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Westend Verlag

„Für Geschenkmomente offenbleiben“: Interview mit Matthias Struth

Matthias Struth ist katholischer Priester. Er hat eine Ausbildung in der Krankenpflege sowie Religionspädagogik und katholische Theologie studiert und war zehn Jahre Gemeindepfarrer im Osten Wiesbadens. Seit 2013 ist er in der Krankenhausseelsorge an der Universitätsmedizin Frankfurt tätig. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Seelsorge auf chirurgischen Intensivstationen und priesterliche Dienste im gesamten Klinikum. Er hat sich zum Ethikberater im Gesundheitswesen qualifiziert und bildet Ehrenamtliche für die Mitarbeit in der Seelsorge aus. An der Goetheuniversität promoviert er zu medizinethischen Fragen am Lebensende. Als Zelebrant ist er zudem in der Liebfrauenkirche, am Frankfurter Dom und anderen katholischen Gemeinden Frankfurts zu Gast und wirkt bei Gedenkfeiern für Körperspender wie auch den ökumenischen Gedenkgottesdiensten für an Aids Verstorbene mit. Kürzlich erschien sein Buch „Letzte Fragen. Was Sterbende wissen wollen“.

Der Wunsch des Westend Verlags war der Startschuss zu dem Buchprojekt. Im Grunde veröffentlicht der Verlag eher politische und wirtschaftliche Literatur. Es war die Idee, dies auch um ein spirituelles Projekt zu bereichern. Auf einem Teilabschnitt des Jakobsweges, den ich im Sommer 2023 durchs spanische Baskenland gepilgert bin, habe ich mir dann Gedanken zum Buchprojekt gemacht. Dort sind die Texte entstanden. Eine Erkenntnis, die mir dabei gekommen ist, war die Feststellung, dass das, was für uns Seelsorgerinnen und Seelsorger Alltag ist, für die meisten Menschen unbekannt bleibt, weil Seelsorge im geschützten Rahmen geschieht. Damit entstand das Vorhaben, interessierte Menschen durch die Texte mit hineinzunehmen in Begegnungen in der Seelsorge im Krankenhaus. Drei Seelsorgeinterviews die wir im Anschluss geführt haben, bereichern das Berichten der Seelsorgeerfahrungen.

Ich bin mir nicht sicher, dass die Beschäftigung mit dem Tod wirklich ein Tabu ist. Ich vermute, dass wir Menschen gerne leben und uns nicht so gern mit unserer Sterblichkeit auseinandersetzen. Gleichzeitig geschieht es eben doch. Jeder von uns wird sich seine Gedanken um das eigene Sterben machen. Die meisten von machen dies mit sich selbst aus. Vielleicht ist es eher ein Tabu, mit anderen Menschen über deren Tod zu sprechen. Ich vermute, dass wir dies ungern tun, weil wir dann das Gefühl haben, deren Tod – wie man sagt – zu beschreien. Wenn wir anderen gegenüber von unseren eigenen Gedanken zu unserem Sterben sprechen, erhalten wir meist die Antwort: „Darüber wollen wir noch lange nicht nachdenken.“ Vielleicht geht es uns selbst so, wenn liebe Menschen mit uns darüber sprechen, dass uns das unangenehm ist. Dabei ist wohl gerade eine rechtzeitige Kommunikation darüber zugleich auch befreiend, weil wir dann voneinander erfahren, was den anderen bedrückt oder erfreut.

Vor allem aktuell in der Situation als Klinikseelsorger, dass ich Zeit habe - und diese Zeit ins Gespräch mit den Patienten und ihren Angehörigen mitbringe. Vor kurzem wurde ich in einem Interview gefragt, ob ich bei der Klinik angestellt bin - ich antwortete, dass ich nicht „angestellt“ bin, sondern von meinem Dienstgeber „freigestellt“ bin, ganz und gar für die Seelsorge da zu sein. Kolleginnen haben mir nach dem Interview bestätigt, dass dies auch ihr Empfinden ist: Wir sind freigestellt, Menschen in ihren Lebenslagen (das ist vor allem im Krankenhaus die Lebenslage der Krankheit) zu begleiten. Viele Krankheiten können geheilt oder medikamentös eingestellt werden. Einige Krankheiten führen zum Tod. Auch dann begleiten wir Patienten und ihre Angehörige, wenn es für sie eine Bereicherung ist.

