Erweitert euren Horizont! Warum agile Theorien nicht ausreichen
Wer sich mit dem Thema Agilität auseinandersetzen möchte, könnte sich bis zu seinem Lebensende in einer Zelle einschließen lassen und lesen, lesen, lesen. Nur unterbrochen von der täglichen Ration neuer Veröffentlichungen, hineingeschoben durch die Essensluke in der Tür. Auch ich habe zu diesem Berg an Literatur beigetragen, habe acht Bücher zum Thema Scrum, agile Organisationen, Change Management und Führung geschrieben. Ich verfasse ständig Artikel über agile HR, agile Führung oder über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Scrum und Kanban. Soviel dazu.
Einer dieser Zelleninsassen war ich übrigens: Als ich der erste Certified Scrum Trainer (2004) wurde, dann meine Firma gegründet und tausenden Menschen von Scrum erzählt habe, habe ich mich tagein tagaus mit Agilität beschäftigt: Lean, Agile, TOC, UX Design, Design Thinking, OE und Neurowissenschaften – und natürlich alles von Simon Sinek und all den anderen Gurus. Kaum ist ein Buch zur Agilität, Organisationsentwicklung oder anderen Business-Themen erschienen, kommt schon die nächste Empfehlung. Ich kam – und komme – aus dem Lesen gar nicht mehr heraus.
Doch damit entsteht eine paradoxe Situation: Je mehr Wissen wir uns über das Thema Agilität aneignen, desto mehr glauben wir darüber zu wissen. Doch Agilität ist im ursprünglichen Sinne als Wendigkeit/Gewandtheit definiert. Und genau die verkümmert immer stärker je mehr wir uns nahezu ausschließlich einem Thema widmen. Denn genau wie die Zelleninsassen den Freigang benötigen, braucht unser Hirn neue Impulse von außen. Fehlen diese, bleiben Innovationen auf der Strecke. In der Agile Community werden Innovationen beispielsweise nicht dadurch entstehen, dass wir besser als die Six-Sigma-Experten erklären können, wie TOC funktioniert oder schlauer als jeder Anthropologe etwas zu Teal Organizations sagen können. Und es ist auch völlig unerheblich, ob man besser elektronisch oder mit Sticky Notes dokumentiert, wie man ein Taskboard nutzt, bzw. ob man das Spotify-Modell oder eher LeSS implementieren sollte. Vielmehr müssen wir unsere sogenannte „Echo Chamber“, die Filterblase, verlassen und auch über andere Themen nachdenken.
Die Idee von Scrum ist es, im engeren Sinne wirtschaftliche im weiteren ethische und gesellschaftliche Probleme zu lösen. Doch wer sich immer wieder aufs Neue auf unterschiedlichste Unternehmenskulturen einlässt, benötigt im ersten Schritt ein umfassendes Verständnis darüber, was diese bewegt, wie sie ticken und wo Stolpersteine liegen. Das wird man sich kaum über noch so viele Fachbücher anlesen können, sondern gelingt nur mit echter Lebenserfahrung und universeller Bildung. Doch dafür muss man zunächst seine Consultant-Komfortzone verlassen – mental und auch physisch.
Manchmal braucht es dafür ein Schlüsselerlebnis. Meines war die Geburt meiner Tochter. Seitdem beschäftige ich mich wieder und mehr mit dem großen Ganzen – Ökonomie, Politik und Umweltschutz. Nun ist es beileibe nicht so, dass allein das Vater werden einen zu einem gebildeten, universelleren Consultant macht. Wesentlich prägt der Alltag – und hier vor allem die individuelle Freizeitgestaltung. Die zu überdenken lohnt manchmal. Weil wir hierüber enorme Impulse für unser Leben grundsätzlich bekommen können. Zum Beispiel so:
Reisezeiten sind Lesezeiten. Ich lese sehr viel und nun seit längerem eben keine agile Literatur mehr, sondern Bücher über Kinder, Zelten, Wirtschaft und Kreativität. Meine Favoriten sind:
Stefanie Mohsennia, Schulfrei: Lernen ohne Grenzen … Schule ist ineffizient. Dieses Buch zeigt Familien, die ihre Kinder gar nicht in die Schulen schicken. Tolle Beispiele.
