Genial vital: Warum wir mehr Gesundheitskompetenz brauchen
So sonderbar es sich anhört - er beginnt zuallererst mit einer Rückbesinnung: Nachhaltigkeits- und Wellness-Diskurs basieren inzwischen auf weit fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnissen, so dass es uns möglich ist, ziemlich genau abzuwägen, was unser Körper eigentlich braucht, und was von den Segnungen der Neuzeit überflüssig ist oder ihm gar schaden kann. Der Grund leuchtet ein: Während sich unser Stoffwechsel, unsere Verdauung und unsere Hautbarriere seit der Steinzeit evolutiv kaum wesentlich verändert haben, halten viele Lebensbedingungen der modernen Zivilisation kräftig dagegen: Wir sitzen zu viel und bewegen uns zu wenig. In viel zu engen Intervallen nehmen wir Nahrung auf, die mittlerweile industriell verändert ist; auf der Strecke bleiben die regionale und die saisonale Pflanzenkost.
Wir betten uns zu spät zur Ruhe, und in den Wachphasen sind wir Luftverschmutzung und Feinstaubbelastung ausgesetzt. Und selbst bei dem Versuch, uns Gutes zu tun, schießen wir übers Ziel hinaus und handeln kontraproduktiv, etwa wenn wir allen Verheißungen der Kosmetikindustrie auf den Leim, die Creme oder die Lotion gehen und unsere Haut zukleistern, statt sie mal in Eigenregie tun zu lassen, was zu tun ist. Die Haut ist ein selbsthelfendes und selbstheilendes Organ, was auch auf andere Organe zutrifft, und wir nur leider vergessen haben.
Hier sind wir mit den Klassikern immer noch am besten beraten. Auch mit ihnen ist Genuss möglich. Besonders wertvoll sind wasserlösliche Ballaststoffe, die wir vorwiegend mit Obst, Gemüse und Saaten zu uns nehmen. Weil sie Wasser binden können, quillt die Nahrung im Magen, und wir fühlen uns schneller und länger satt. Außerdem wird der Fett- und Glukosestoffwechsel angekurbelt. Auch wasserunlösliche Ballaststoffe leisten gute Dienste. Sie kommen vorwiegend in Getreide, Pseudogetreide, Gemüse, besonders in Hülsenfrüchten, Obst, Nüssen, Saaten oder Kernen vor. Wegen ihrer gröberen Faserstruktur müssen wir sie länger und ausgiebiger zerkauen. Dabei produzieren wir kräftig Speichel, der den Säuregehalt unserer Lebensmittel drückt; sie quellen schön auf und bringen unsere Darmfunktionen auf Trab.
Natürlich geben solche Ernährungsgrundsätze die grobe Linie vor. Wer sich – nehmt alles nur in allem – daran hält, kann sich auch gelegentliche Abweichungen leisten. Wichtig ist weiterhin, salzarm zu essen, den Salzstreuer also nicht schon zu schütteln, bevor man das Essen überhaupt gekostet hat. Salz erhöht den Blutdruck, verändert die Darmflora und fördert Osteoporose. Ausreichend Schlaf, tägliche Bewegung, aber auch Zeit für Entspannung und Regeneration runden die jedem Einzelnen gegebenen Möglichkeiten einer gesunden Lebensweise ab. Dazu gehört auch der sparsame Umgang mit Alkohol und der völlige Verzicht auf das Rauchen. Als Hautärztin ist mir noch wichtig, den Schutz unserer Haut gegen zu viel Sonneneinstrahlung zu beachten. Auch hier haben die Veränderungen der Umwelt unseren Organismus kalt, besser gesagt, heiß erwischt.
Bei der saisonalen und regionalen Kost, von der wir eben gesprochen haben, geht es ja nicht nur um Vitamine und Ballaststoffe, es sind auch Lebensmittel, die eben nicht per Flugzeug über Tausende von Kilometern in unseren Supermarkt geflogen werden müssen, oder in Kühlhäusern mit wahnsinnigem Stromaufkommen gebunkert werden, nur um das ganze Jahr über verfügbar zu sein. Nachhaltigkeit meint nämlich auch, dass die Produktion und Bereitstellung unserer Nahrung umwelt- und ressourcenschonend vor sich geht. Wer dazu beitragen will, kauft einfach vermehrt solche Produkte.
Das Lied „Jetzt kommt das Wirtschaftswunder – der deutsche Bauch erholt sich auch, und ist schon sehr viel runder…“ ist einfach ein Hit aus den 1950er Jahren, als der Westen mit Unterstützung der Alliierten den Hunger und die Mangelernährung der Kriegsjahre überwand. Seitdem ist viel Zeit vergangen, und Überernährung und Übergewicht sind Zivilisationsprobleme mit einschlägigen gesundheitlichen Auswirkungen. Natürlich sollte es sich jeder schmecken lassen, natürlich ist Ernährung kein Spielfeld für Verbote oder moralische Anklagen, aber auch eingeschworene Fleischesser erwischen sich mehr und mehr dabei, dass sie die Bedingungen, unter denen ihr Steak, ihr Eisbein oder andere Köstlichkeiten zustande kommen, gern ausblenden.
Dokumentaraufnahmen aus den Stätten und Ställen der industriellen Tierhaltung sind nun mal Genussbremsen. Diese Einsichten sollten nicht nur bei Lebensmittelproduzenten und -anbietern Platz greifen, das Nachdenken über gesunde und nachhaltige Ernährung gehört auch fest in die soziale Kompetenz jedes Einzelnen. Das beginnt mit der Erziehung in den Schulen, aber auch bei der Gemeinschaftsverpflegung, die in sozialen Einrichtungen ausgegeben wird. Es ist auch kein Zufall, dass Fachleute sogar eine stärkere Einbindung von Ernährungsthemen ins Medizinstudium einfordern.
