer und eine (!) gemeinsame Dusche für Heim- und Gästeteam. Kaum zu glauben, in diesem Ambiente hatte Dynamo mit Kirsten, Sammer und Co. noch im Mai 1990 die letzte Meisterschaft gefeiert.
Er ließ sich von dem spartanischen Ambiente nicht aus der Ruhe bringen und wollte zum Promi-Kick lediglich nicht mit kurzer Hose auflaufen und hütete deshalb freiwillig das Tor.
„Ach, wenn ich einmal reich wäre“, möglicherweise hatte diese Zeile aus dem Musical „Anatevka“, den Milchmann Tevje spielte Emmerlich über 700mal, auch falsche Erwartungen geweckt. In jedem Fall war die Transformation der Dresdner in einen bürgerlichen Verein, zu DDR-Zeiten war Dynamo strukturell ein Polizeisportverein, gründlich misslungen. Anfang 1993 stand der einstige Stolz des Fußball-Ostens vor dem Bankrott. „Herr Emmerlich, wissen Sie eigentlich, was bei Dynamo gespielt wird?“, hatte ich ihn damals gefragt, wie waren noch per Sie. Er lächelte nur: „In erster Linie Fußball! Aber sonst wird’s schwierig!“
Als Jugendlicher hatte er sich in Eisenberg beim Handball versucht, machte da schon nebenbei Musik, studierte dann Bauwesen, brach ab, studierte Operngesang in Weimar und kam schließlich 1972 nach Dresden. „In eine Stadt, die Fußball lebte, mit Haut und Haar. Spielte Dynamo, herrschte Ausnahmezustand“, beschrieb Emmerlich die Umstände. Die Jahreskarte von Dynamo Dresden galt im Elbtal als härteste Währung. Diese Tickets wurden vererbt und oft über Generationen weitergereicht. Dem Opernsänger wurde einmal sogar von Dynamos Meistertrainer geholfen: „Da habe ich von Walter Fritzsch persönlich Eintrittskarten für einen Europapokal-Auftritt erhalten“, erinnerte sich Emmerlich und wusste auch noch, dass er im Herbst 1973 den deutsch-deutsch Fußballgipfel gegen Bayern München verpasste. „Beim Spiel gegen die Bayern hatte ich keine Chance, weil in der Oper kurzfristig eine Probe angesetzt wurde. So war ich unabkömmlich. Erst später habe ich erfahren, dass das wohl kein Zufall war!“, sagte er.
Knapp 50 Jahre später legte er großen Wert auf die Feststellung: „Ich war kein Widerstandskämpfer, aber ich habe diesen Staat nicht direkt geliebt!“ Ein mitternächtlicher Konflikt mit einem Volkspolizisten endete für ihn 1975 mit drei Wochen Untersuchungshaft. „Keine besonders schöne Erfahrung“, erinnerte er sich und schilderte die Umstände: „Ich war über ein Absperrgitter gesprungen, um die letzte Straßenbahn zu erreichen. Die nächste wäre erst zwei Stunden später gefahren. Der Uniformierte holte mich aus der Straßenbahn, und da habe ich ihn beschimpft!“
Das ist ein Kapitel für sich. In den 1970er Jahren gehörte er zu einer vierköpfigen Skatrunde. Auch hier sollte er erst nach der Wende in der DDR erfahren, mit wem er wirklich am Tisch gesessen hatte: „Alle drei Mitspieler waren bei der Stasi! Das wusste ich natürlich nicht. Das Lustige ist aber, dass sie das untereinander auch nicht wussten. In meiner Akte habe ich in der Tat von jedem der drei über jeden Skatabend einen Bericht gefunden. Jeder hatte darauf einen anderen Blickwinkel.“ Seine Stasi-Akte umfasst 2.000 Seiten, insgesamt 36 IM´s hatten über ihn Berichte verfasst. „Eigentlich ist das Schnee von gestern. Aber ich wollte einfach wissen, wer es nicht war“, begründete Gunther, warum er die Akte einsehen wollte. „Über die Jahre hinweg hat man doch viele verdächtigt und vielleicht auch zu Unrecht verdächtigt.“
