Gelebte Nachhaltigkeit: alterslos - grenzenlos
Schlagworte wie „Best Ager“, „Turbo für die Wirtschaft“ oder Attribute wie „konsumfreudig“ und „komfortbewusst“ wiederholen sich. Doch wie die gewonnenen Jahre zu erfüllten Jahren werden, wird nur selten vermittelt und die Potenziale älterer Menschen nicht gesehen – dabei sind sie aufgrund ihres Erfahrungswissens Schatztruhen der Weisheit. Auch wenn das Altern vor viele Herausforderungen (Krankheiten, Ängste etc.) stellt, so müssen wir dem Alternsprozess heute nicht hilflos ausgesetzt sein, sondern können ihn gestalten, statt nach dem Berufsende hinterm Ofen zu sitzen und auf das Ende zu warten.
Für ihr Buch „Alterslos - Grenzenlos. Portraits und Gespräche über das Leben“ sprach die Schauspielerin, Malerin, Buchautorin und Fotografin Simone Rethel-Heesters mit Menschen, die unabhängig von ihrem biologischen Alter ihr Leben weiterhin beruflich aktiv und sinnhaft gestalten: Handwerker, Künstler, Forscher oder Politiker, bekannte und unbekannte Persönlichkeiten: Nicole Heesters, Gerhard Kämpfe, Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Waltraut Haas, Herman Klauke, Dieter Hallervorden, Prof. Dr. Wolfgang M. Heckl, Leon Spierer, Gregor Gysi, Walter Eichhorn, Jutta Speidel, Jürgen Wölffer, Prof. Dr. Lutz Jäncke, Werner Kimmig, Renata Wendt, Frank Lehmann, Lucy Engler, Otto Schenk, Peter Kraus, Impala Lechner, Peter Maffay, Rolf Kühn, Prof. Dr. Henning Wiesner, Prof. Dr. Rita Süssmuth und Mario Adorf.
Begleitende Fotos von Simone Rethel zeigen sie in ihrem privaten Umfeld. Die Auswahl präsentiert zugleich einen breiten Querschnitt unserer Gesellschaft. „Alle haben ein unglaubliches Leben hinter sich und sagen: Es geht noch weiter! Der Antrieb aller Personen zum Weitermachen ist in Summe ähnlich: Man baut ab, wenn man aufhören würde, aktiv zu sein“, sagt die Autorin. Simone Rethel, die am 15. Juni 72 Jahre alt wird, ist davon überzeugt, dass wir viel mehr gesündere Menschen hätten, wenn sie sich nicht zur Ruhe setzen würden, denn das hat meistens Stillstand zur Folge. Den Begriff „wohl verdienter“ Ruhestand mag sie deshalb nicht. Heute gibt es mehr Hundertjährige als je zuvor.
Der Regisseur Axel von Ambesser engagierte Rethel-Heesters im Alter von 16 Jahren für die Verfilmung von Wilhelm Buschs „Die Fromme Helene”. Ambesser wurde wie auch der Schauspieler Carl-Heinz Schroth künstlerischer Vater und Mentor. Nach ihrer Schauspielausbildung spielte Rethel am Bayerischen Staatsschauspiel in München, am Deutschen Theater, am Hamburger Thalia Theater und in etlichen Filmen und TV-Serien. Von 1992 bis zu dessen Tod im Jahr 2011 war sie mit Johannes Heesters verheiratet, der 46 Jahre älter war als sie. Als alt empfunden hat sie ihn nie, weil er in seinem Wesen nicht alt war. Noch mit 88 Jahren tanzte er auf der Bühne und hatte seine berufliche Neugier nie verloren. Simon Rethel engagierte sich auch als Botschafterin für die Initiative „Altern in Würde“. Bei Westend erschien zuletzt Rethels Buch „Sag nie, du bist zu alt“ (2010). Nun hat sie nicht nur eine beeindruckende Dokumentation mit kontroversen Ansichten über die verschiedenen Gesichter des Alters vorgelegt, sondern auch ein beeindruckendes Buch über Nachhaltigkeit.
In fast jedem ihrer Interviews spielt die globale soziale Bewegung Fridays for Future und die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg eine wichtige Rolle. Alle sind sich bewusst, dass viele kleine Schritte zusammengenommen nachhaltige Folgen haben, und dass der eigene Wirkungsradius mehr über die Qualität des eigenen Handelns aussagt als „nur mal kurz die Welt zu retten“. Prof. Dietrich Grönemeyer wünscht sich eine Zukunft, „die so geprägt ist, dass alle Menschen in Wohlbefinden bis zum letzten Tag leben dürfen.“ Und der Festival-Veranstalter und Musikproduzent Gerhard Kämpfe, wünscht sich, dass der Mensch sagt: „Wir haben ein unglaubliches Schwein, auf diesem wunderbaren Planeten zu leben und es geht darum, ihn zu retten …“ Auch die Schauspielerin Jutta Speidel bemerkt: „Diese Respektlosigkeit gegenüber dem eigenen Leben, gegenüber dem Leben anderer, gegenüber der Erde, gegenüber allem, was es überhaupt möglich gemacht hat, dass wir auf zwei Beinen durch diese Gegend gehen.“ Sie hat sich mit einem großen Plakat „Grandmas and Grandpas for Future“ auf den Münchener Marienplatz gestellt. Prominenz allein genügt nicht.
