Freiräume gegen die Flucht aus der Pflege. So geht Veränderung zum internationalen Tag der Pflege
Der internationale Tag der Pflege am 12. Mai – ein Grund zum Feiern? Er sollte vor allem Anstoß zur Veränderung geben. Die Probleme sind haushoch. Umso mehr überraschen die drei positiven Beispiele mit ihrer Einfachheit.
Seit 1977 kürt die Gesellschaft für deutsche Sprache jährlich eine Top 10 der Wörter, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich bestimmt haben. Auf Platz drei stand 2021 der Pflexit, dramatisch kombiniert aus Pflege und Exit, also der Flucht aus Pflegeberufen aufgrund katastrophaler Arbeitsbedingungen.
Platz 1 der Krankenstatistik
Mit rund einer Millionen Beschäftigten sind Pflegekräfte die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen – und auch die gefährdetste. Sie stehen auf Platz Eins der Krankenstatistik. Im Jahr 2020 lagen sie mit 21,1 Tagen Krankschreibung deutlich über dem Durchschnitt von 12,9 Fehltagen. Das liegt vor allem an ihrer hohen psychischen und physischen Arbeitsbelastung. Die Folge sind häufige Muskel-Skelett-Erkrankungen sowie psychische Erkrankungen.
„Ich habe während der Schicht nicht getrunken – so musste ich nicht zur Toilette“, berichtet eine Pflegekraft.
2021 kündigten am Uniklinik in Marburg 15 von 16 Pflegekräften gleichzeitig wegen der schlechten Arbeitsbedingungen.
Unzumutbare Arbeitsbedingungen
Hauptgründe für den Pflexit sind Überlastung und unzumutbare Arbeitsbedingungen. Trotz jahrzehntelanger Berichterstattung über die Missstände hat sich die Lage auch 2022 nicht verbessert. Weiterhin funktioniert das System nur auf Kosten der chronisch überlasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Daher ist der Pflexit nur konsequent.
„Jede vierte Pflegekraft will den Job wechseln. Laut einer Umfrage suchen viele Pflegekräfte wegen Überlastung und schlechter Bezahlung nach einer neuen Stelle. Vor allem jüngere wollen die Branche sogar ganz verlassen.“
Auch Ärztinnen und Ärzte leiden im Krankenhaus unter der hohen Arbeitsbelastung. Eine Umfrage unter 3.300 Krankenhausmedizinern ergab, dass sich 60 Prozent von ihnen zunehmend und 31 Prozent immer erschöpft fühlen. Ein Fünftel dieser plante eine berufliche Zukunft außerhalb des Krankenhauses.
71.300 neue Auszubildende in der Pflege
Immerhin steigen die Zahlen der Auszubildenden. 2019 haben 71.300 Menschen eine Ausbildung im Pflegebereich begonnen, 39 Prozent mehr als 2009. Gut die Hälfte davon lernt Altenpflege. Sogar im ersten Corona-Jahr 2020 stieg die Zahl der Auszubildenden in Pflegeberufen. Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Tatsächlich gibt es einen Haken: 30 Prozent der Azubis brechen ihre Ausbildung wieder ab. Andere junge Talente kündigen kurz nach dem Abschluss.
Eine der besten Nachwuchs-Pflegekräfte ihres Jahrgangs kündigte ihren Job kurz nach Beendigung ihrer Ausbildung. Die dauerhafte Überlastung hat sie aus ihrem Traumjob gedrängt. Nachts ständig aufzuwachen und weinend von der Arbeit zu kommen, zeigte ihr, dass die Belastung zu hoch war.
Der Personalschlüssel überfordert
Ein Kernproblem in der Pflege ist der unhaltbar hohe Personalschlüssel. 2019 zeigte eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, dass Deutschland im internationalen Vergleich schlecht wegkommt: Während sich in Deutschland sich eine Pflegekraft im Schnitt um 13 kranke Menschen kümmern muss, sind es in Großbritannien 8,6 und in den Niederlanden 6,9. Ein besserer Personalschlüssel würde die Zufriedenheit erhöhen, denn nur so können Pflegekräfte professionell arbeiten.
Im Herbst 2021 streikten Pflegekräfte der Berliner Charité mehrere Wochen lang. Eine streikende Pflegerin: „Wir streiken hier nicht, weil wir mehr Geld haben wollen, sondern weil wir nicht mehr können. Das deutsche Gesundheitssystem ist am Ende.“
Internationale Konzerne und Finanzinteressen
Warum hat bisher niemand neue Spielregeln durchsetzen können? Der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Frank Montgomery, sagte 2019: „Inzwischen versuchen alle durch eine Steigerung der Arbeitsbelastung mehr Arbeit aus ihren Mitarbeitern herauszuholen, um damit Geld zu sparen oder Gewinne einzufahren.“ Nach dieser Sichtweise steigert jede unbesetzte Stelle die Rendite. Die Leidtragenden sind alle, die in diesem System arbeiten.