Torbjørn Ekelund, Im Wald — Kleine Fluchten für das ganze Jahr. Ein tolles Buch. Zwölf Mal im Jahr für 18 Stunden raus und draußen übernachten.
Gunnar Fehlau, Rad und Raus: Alles für Micro Adventure und Bike Packing. Das ist mal eine Idee, einfach losfahren und etwas anders tun
Wigald Boning, Im Zelt - von einem der auszog, um draußen zu schlafen. Ein Experiment. Der Schauspieler kauft sich ein Zelt und schläft für Monate jede Nacht im Freien. Lebt dabei sein Leben weiter.
Jesper Juul, Wem gehören unsere Kinder. Kinder sollten nicht vom Staat okkupiert werden. Sie gehören nicht in die Institutionen.
André Stern, Werde was du warst - Manifest für die Ökologie der Kindheit. Genial. Lesen.
Stephan Schulmeister, Der Weg zur Prosperität. Schwere Kost, doch eine andere Möglichkeit die Wirtschaft zu strukturieren.
Jean Ziegler, Der Schmale Grad der Hoffnung. Katastrophal, was Ziegler beschreibt. Man verliert jede Illusion.
Jan Bremer, Us vs. Them, The Failure of Globalism. Heftig. Die Mechanismen sind so simpel.
Mark Stevenson, An Optimists Tour of the Future — wir haben viele, sehr viele Dinge zu erwarten. Öl aus der Luft und vieles mehr.
Green Giants, How Smart Companies Turn Sustainability. Wirtschaftlicher Erfolg kann auch ganz anders funktionieren.
Filme und Serien – Ins Kino gehe ich so gut wie nie. Den ein oder anderen Blockbuster schaue ich mir an. Stattdessen nutze ich lieber Netflix und Youtube. Die besten Ideen kommen aus Filmen wie:
Alphabet, ein Film über die Bildung und die Misere derselben. Die Doku zeigt anschaulich, wie fatal das Rennen durch den PISA-Quatsch geworden ist.
Die Serie Suits zeigt schön, wie Professional Service Firms von innen aussehen.
Aber auch weniger anspruchsvolle Serien wie Timeless, in der ein Historikerin einem Zeitreisenden hinterher jagt um zu verhindern, dass sich die Geschichte ändert. Hier lernt man etwas über die amerikanische Geschichte - ganz nebenbei.
Unbedingt ansehen auf Netflix: Chef's Table. Eine tolle Serie, die zeigt, wie Chefköche ihre Karriere gemacht haben.
Reisen — Ich habe das große Glück, durch meinen Job viele Ort sehen zu können. Entscheidend ist, dass man vor Ort Menschen kennen lernt. Mischt Euch unter die Leute, statt Euch nach langen Meetings im Hotelzimmer einzuschließen. Aber auch Wochenend-Trips in die ein oder andere Stadt machen dann Sinn, wenn es nicht darum geht möglichst viel zu sehen, sondern sich eine Sache wirklich anzuschauen. Wir sind zum Beispiel in Stockholm im Nobelmuseum gewesen und haben uns die Wasa angeschaut. Diese Stunden waren wirklich wertvoll.
Freundeskreis – pflegt Euren Freundeskreis und unternehmt etwas miteinander. Fahrt gemeinsam weg oder noch besser geht auf Abenteuer, tauscht Euch aus. Andere Blickwinkel spornen dazu an, die eigene Meinung zu reflektieren.
Sport – Nicht vernachlässigen oder am besten in den Alltag integrieren. Ich fahre derzeit wieder mehr Rad. Zuvor habe ich mit Crossfit experimentiert und, und, und. Einige von uns sind zum Beispiel begeisterte Jogger. Macht immer mal etwas Neues. Jedes Jahr einen eine neue Sportart, das wäre doch was.
Nur eines muss man für diese Aktivitäten mitbringen: echte Neugierde.