Ganzheitliche Bildung braucht Identität und Eigensinn
Die Mühe, den schweren und gefahrvollen Weg zu nehmen, um zu sich selbst zu kommen und seine wahre Bestimmung zu entdecken, nehmen heute nur wenige Menschen auf sich. Die wenigsten haben „überhaupt das Zeug dazu“, bemerkt der Philosoph Rüdiger Safranski, der sich in seinem aktuellen Buch „Einzeln sein“ mit den verschiedenen Wandlungen beschäftigt, die das Einzelnsein in den vergangenen Jahrhunderten durchlaufen hat. "Einzeln sein" muss allerdings nicht automatisch Isolation bedeuten. Wer einzeln ist, ist auch in der Lage, für sich allein zu stehen und innerlich unabhängig zu sein. Er muss seine Identität in keiner Gruppe suchen und hält Abstand.
Hermann Hesse kultivierte die Individualität regelrecht und sah in ihr eine Grundbedingung des menschlichen Zusammenlebens: „Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘.“ In seinem Aufsatz „Eigensinn“ von 1919 schreibt er, dass er seinen Glauben immer auf den Einzelnen gebaut hat, weil dieser – im Gegensatz zur Masse - erziehbar und verbesserungsfähig ist. Seinen Auftrag sah er darin, „der Wahrheit und Aufrichtigkeit zu dienen“ und anderen Suchenden die Welt verstehen und bestehen zu helfen - und sei es nur, indem er ihnen Trost gibt, dass sie nicht allein seien. „Sei du selbst“ war für ihn als jungen Menschen das ideale Gesetz - es gab für ihn keinen anderen Weg zur Wahrheit und zur Entwicklung:
Hermann Hesse, der am 2. Juli in Calw als Sohn des baltischen Missionars und späteren Leiters des Calwer Verlagsvereins Johannes Hesse und dessen in Indien geborener Frau Marie geboren wurde, wollte schon als Kind und Jugendlicher seine Individualität leben. Gegen die „Infamitäten des Lebens“ kämpfte er mit Tapferkeit, Eigensinn und Geduld: „Die Tapferkeit stärkt, der Eigensinn macht Spaß, und die Geduld gibt Ruhe.“ In keiner Lehre hielt er es lange aus. Er war, was heute „Nonkonformist“ genannt wird – jemand, der sich selbst seine Regeln setzt und seiner Berufung folgt – auch wenn dies gesellschaftlichen Normen widerspricht. Dieser Freiheitsdrang findet sich bereits im aufgeklärten Denken der Goethezeit. Figuren wie Werther haben diese Freiheit und Unabhängigkeit vorgelebt. Der Wille zum Eigensinn ist schon hier stark ausgeprägt. Damit verbunden ist der Wunsch, nicht das Leben eines anderen nachahmen, sondern sich selbst und seiner Originalität treu zu sein. Diesen Gedanken fühlen sich noch heute all jene verbunden, die nicht „unters Rad“ kommen wollen, die nicht nur ein Teil in einem großen Getriebe sein, sondern ihr Eigenes zum Ausdruck bringen möchten. Genie ist nach Werther nicht nur der große Einzelne, sondern das Große in jedem einzelnen - doch das gesellschaftliche Regelwerk hält es nieder. In Goethes Ausgabe letzter Hand von 1827 finden sich (Zahme Xenien, Kap. 4) die Zeilen:
„Warum mir aber in neuster Welt
Anarchie gar so wohl gefällt?
Ein jeder lebt nach seinem Sinn,
Das ist nun also auch mein Gewinn.
Ich laß einem jeden sein Bestreben,
Um auch nach meinem Sinne zu leben.“
Mit 15 Jahren nahm Hesse seine „Ausbildung“ selbst in die Hand. Sein Lehrmeister war die großväterliche Bibliothek. Nach einer Buchhändlerlehre veröffentlichte er 1896 sein erstes Gedicht. Zwei Jahre später erscheinen seine „Romantischen Lieder“, dann der Prosaband „Eine Stunde hinter Mitternacht“. Nachdem sich literarische Erfolg einstellt, gab er seine Stellung in einer Buchhandlung auf und folgte seiner Berufung: dem Schreiben. Ende der 1920er-Jahre bemerkt er, dass die meisten Menschen „Exemplare“ bleiben und die „Nöte der Individualisierung“ gar nicht kennen. Wem sie aber vertraut sind, der weiß auch um die Kämpfe des Alltags. Der Familienvater, der Frau und Kinder zurückließ, befand sich oft in tiefen Lebenskrisen, aus denen er sich aber durch Therapie, Meditation, Malen, Wandern, Gärtnern und Schreiben „herausgearbeitet“ hat. Am 9. August 1962 starb der "Eigensinnige“ in Montagnola. Seine Werke „Unterm Rad“, „Peter Camenzind“, „Demian“, „Der Steppenwolf“, „Siddhartha“ oder das „Glasperlenspiel“ erreichen bis heute weltweit Millionenauflagen.
