Aus: Lee Shulman: Midcentury Memories. The Anonymous Project. TASCHEN Verlag, 2019. - The Anonymous Project/TASCHEN

Erschöpfte Zukunft: Darum boomt Nostalgie in Krisenzeiten

Ist die Zeit aus den Fugen?

Die Zukunft scheint ihre Strahlkraft verloren zu haben, denn sie ist längst nicht mehr das, was sie noch vor einigen Jahrzehnten war: ein glänzendes Versprechen. Sie ist „erschöpft worden durch den Ausbau der technischen Zivilisation, die einen ungebremsten Ressourcenabbau betreibt.“ Man kann sich auf die Zukunft nicht mehr so einfach verlassen, sondern muss etwas für sie tun im Sinne eines verantwortlichen, nachhaltigen Haushaltens: Sonst kann man nicht mehr sicher sein, „dass es sie für nachwachsende Generationen auch weiterhin gibt“, schreibt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in ihrem Buch „Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne“ (2013).

Seit den 1980-er Jahren scheint sich der Fokus von gegenwärtigen Zukunfts- zu gegenwärtigen Vergangenheitsvisionen verschoben zu haben, so Assmann. Nostalgie bringt sie vor allem mit der Generation X (geboren zwischen 1960 und 1980) in Verbindung. Untersuchungen aus den 1970-er Jahren belegen, dass wir besonders in Krisenzeiten zu Retro-Trends neigen, die mit Tätigkeiten wie nähen, stricken, gärtnern sowie Selbstversorgung einhergehen.

Aleida Assmann verweist auch auf das autobiographisch inspirierte Buch „Ortsgespräch“ von Florian Illies (geb. 1971), der u. a. durch seinen Bestseller „Generation Golf“ (2000) bekannt wurde und in „Ortsgespräch“ die Logik der Kompensationstheorie veranschaulicht. Das Buch erzählt von der nostalgischen Liebe zur deutschen Provinz. Die Heimatstadt ist hier ein Dritter Ort, der von der globalen Beschleunigung noch unberührt ist. Heimat-, Freundschafts-, Retro- und Nostalgiethemen erleben derzeit einen Boom, weil sie mit persönlichen Bindungen zu tun haben, Orientierung geben und Identität stiften. Zugleich sind sie ein Zugeständnis an einen langsameren, natürlichen Rhythmus in einer viel zu schnellen technisierten Welt.

Vom Wert der Lebensschnipsel

Der Begriff Nostalgie ist eine Kombination aus dem altgriechischen nóstos (Heimat) und álgos (Schmerz). Er bedeutet, dass wir an einer alten Wunde leiden: der Sehnsucht nach Vergangenheit und danach, sich wieder zu verbinden. Gerade an Feiertagen schwelgen Menschen gern in Erinnerungen und tauchen in die Vergangenheit ab, indem sie zum Beispiel in alten Fotoalben blättern. Das Buch „Midcentury Memories“ zeigt Schnappschüsse mit fremden Menschen: wo sie Urlaub machten, wie sie feierten, faule Tage am Pool, See oder Meer verbrachten oder heirateten. Zu sehen sind aber auch Büropartys oder Familienfeiern. Es werden allerdings weder die Namen der Fotografen und Porträtierten angegeben noch Daten und Orte, wie sie üblicherweise zur Kennzeichnung von Fotografien verwendet werden. Auch auf Hintergrundinformationen wurde bewusst verzichtet.

Auf eBay erwarb der Filmemacher Lee Shulman einen Satz Kodachrome-Kleinbilddias (anonyme Familienfotos) und war vom „Wert dieser Lebensschnipsel“ so berührt, dass er im Januar 2017 The Anonymous Project initiierte. Shulman und seine Assistentin, die Publizistin und Kuratorin Emmanuelle Halkin, haben über 700.000 Farbdias zusammengetragen und etwa 10.000 Bilder für ihre Sammlung herausdestilliert. Rund 200 davon sind im Buch zu finden. Die frühesten Aufnahmen stammen aus den späten 1930er-Jahren, die meisten jedoch aus den 1950ern bis 70ern – der Zeit des ersten Babybooms.