So nutzt auch Jutta Speidel ihre Bekanntheit, um andere darin zu unterstützen, ein tätiges, selbstverantwortliches und sozial erfülltes Leben zu führen. Sie steht stellvertretend für alle anderen Engagierten in diesem Buch: Bereits als Schülerin stand sie ab 1969 in zahlreichen Kinofilmen vor der Kamera. 1976 holte sie der renommierte Regisseur Rudolf Noelte als ELEKTRA nach Berlin ans Renaissancetheater. In den folgenden Jahren wechselten sich ihre beruflichen Engagements zwischen Film, Fernsehen und Theater ab. 1975 wurde der Filmregisseur Rainer Erler auf sie aufmerksam, mit dem sie den legendären Film „Fleisch“ drehte. 1997 gründete sie in München den gemeinnützigen Verein HORIZONT e.V. Er finanziert sich ausschließlich durch Spenden und unterstützt Kinder und Mütter, die in soziale Not geraten und obdachlos geworden sind. 2006 wurde die HORIZONT-Jutta-Speidel-Stiftung ins Leben gerufen, die als operativ tätige Stiftung ausschließlich der Unterstützung des eigenen HORIZONT-Hauses dient. Der Name „Horizont“ versinnbildlicht das Ziel, den Betroffenen Mut zu machen und ihnen neue Lebensperspektiven zu ermöglichen: So wird ihnen ein Zuhause auf Zeit gegeben, und sie werden bei ihrem Weg zurück in die Gesellschaft unterstützt. Das setzt voraus, dass durch sensible Betreuung ihre Ängste abgebaut werden und ihr Selbstwertgefühl gestärkt wird. Die Frauen erhalten dadurch wieder Kraft und Sicherheit, einen Beruf auszuüben. Denn nur eine Mutter, die Hoffnung und Lebensmut besitzt, kann auch ihren Kindern Kraft fürs Leben geben.
Für Jutta Speidel gab es zwei Auslöser für ihr Engagement: Sie war während eines Drehs zufällig in einer Münchner Pension, in der Obdachlose wohnten. Dort lebten Mütter und ihre Kinder in katastrophalen Zuständen. Zudem fiel ihr auf, dass in Deutschland niemand über solche Fälle spricht. Dabei werden viele Kinder in die Obdachlosigkeit hineingeboren. In München gibt es viele obdachlose Mütter mit Kindern. Sie leben zwar nicht auf der Straße oder unter Brücken, dennoch sind sie zum größten Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen in Containern und Pensionen untergebracht. Für Jutta Speidel stand seit dieser Erfahrung fest: Ich helfe privat – mit Kopf, Herz und Hand. Diese Einstellung vermittelt zugleich:
Die Frage, was ein tätiges und sozial erfülltes Leben ausmacht, zeigt sich an ihrem Beispiel: Im Oktober 2003 wurde zusammen mit Münchens Oberbürgermeister Christian Ude der Grundstein für ein 7-stöckiges Wohnhaus für die Zukunft von 24 Kleinfamilien gelegt. Inzwischen gibt es ein zweites, HORIZONT-Haus. „Es soll offen nach außen sein und besondere Betreuung für Kinder bieten. Auch Familien mit geringem Einkommen sollen dort wohnen. Wir möchten gleichzeitig auch eine besondere Begegnungsstätte schaffen für Jung und Alt“, sagte Jutta Speidel vor einigen Jahren. Sie hat es niemals bereut, dieses Ehrenamt und die Verantwortung für so viele Menschen zu tragen und steht damit auch stellvertretend für all jene, die sich über das normale Maß hinaus engagieren. Die HORIZONT-Kinder interessieren sich trotz ihres persönlichen Schicksals sehr für Umweltschutz und den Wert des Lebens und der Dinge, denn sie haben schon früh erfahren, dass ihre Zukunft auf dem Spiel steht, wenn niemand sorgend Anteil an ihnen nimmt. Dies ist ein kleiner Baustein des großen Ganzen, dessen unterschiedliche Facetten Simone Rethel präsentiert – ihre Bilder und Texte laden zugleich dazu ein, die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens selbst zu definieren.
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Simone Rethel-Heesters: Alterslos – Grenzenlos. Porträts und Gespräche über das Leben. Westend Verlag. Frankfurt a.M. 2021.