Seelsorge ist im Grunde zunächst ein absichtsloses Angebot. Natürlich verfolgen wir ein Ziel, nämlich Menschen zu begleiten – ihnen zur Seite zu stehen. Damit ist aber keine bestimmte Absicht verbunden, z. B. den einzelnen zum Glauben zu führen (das wäre „Missionieren“) - gerade das verfolgen wir nicht. Unser Seelsorgegegenüber bestimmt, was es in der Begleitung braucht. Um diesem Wunsch des absichtslosen Angebots nachzukommen, ist die Seelsorge im Grunde zunächst unaufdringlich und zurückhaltend. Wenn wir Kontakt zu Menschen aufbauen, dann stellen wir uns vor und sagen z. B.: „Ich wollte mal nach Ihnen schauen.“ Dann entsteht etwas, z. B. ein Gespräch oder vielleicht sogar eine Begleitung. Auch dann, wenn z. B. eine Patientin den Seelsorger „wegschickt“, war dies vielleicht Seelsorge, weil sie an diesem Tag im Alltag des Krankenhausgeschehens zum ersten Mal jemanden „wegschicken“ konnte. Im Krankenhaus geschieht jeden Tag an den Patienten so viel Übernahme von Verantwortung von anderen. Angefangen von der Reinigungsfachkraft bis hin zum Chefarzt übernehmen andere Menschen Verantwortung für die Patientinnen und Patienten. Deshalb ist es uns wichtig, dass gerade eine Brückenfunktion der empathischen Kommunikation nicht aufgezwungen wird, sondern in diesem besagten absichtslosen Angebot bleibt. Viele Beteiligte im Krankenhausalltag wissen gar nicht, was in den Seelsorgegesprächen geschieht. Diese finden im geschützten Rahmen statt. Daher gibt es viele zum Teil fälschliche Vermutungen. Einmal hat einmal ein Krankenpfleger zu mir gesagt: „An meinen Patienten lasse ich sie nicht heran!“ Unabhängig, dass dies schon sehr besitzergreifend ist („mein Patient“) gibt es viele Gegenbeispiele. Nach einer Einheit zur Seelsorge im palliativen Kontext bei der Pflegeweiterbildung sagte beispielsweise ein Krankenpfleger: „Jetzt, wo ich weiß, was im Seelsorgegespräch geschieht, werde ich Sie bestimmt öfter rufen.“

In dem Buch gehe ich nicht auf den Begriff ein. Doch ist es uns in der Seelsorge wichtig, dass wir in diesem zuvor benannten absichtslosen Angebot bei den Patienten zu Gast sind. Wir sind Fremde und zugleich auch Gast und Freund, wenn es vom Einzelnen gewünscht wird. Wie unser Umgehen als Seelsorgerinnen und Seelsorger mit diesem Gaststatus geschieht, versuche ich in meinem Erzählen von konkreten Seelsorgebegegnungen auszudrücken.

Das Zuhören hat eine zentrale Bedeutung. Ich möchte den Begriff gerne erweitern in „Zuhören und Verstehen“. Nach den Grundhaltungen zur Gesprächsführung von Carl Rogers sind auch für die seelsorgliche Gesprächsführung Empathie, Wohlwollen und Wahrhaftigkeit grundlegend. Oft werde ich gefragt, was ich denn den Patienten auf ihre Fragen antworte – was ich ihnen zu sagen habe. Ich glaube, dass unser Dienst nicht das Beantworten von Fragen und das Belehren ist, sondern viel eher das Zuhören und damit verbunden das Verstehen. Das Erzählen (damit verbunden: „Erzählen-können“ bzw. „Erhählen-dürfen“) z. B. über das Leben, aber auch die Krankheit ist wichtiges Medium in der Seelsorge.

Ich glaube, dass Trauer und Freude keine Gegenteile sind. In der Trauer gibt es viele Momente der Freude. Trauer hat unterschiedliche Phasen. Im Seelsorgegespräch hat das sogenannte biographische Erzählen eine große Bedeutung. Patienten und ihre Angehörigen erzählen uns viel von ihrem Leben und im Erzählen werden die Erfahrungen wieder lebendig, dabei wird viel gelacht und oft auch geweint.