Mit diesen Fragen beschäftigt sich Andreas Solbach, der bis zu seiner Emeritierung Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, war, in seinem aktuellen Buch „Hermann Hesse. Ein Schriftsteller auf der Suche nach sich selbst“. In einer exklusiven Bilderschau wird die Lebenswelt und der Alltag des Literaturnobelpreisträgers gezeigt, denn Hesse war einer der meistfotografierten Autoren seiner Zeit. Thematisiert wird vor allem seine lebenslange Suche nach der eigenen Identität sowie die Probleme, die damit verbunden waren. Es geht aber um Fragen und Aufgaben des Menschen Hermann Hesse an sich selbst und nach dem Bild, das sich sein Publikum in den vergangenen 100 Jahren von ihm gemacht hat. Hervorzuheben ist auch, dass auf Hesses Verhältnis zu den Dingen und der Materialität der Dinge (Arbeit im Garten, am Schreibtisch, beim Malen) verwiesen wird, die in einem antwortend-resonanten Verhältnis zu ihm standen: „Hesse liegen seine Arbeitsutensilien gut in der Hand, langer Gebrauch macht sie zu vertrauten und persönlichen Gegenständen, die durch Erfahrung Teil des Lebens werden und eine besondere Aura erhalten.“ Die kleinen „Mode- und Luxussachen" sind nicht bloß „Tand und Kitsch" und eine „Erfindung geldgieriger Fabrikanten und Händler", sondern „eine Welt von Dingen, welche alle den einzigen Zweck haben, der Liebe zu dienen, die Sinne zu verfeinern, die tote Umwelt zu beleben", schreibt er in seinem Roman „Der Steppenwolf" (1927). Bei Wanderungen packte er sein „Zeug“ in einen verschlissenen grünen Jägerrucksack. Er bestand aus robustem Leinen oder Segeltuch und wurde von Hand gewebt. Später im Tessin transportierte Hesse in seinem Rucksack auch seine Malutensilien.
Solbach bemerkt zwar, dass Hesse selbst an keiner Stelle von Resonanz spricht, doch es ist deutlich, dass dieser Begriff der Soziologie des 21. Jahrhunderts „ein adäquates Konzept bereitstellt, um zentrale Aspekte von Werk und Persönlichkeit Hermann Hesses zu analysieren.“ Das Wort „Resonanz“ bedeutet wortwörtlich übersetzt „Widerhall“: Der Mensch ist als soziales Wesen ganz grundsätzlich auf Resonanz angewiesen, darauf also, dass ihm die soziale Mitwelt nicht als taub und stumm begegnet, „sondern dass sie antwortet, dass sie als etwas Lebendiges erfahren wird“ (Hartmut Rosa). Ohne Liebe, Achtung und Wertschätzung bleiben die Resonanzachsen allerdings „starr und stumm“. Resonanz liefert den Maßstab für ein gutes Leben, das reich an Resonanzerfahrungen sein und über stabile Resonanzachsen verfügen sollte.
Für den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) war Bildung als „Selbstkultivierung“ des Menschen die „größte“ und zugleich „schwierigste“ Aufgabe, die dem Menschen aufgegeben ist. Dieses Bildungsverständnis findet sich auch in der Menschenrechtscharta der UN: Bildung ist die „volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“, heißt es in Artikel 26. Menschen sollten nicht daran gehindert zu werden, sich selbst zu kultivieren, sich zu entfalten und herauszufinden, wer sie sind und was sie wollen. Die vorrangige Bildungsaufgabe sollte darin bestehen, die den Menschen auszeichnende Fähigkeit des Begreifens zu hegen, zu pflegen, zu vertiefen – im Bewusstsein, dass der Mensch gleichermaßen auf Bildung angewiesen und zur Bildung fähig ist.
Die Resonanz-Strategie: Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen
Andreas Solbach: Hermann Hesse. Ein Schriftsteller auf der Suche nach sich selbst. wbg Theiss, Darmstadt 2022.
Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag Berlin 2016.
Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. München: Hanser Verlag 2021.