Gesundheit braucht Raum und Zeit, gerade auch bei den Menschen, die für die Gesundheit anderer arbeiten. Würde die Gier im Management der Krankenhaus-Konzerne gestrichen werden, gäbe es gesündere Pflegekräfte – und genug Nachwuchs.
Immer mehr Krankenhäuser gehören zu internationalen Konzernen. Und internationale Finanzinvestoren haben auch Hunderte Augenarztpraxen in Deutschland gekauft.
Dass Arbeit in der Pflege gemeinschaftlicher und handlungsfähiger geht, zeigen drei Modelle:
Das Krankenhaus gehört den Beschäftigten
1. An der Spremberger Krankenhausgesellschaft besitzen die Beschäftigten seit 1997 über einen Förderverein die Mehrheit von 51 Prozent. 49 Prozent gehören der Stadt. Die Vereinsmitglieder achten auf Wirtschaftlichkeit, aber auch auf gute Arbeitsbedingungen. Der bundesweite Personalschlüssel wurde ersetzt. Nun werden sechs bis sieben Patientinnen und Patienten pro Pflegekraft betreut. Dies ermöglicht eine würdevolle Arbeit. In Spremberg gibt es auch keine Angst vor Umstrukturierung, denn alle Vereinsmitglieder entscheiden, wie sich die Strukturen der Krankenhausgesellschaft entwickeln sollen.
Drei Tage garantierte Freizeit
2. Am Karolinska-Universitätskrankenhaus in Stockholm, am Universitätsklinikum Linköping sowie in schwedischen Reha-Kliniken und Pflegeheimen wurde das 3+3-Modell erprobt. Diese Formel bedeutet: drei Tage arbeiten, drei Tage frei. Die Arbeitszeit wird durch diesen Rhythmus auf 85 Prozent reduziert, die Vergütung bleibt dieselbe. Ein weiterer Vorteil: Es herrscht Planungssicherheit. Pflegekräfte müssen nicht ständig einspringen, Erholung ist garantiert. Das schwedische Modell vereinfacht die Planung und reduziert Stress wirksam. Und was sagen die Controller? Weil die Kosten für Krankheitstage um über 40 Prozent gesunken sind, sind auch sie zufrieden. Zudem profitiert der Arbeitgeber davon, dass nur noch wenig Fluktuation herrscht. Teure Recruiting-Kosten können reduziert werden.
Es ist so einfach wie logisch: Beschäftigte mit einem kürzeren Tag sind motivierter und fehlen seltener; sie haben weniger Rückenschmerzen und Herzbeschwerden. Die zusätzliche Freizeit wird für gesundheitsförderndes Verhalten wie Sport und regelmäßige Bewegung genutzt, die wiederum der Leistungsfähigkeit zugutekommt.
15.000 Pflegekräfte selbst organisiert
3. Der Unternehmer Jos de Blok startee 2006 in der ambulanten Pflege eine völlig neue Organisationsform. Mit vier Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen startete er Buurtzorg. Heute arbeiten 15.000 Pflegekräfte mit ihm, und seine Firma wurde mehrfach als bester Arbeitgeber der Niederlande ausgezeichnet. Buurtzorg kann messbare Erfolge vorweisen: Die Patientinnen und Patienten werden schneller gesund und die Pflegekräfte werden seltener krank. Das bedeutet weniger Kosten für Staat und Krankenkassen und mehr Geld für Innovationen.
Wie ist das möglich? Jos de Blok hat das gängige Modell der festen, vom Management vorgegebenen Zeitpläne infrage gestellt. Er lässt die Pflegefachkräfte ihre eigenen Zeitpläne erstellen. Daraus folgte eine weitere Frage: Was macht dann das Management? Nichts! Also streicht Jos de Blok das Management komplett. Die 15.000 Pflegekräfte planen in kleinen regionalen Teams ihre Arbeit selbst. Das bietet ihnen Spielräume für spontane Entscheidungen und Anpassungen an Unvorhergesehenes. 50 Angestellte in der Verwaltung und eine selbst entwickelte Software unterstützen die Pflege-Teams und vereinfachen ihre Arbeit tatsächlich – statt wie so oft nur für noch mehr Aufwand zu sorgen.
Funktionieren diese Änderungen überall? Nein! Warum auch? Zu dieser Firma passt es.
Überrascht? Gestrichenes Management vereinfacht die Organisation für 15.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einer Organisation für ambulante Pflege. Wenn das möglich ist – was kann dann noch alles umgesetzt werden?
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