In beiden Worten „Seelsorge“ und „Fürsorge“ steckt das Wort „Sorge“. Dieses Wort hat für uns in der Begleitung eine sehr große Bedeutung. Wobei es nicht darum geht, sich um den anderen Sorgen zu machen und ihn durch unsere Fürsorge zu entmündigen. Der Respekt vor der Autonomie des Einzelnen ist ein Leitmaß für rechte Fürsorge. Gerade das Aufdecken von Machtmissbrauch (sexueller Missbrauch ist nur eine Form von Machtmissbrauch) auch in der Seelsorge hat deutlich gemacht, dass dann die Fürsorge zur Eigensorge wurde. Fürsorge in der Seelsorge bedeutet dann, zu erkennen, was der Einzelne in der Begleitung braucht. Zuvor benanntes Hören und Verstehen sind die Basis dafür. Der Vertrauensverlust in die Kirchen kommt sicherlich vorrangig aufgrund des Entsetzens zustande, weil das große Grundvertrauen, dass hier wahre Fürsorge geschieht, enttäuscht, ja gar zerstört wurde.

Ich möchte die Frage nicht in der Vergangenheitsform beantworten, da ich ständig weiter lerne. Ich vermute, dass ich mit meinem Tod erst aufhöre zu lernen, wobei ich zugleich daran glaube, dass ich dann das Leben erst richtig kennen lerne. Vor allem lerne ich täglich neu in der Begegnung mit den vielen kranken Menschen, dass ich im Grunde ein „Verschonter“ bin. Bis auf kleine Wehwehchen hatte ich bisher in meinem Leben keine großen Erkrankungen. Auf die meisten Patienten kam die Krankheit von heute auf morgen zu. Bisher bin ich von Kranksein verschont. Wenn es gut geht, wird dies vielleicht bis zu meinem Sterben so bleiben. Diese Erkenntnis macht mich jeden Tag dankbar für die vielen schönen Momente, die ich erleben darf. Mich hat einmal ein Patient gelehrt, was er als Luxus empfindet: „sich selbst duschen zu können.“ Wie viele solcher Luxusmomente erlebe ich jeden Tag und wenn ich die Achtsamkeit dafür verliere, gebe ich der Dankbarkeit in meinem Leben wenig Raum. Diese Dankbarkeit lerne ich jeden Tag aufs Neue für mein eigenes Leben.

Ich verstehe die Frage nun so, dass die Antwort auf mich bezogen ist. Damit möchte ich nicht sagen, was für andere ein gutes Leben und Sterben ist. Ich glaube, dass dies jeder für sich selbst erkennen muss. Auch denke ich, dass meine jetzige Antwort eine Momentaufnahme ist. Vielleicht würde ich morgen schon ganz anders antworten. Ein gutes Leben macht für mich ein Leben, eingebunden in eine tragende Gemeinschaft, aus. Familie und Freunde sind da ein tragendes Fundament. Mein christlicher Glaube gehört zu diesem Fundament dazu, so wie ich Kirche als einen Teil meiner Familie bezeichnen möchte. Eine gute Verbindung zur Schöpfung gehört für mich zu einem guten Leben. Ich bin gerne und viel unterwegs in Gottes schöner Natur. Zu einem guten Sterben macht für mich aus, dass ich es bewusst erlebe, dass ich es nicht verdränge, und damit der Tod irgendwann über mich kommt. Da in den lateinischen Sprachen Tod weiblich ist (z. B. la morte im Italienischen) bezeichne ich gerne wie der Heilige Franziskus den Tod als Schwester Tod. So habe ich für mich das Bild geprägt, dass Schwester Tod mich seit meiner Geburt begleitet. Meine Sterblichkeit ist immer da. Natürlich habe ich aufgrund meines christlichen Glaubens die Hoffnung, dass am Ende meines Sterbens die Schwester Tod mich loslassen muss.

Ich glaube, dass - weil Sterbende Lebende sind - sie es nicht schaffen, „stets“ offen und durchlässig dafür zu sein. Doch kann es uns als Lebende gelingen, wenn wir uns bewusst werden, dass wir im zuvor benannten Sinne seit unserer Geburt zugleich Sterbende sind, immer wieder Momente der Offenheit dafür zu schaffen, dass das Sterben auf uns zukommt.

Für mich macht das Lied so kostbar und besonders, dass dann die Bezeichnung „gnadenbringe Weihnachtszeit“ folgt. Wir benutzen das Wort Gnade selten. Es gibt so vieles in fast jedem Moment unseres Tages, was eine Gnade ist, ein Geschenk (nicht zuletzt von Gott). Mir ist es wichtig, dass ich für diese Geschenkmomente offen bin und offen bleibe. Das Singen des „O du fröhliche“ erinnert mich daran.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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