Führen Utopien uns an einen besseren Ort? - Pixabay

Erschöpfte Erde: Warum wir ohne Utopien nicht leben können

Laut den Berechnungen des Global Footprint Networks ist Earth Overshoot Day (Welterschöpfungstag) erneut weiter nach vorne gerückt. „Jeder lebt in seiner Echokammer, bedient seine Stakeholder. Im Zweifel sogar auf Kosten der anderen“, schreibt der Autor und Herausgeber Dr. Elmar Lenzen im Editorial seines UmweltDialog-Newsletters (31. Juli 2019). Da es keine gemeinsame Utopie gibt, „fragmentieren wir immer weiter. Durchsetzen tut sich der mit den stärksten Ellenbogen oder wer am lautesten schreit. Und nächstes Jahr rückt der Welterschöpfungstag wieder ein Stück weiter nach vorne im Kalender.“

Utopia - die bessere Welt

Irgendwo im Nirgendwo existiert eine bessere Welt, die das Unmögliche möglich macht, heißt es in Thomas Morus‘ Bestseller „Utopia“ (griech. eutopia: „guter Ort“, outopia: „nirgendwo“), der vor über 500 Jahren erschien. Das fantastische Stück Literatur, widmet sich dem Traum von einem Leben in Würde, Gerechtigkeit und Freiheit. Von Utopien wird heute kaum noch gesprochen, weil sie schon lange ihre Unschuld verloren haben, und es in unserer immer knapper werdenden Zeit vor allem darum geht, das Schlimmste zu verhindern. Dennoch: Ohne einen solchen Gegenpol der Verbesserung werden wir nicht hoffen und nachhaltig handeln können. Darauf verweist auch ein Briefband, der so viel mehr ist als nur ein Dokument deutscher Geschichte in Ost und West. Es ist ein Lebensbuch, das uns unsere eigenen Ängste, Zweifel, Kämpfe und Gedanken in einer Welt bewusst macht, die aus den Fugen geraten ist.

Die Briefe der Schriftstellerin Christa Wolf aus den Jahren 1952 bis 2011 wurden von Sabine Wolf herausgegeben, die das Literaturarchiv der Berliner Akademie der Künste leitet und den Nachlass der Schriftstellerin betreut, zu deren bekanntesten Büchern „Der geteilte Himmel”, „Nachdenken über Christa T.“ „Kindheitsmuster“ „Kassandra“ oder „Störfall“ gehören. Der Begriff Utopie zieht sich wie ein roter Faden durch die hier ausgewählten 483 Briefe (insgesamt befinden sich etwa 15.000 Briefe in ihrem Nachlass). „Über unsere Zeit wird es später mal keine Briefliteratur geben, weil keiner mehr Briefe schreibt”, meinte sie einmal. Doch es sind keine Relikte aus der vergangenen Zeit, sondern hochaktuelle Hoffnungsträger, die uns darin unterstützen, Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen, um uns „unverzagt“ auf die Zukunft und das Offene einzulassen.

Utopie hatte für sie immer mit ihrem Bemühen um eine bessere Welt zu tun, die für sie die einzige Lebensmöglichkeit war, das Schlimmste zu verhindern (an Lew Kopelew, 26. November 1977). Der Titel ihrer fiktiven Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ (1979) ist die genaue Übersetzung von „Utopia“. Im Interview mit ihrer Enkelin Jana Simon sprach sie darüber, dass sie in der DDR lernen musste, ohne Alternative zu leben, dass „weder hier noch dort gut ist“. Deshalb der Titel, der damals genau ihre Befindlichkeit zum Ausdruck brachte. Für Christa Wolf gab es keinen Ort, an dem sie sich geistig-politisch daheim fühlen konnte: „Wie oft war ich erschöpft, hatte Herzschmerzen, Bluthochdruck, ging ins Krankenhaus oder ins Sanatorium. Und was störte die so an unseren Hervorbringungen? Letzten Endes ihr utopischer Gehalt.“

Innere Klarheit im Denken

„Gehen oder bleiben” wurde für sie spätestens seit ihrem Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 zu einer zentralen Gewissens- und Lebensfrage: „Es wird so leer, man fängt an zu frieren.” Das Schreiben war für Christa Wolf, die immer in langen Zeiträumen dachte, auch ein moralischer Akt. Es verschaffte ihr zugleich eine innere Klarheit im Denken, das immer im Training bleiben muss. Talent reicht nie, um die Probleme der Gegenwart zu lösen, auch hier braucht es ein dauerndes Ringen um eine eigene Haltung und Ästhetik (bei Christa Wolf „das Unsagbare“), ständige Übung und Kontinuität, das Leben in einer bleibenden Form auszusprechen.

Ein Tag, an dem sie nicht am Manuskript arbeitete, kam ihr verloren vor. Dennoch bedauerte sie 1981 gegenüber Gabriele Wohmann: „Gerne hätte ich etwas von Dir, von Deinem Immer-schreiben-Können.“ Dass sie es manchmal nicht konnte, lag nicht zuletzt an der Spannung zwischen Denken und Tun: Sie wollte nie eine lebensfremde Intellektuelle, sondern der Welt und ihren Mitmenschen empathisch zugewandt sein.

Schon als Kind empfand sie tiefes Mitleid für andere. In ihrer Gegenwart durfte keine Geschichten erzählt werden, in denen Unrecht geschah. Dann begann sie sofort zu weinen. Das Germanistikstudium langweilte sie bald, und sie fragte sich, was sie eigentlich ein Leben lang über andere Bücher und Schriftsteller schreiben soll? Nach zwei Jahren Studium dachte sie, dass das doch kein Beruf sei. Auf alle Fälle hatte sie vor, einen lebendigen Umgang mit der Literatur und mit den Autoren zu pflegen. Das ist ihr nachhaltig gelungen, weil sie immer verbunden blieb mit den „zentralen Fragen der Zeit“. Sie brauchte die ständige Teilnahme an der Welt, um das Erlebte „aktiv zu halten“ (an Max Frisch 28. April 1976). Die einsame Zelle war nie etwas für sie. Dazu empfand sie die Dinge des Lebens als viel zu dringlich. Ihre Kritiker haben ihr vorgeworfen, dass sie sich mit der Beschreibung ihrer Stasiüberwachung in „Was bleibt“ als Märtyrerin darstellen wollte. Damit wurde ihr Unrecht getan, denn sie ging immer auch sehr selbstkritisch mit sich um.

An ihrer Person entzündete sich damals, was heute fast selbstverständlich ist: laute und unreflektierte Gegenreaktionen, die jede sachliche Auseinandersetzung übertönen. Gerade hier und jetzt macht es Sinn, uns an sie zu erinnern – an jemanden, dem alles Ideologische und Eindeutige fremd war: „Es ist eben nicht mehr schwarz und weiß, bei fast allem gibt es ein Für und Wider.“ Vor allem die Zwischentöne, das Graue empfand sie immer als viel spannender. Ihre Briefe sind ein Vermächtnis des „An Sich“. So lautet der Titel des Sonetts des Barockdichters Paul Flemming aus dem Jahre 1641. Christa Wolf konnte diese Zeilen auswendig. Sie zeigen uns, warum wir Utopien brauchen - und was wir noch hoffen können:

Tu, was getan muß sein, und eh man dir's gebeut.

Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.

Weiterführende Literatur:

  • Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011. Herausgegeben von Sabine Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.

  • Jana Simon: Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013.

  • Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

Artikelsammlung ansehen