Sie war ein absoluter Straßenfeger, denn dieser Hüne konnte nicht nur singen! Da traute sich einer, Dinge zu sagen, die im DDR-Fernsehen bislang tabu gewesen waren. Für seine Mischung aus gewitzter Moderation und zeitkritischer Aufmüpfigkeit wurde Gunther Emmerlich in der ganzen Republik gefeiert. Unvergessen sein Satz als „Gigolo“ zum „Schokoladenmädchen“ Helga Hahnemann: „Wir sind hier nicht die einzige Fehlbesetzung!“ Die Sensibilität der DDR-Bürger fand er unübertroffen, wenn es darum ging, zwischen den Zeilen zu lesen. Und Gunther Emmerlich mochte es, Dinge zwischen den Zeilen sagen, weil es auf der Zeile eben nicht ging. Die „Showkolade“ war nämlich keine Live-Sendung, sie wurde aufgezeichnet. So fiel die eine oder andere, den Staatsoberen zu freche Pointe, der Zensur zum Opfer. „Das einzige Mittel, diese Stellen für das TV-Publikum auch sichtbar zu machen war, in Absprache mit dem Regisseur, der harte Schnitt“, erinnerte sich Gunther und durfte sich oft freuen: „Wenn ich Leute auf der Straße traf, die mich darauf ansprachen und dazu mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere andeuteten. Herr Emmerlich, da hamm die wohl wieder rumgeschnippelt?“
Ja, schon beim Einreichen der Sendemanuskripte rechneten sie mit der einen oder anderen Streichung, nannten diese Stellen „Porzellanfigur“. Ab und an, wie im Mai 1989, wurden sie überrascht. Die Sendung unmittelbar vor den Kommunalwahlen in der DDR kam aus Altenburg, der Heimatstadt eines beliebten TV-Kommissars im „Polizeiruf 110“. Dieser Oberleutnant Hübner wurde gespielt von Jürgen Frohriep. Ihn rief Emmerlich in seiner Anmoderation über ein Telefon mit Wählscheibe an und sagte: „Wir wählen eine Eins, dann wählen wir noch eine Eins und am Ende wählen wir alle die Null!“ Doch die Zensoren beließen diese „Porzellanfigur“ in der Sendung. Gunther Emmerlichs Vermutung: „Vielleicht hatten die den Gag gar nicht verstanden?“ Ein Jahr später, im Frühjahr 1990, teilte er bei „Guten Abend, Deutschland“ mit bundesdeutschen Showgrößen die Bühne. Oder besser gesagt, Thomas Gottschalk, Frank Elsner und all die anderen West-Stars der großen Unterhaltung teilten sie mit uns aus dem Osten“, relativierte Gunther im Blick zurück. Im Gespräch mit Frank Elsner bekam dieser eine heiße Schokolade spendiert, vor Emmerlich stand ein Glas Wasser und so merkte er an: „Das soll aber nicht die künftige Aufteilung bei Ost und West sein!“
Gut 30 Jahre später und durchaus auf beiden Seiten unterwegs gewesen, fühlte sich der „Botschafter des Ostens“ immer wieder ans Ost-West-Thema erinnert. Ein unüberhörbar aus Baden-Württemberg stammendes Ehepaar hat ihn mal in einem Hotel angesprochen und versucht, ein Kompliment zu machen: „Wir wollten ihn schon lange mal sagen, wir können sie gut leiden, obwohl sie aus dem Osten kommen!“
Vor dem Interview gab es Kaffee und Kuchen. Wir sprachen über die wilde Nachwende-Zeit im Osten, die Unwissenheit vieler, die dem freien Spiel der Kräfte nahezu hilflos ausgeliefert waren - auch oder gerade im Fußball. Dann ging es noch einmal um die Frage, warum er damals nicht als möglicher Dynamo-Präsident angetreten war: „Ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht, das könnte man mal machen. Was hab ich in meinem Leben gelernt und getan, um einen solchen Posten verantwortungsvoll übernehmen zu können? Nichts, gar nichts!“ Viele der damals handelnden Personen aber drängten geradezu auf die Bühne der Öffentlichkeit. Allen voran der aus Hessen stammende Bau-Unternehmer und spätere Dynamo-Präsident Rolf-Jürgen Otto, für viele das Paradebeispiel eines Glücksritters aus dem Westen. Gunther Emmerlich erinnerte sich an eine Diskussion im Kanzler-Bungalow, an der er teilnehmen durfte: „Helmut Kohl sagte: Am liebsten hätte ich am 10. November 89 eine Mauer vom Westen aus bauen lassen, um zu kontrollieren, welche Armleuchter da zu Euch wollen, und die größten hätte ich daran gehindert.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte Gunther: „Ich glaube, er hätte auch den Otto nicht rübergelassen!“
Er war ein ausgesprochener Ducke-Fan und längst zum guten Freund des „schwarzen Peter“ geworden. Ihnen gemein war der Freigeist in ihrem Fach. Ab und an ging Gunther aber auch fremd.