„Sich vorzustellen, welche Bedeutungen das gewesen sein mögen und welche verschollenen Gefühle oder Motive jemanden vor Jahrzehnten dazu bewogen haben, auf den Auslöser zu drücken, während ein alter Mann im Sessel sitzend schlief, ist der eigentliche Zweck des Anonymous Project“, schreibt Richard B. Woodward in seinem Essay „Kollektive Erinnerungen auf Kodachrome“. Das Buch mahnt nicht nur vor einem „drohenden Gedächtnisschwund“, sondern lädt auch dazu ein, „einzutreten in das Leben von Menschen, die wir nicht kennen – wie sie waren oder gewesen sein könnten.“ Es zeigt, dass Nostalgie auch wie ein Puffer wirken kann, der schlimme Stöße des Lebens abfedert.

Erfüllte Zeit

Das Thema Nostalgie findet ihren Ausdruck auch in den Markttrends unserer Zeit (Kunsthandwerk, Do-it-yourself-Bewegung, Wiederkehr der Eisenwaren). Dahinter steht vielfach der Drang nach einer handfesten Erfahrung von Arbeit, welche die Entfremdung zwischen dem Hersteller und seinem Produkt überwindet. In der Welt der Dinge zeigt sich diese Entwicklung beispielsweise in der steigenden Nachfrage nach Vinyl- oder Schellacktonträgern, in der Mode begeistert die Rockabilly Welle, auch edle Schreibgeräte feiern ein Comeback, ebenso das Notizbuch und Polaroid-Bilder, aber auch antike Möbel und Oldimer.

Claudia Silber, die beim Öko-Versender die Unternehmenskommunikation verantwortet und ebenfalls zur Generation X gehört, bringt noch einen anderen Aspekt in die Diskussion. Sie möchte nicht in die Vergangenheit zurück - im Gegenteil: „Ich möchte nicht mehr in den Zwanzigern sein! Ich begrüße technische Neuerungen und Errungenschaften, sehe aber auch deren negative Folgen - beispielsweise den Verlust der Sprache, der Gemeinschaft, der Gesellschaft sowie Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit durch mobile Geräte und soziale Netzwerke. Deswegen sind für mich die Momente nostalgisch, in denen ich mit einem Buch - und wohlgemerkt mit einem Buch und nicht mit einem E-Book-Reader - im Schatten eines Baumes sitze und lese.“

Unter dem Schwerpunkt „Nostalgie“ erschien anlässlich des 80. Geburtstags des ehemaligen Sozialministers CDU Norbert Blüm im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL (29/2015) der Artikel „Hallo, hier ist Norbert“. Hier zeigt sich, wie (inhalts)leer das Nostalgiethema auch sein kann: Blüm rief alle Personen an, die Deutschland geführt haben, als er noch kein Rentner war: von A wie Ackermann über Schröder bis Z wie Ziercke. „Die Vergangenheit umgibt ihn wie eine warme Decke“, heißt es. Ja, es sei doch schwer für ihn, damit zurechtzukommen, dass man in einem Moment „einer der meistgefragten Menschen Deutschlands“ ist und im nächsten ein Rentner. Kein Wort ist zu finden über die eigene Aufgabe im Leben und die Qualität menschlicher Beziehungen. Natürlich lieben wir es, in der Vergangenheit zu schwelgen und sie zuweilen auch zu verklären. Aber das „Weißt du noch, damals …?“ allein macht nicht glücklich, sondern auch die Erfahrung der Nachhaltigkeit im eigenen Leben und der Gegenwart als einer wertvollen, erfüllten Zeit.

Weiterführende Informationen:

Lee Shulman: Midcentury Memories. The Anonymous Project. Edited by Reuel Golden. Essay by Richard B. Woodward (Deutsch, Englisch, Französisch). TASCHEN Verlag, Köln 2019.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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