So wurde der Ehrenanstoß bei dem einen oder anderen Benefizspiel seine aktive Verbindung zum runden Leder. „Ich habe mir extra neue Schuhe gekauft“, raunte er mir im ostsächsischen Stolpen zu. Mal ging es um den Wiederaufbau einer ausgebrannten Kirche, mal um den sächsischen Feuerwehr-Nachwuchs. Da ließ sich Gunther Emmerlich nicht lange bitten. Als ihm Rainer Ernst bei einem Kick der Ehemaligen über den Weg lief, begrüßte er den 56-fachen DDR-Nationalspieler: „Sie waren doch mal blond!“ Der ehemalige Torjäger des BFC Dynamo entgegnete, um keine Antwort verlegen: „Ich konnte auch mal singen!“
Gunther aß für sein Leben gern und war auch einem guten Tropfen nicht abgeneigt. Einmal saß ich bei ihm in der Küche. Sein Lieblingsort in der „Villa Marie“ auf dem Weißen Hirsch. Vor mir ein Kaffee, er stand am Herd, den Kochlöffel in der Hand. Gulasch und Klöße sollte es geben. Dabei philosophierten wir über Gott und die Welt. Kaum jemand konnte die großen wie die kleinen Dinge des Lebens und der Politik so klug und zugleich heiter kommentieren wie er. 1992 hatte er seinen, eigentlich unkündbaren Vertrag als Ensemblemitglied der Semperoper selbst beendet. „Es war keine Entscheidung gegen das Haus, sondern eine Entscheidung für die Dinge, die ich noch machen wollte.“ Und was gab es da nicht alles zu tun: Heute ein Kirchenkonzert, morgen die TV-Aufzeichnung der Weihnachtssendung, dann einen Liederabend, eine Buchlesung, einen Auftritt mit seinem Swing-Quartett oder einen Jazz-Abend mit der Semper-House-Band, ein musikalisches Duett mit Eva Lind, Deborah Sasson oder Katrin Weber, dazwischen eine Verpflichtung als Weinbotschafter, der Besuch einer Talk-Show…
Jeden Auftritt, jeden Text lernen betrachtete er als eine Art persönliches Training. „Ob da oben noch Licht brennt. Noch aber habe ich diesbezüglich keine Sorgen“, lachte er und stippte mit dem Rührwerkzeug in Richtung Decke. „Gott sei Dank!“ Halbe Sachen mochte er noch nie und legte zudem großen Wert auf das Verhältnis von Vorbereitung und Improvisation: „Denn, Du kannst nur etwas aus dem Ärmel schütteln, wenn du weißt, dass da auch was drin ist!“
Der Opernsänger tanzte ein Leben lang zwischen den Welten. „Gibt es eigentlich irgendetwas, was du nicht kannst?“, fragte ich ihn. Gunther überlegte nicht lange: „Na gut, beim Tanzen lasse ich anderen gern den Vortritt!“ Seine Schlagfertigkeit krönte die unglaubliche Vielfalt seiner Aktivitäten. Natürlich wurde bei so einem Programm die Zeit für die Familie mitunter knapp. Dabei hatte er ja inzwischen zehn Enkelinnen sowie drei Ur-Enkel und fühlte sich als stolzer Großvater bzw. Ur-Großvater. „Warum hast du nie auf die Bremse getreten?“, wollte ich wissen. „Das hat mich mein Arzt auch schon gefragt!“, lachte Gunther und fragte zurück: „Soll ich zu Hause rumsitzen? Vielleicht auf dem Balkon oder im Sessel und dann? Ich habe das Gefühl, dass die Leute mich noch hören wollen. Was gibt es Schöneres! Aber, ich weiß, was du meinst. Zu meinem Beruf, wie ich ihn ausübe, gehört eben auch der gepackte Koffer. Mein Sohn begrüßte mich vor vielen Jahren mal im Flur mit der Frage: ‚Kommst du oder gehst du.‘ Das hat mir dann doch schon wehgetan!“
Gunther schüttelte auch hier kräftig aus dem Ärmel. Bei einem Ausschnitt aus der „Notenbank“ 1971, für ihn der erste Auftritt im Fernsehen überhaupt, wurde er sentimental: „Das ging ja schon in Richtung Jazz, kann man sich heute noch anhören!“ Den Spagat, ernste Töne einzuflechten, ohne die gute Stimmung im Saal zu verlieren, beherrschte Gunther nahezu perfekt. Er genoss jeden Auftritt, ohne dabei aber um jeden Preis im Mittelpunkt stehen zu müssen. Ihm hörte man einfach gern zu. Auf der Heimfahrt von Schönfeld beschrieb er dann auch den Ursprung seiner ungewöhnlichen Anspannung vor unserem Abend im Schloss. Eine schwere Bronchitis hatte sich bei ihm im Dezember 2022 zu einer RS-Virus-Grippe entwickelt. Gunther musste als Herzpatient mit Bypass ins Krankenhaus. Alle Termine wurden bis auf weiteres abgesagt. „Heute war also mein erster Auftritt nach vier Wochen Pause. Sieht man einmal von Corona ab, hatte es das in meinen 40 Bühnen-Jahren nie gegeben. Daher meine ungewöhnlich große Aufregung!“
Uwe Karte: www.uwekarte.de
„Geschichte erklärt anhand von Geschichten“. Interview mit Uwe Karte
Uwe Karte: Tagebuch für Walter Fritzsch (1920 -1997). Eine deutsche Biografie. Sportfrei Verlag, Dresden 2021.
Uwe Karte: STÜBNER - Popstar wider Willen. Sportfrei Verlag, 2. Auflage, Dresden 2024.