Zucker spielt eine große Rolle im individuellen Belohnungssystem, liefert viel schnell freisetzbare und verfügbare Energie und wird als Süßungsmittel und Geschmacksverstärker genutzt. Auch der in Stärke enthaltene Zucker (Glucose) gehört dazu. Ungesunde Zucker sind Haushaltszucker (Saccharose aus Glucose und Fructose), Fruchtzucker (Fructose) und Traubenzucker (Glucose).
Glucose lässt den Insulinspiegel ansteigen, dadurch sind Fettzellen über Stunden verschlossen, sie können nicht entleert werden - man kann nicht abnehmen. Er lässt auch Wachstumshormone übermäßig ansteigen und sorgt für die Zunahme von Zivilisationskrankheiten. Zucker verklebt Eiweiße in den Zellen unserer Organe sowie in der Haut, er blockiert Lipide und das Erbgut bis zu Funktionsuntüchtigkeit. In der Folge altert das Gewebe schneller.
Zucker füllt auch die Wartezimmer der Zahnärzte, denn er führt zu Karies. Er verändert die Darmflora und heizt unseren Appetit an, bis hin zu den gefürchteten Heißhungerattacken, wenn er nach einer Spitze schleunigst weggeräumt wurde. Ständig zu viel Zucker macht krank, denn er fördert Insulinresistenz an den Zellen, führt zu Diabetes. Auch Fructose als billiges Süßungsmittel - nicht so sehr aus dem Obst! – ist nicht ohne, sie bringt uns auf den besten Weg zur Leberverfettung und spornt unsere Cholesterinproduktion an. Chronische Entzündungen, Übergewicht, aber auch Alzheimer und Krebs stehen mit zu hohem Zuckerkonsum in Verbindung.
Auch hier lohnt es sich, erst mal einen Schritt zurückzumachen und all das zu tun, was man noch selbst beherrscht: Je früher und unbearbeiteter, unverfälschter wir Lebensmittel erwischen, je breiter sind auch unsere Möglichkeiten, zu kontrollieren, was reinkommt in unser Essen. Denn auch die leckersten Industrieprodukte verursachen uns schon mal Schwindelgefühl, wenn wir nur die Zutatenliste lesen und gar nicht wissen, was wir da alles schlucken. Also: so weit wie möglich selbst kochen und backen und auf industrielle Süßwaren verzichten!
Lieber wieder den natursüßen Geschmack von Obst, Trockenobst und manchen Gemüsen entdecken und genießen, Nüsse nutzen, Gewürze wie Zimt, Kardamom, Süßholzwurzel, Kakao und Vanille. Aber Achtung – auch Honig und Akaziensirup - sind Zuckerquellen. Erythrit ist ein relativ natürlich fermentierter Süßstoff - den man mal für gelegentliches Extrasüßen ausprobieren kann. Tagatose süßt ebenfalls stark, verbessert die Darmflora und mobilisiert sogar den Fettabbau. Sie ist ein natürlicher Einfachzucker und wird aus Lactose gewonnen. Die uns gelegentlich empfohlenen künstliche Süßstoffe an sich sind dagegen keine wirklich gesunde Alternative. Manche verändern die Darmflora und heizen unnötig den Appetit an.
Nicht nur der Fachkräftemangel infolge des demografischen Wandels, auch die generelle Veränderung der Arbeitswelt durch Digitalisierung, durch Arbeits- und Informationsverdichtung machen die Notwendigkeit eines Gesundheitsmanagements im Unternehmen quasi zur betriebswirtschaftlichen Größe: Investitionen in die Gesundheit der Beschäftigten, erscheinen immer notwendiger, wenn sich die Kosten durch krankheitsbedingte Fehlzeiten oder Frühverrentungen, aber auch dadurch, dass Arbeitnehmer trotz Krankheit noch lange zur Arbeit gehen und dann richtig dramatisch ausfallen, zum bedrohlichen Faktor in der Bilanz summieren. Deshalb ist jedes Unternehmen gut beraten, sich ein nachhaltiges Betriebsgesundheitsmanagement aufzubauen oder weiterzuentwickeln.
Nachhaltig bedeutet an dieser Stelle, dass das Gesundheitsmanagement nicht auf irgendeine aktuelle und vorübergehende Personalsituation oder den Krankenstand reagiert, sondern zum festen und dauerhaften Element der Firmenphilosophie wird. Ausführende sollen Fachleute sein, die dafür sorgen, dass krankheitsbedingte Fehlzeiten in konkreten Arbeitsbereichen und bei konkreten Arbeitsvorgängen reduziert werden.
Das kostet Geld, und spätestens hier hat auch das „Gießkannenprinzip“ ausgedient. Wer als Unternehmer klug rechnet, wird schnell einsehen, dass betriebliches Gesundheitsmanagement nicht irgendeine Alibiveranstaltung ist, sondern immer ein konkretes Ziel haben muss. Das kann auf der einen Seite die Minderung der Lärmbelastung in bestimmten Abteilungen sein, auf der anderen aber auch die Schulung der Belegschaft zur gesunden Ernährung trotz Arbeit in mehreren Schichten. Egal ob Stress, Burnout oder Depression infolge des Leistungsdrucks - die Beschäftigten müssen spüren, dass ihre Gesundheit ein wertvolles Gut ist. Und das Handeln der Unternehmen muss zeigen, dass diese Nachricht auch hier verstanden wird.
Arbeit nimmt nun mal einen großen Anteil an unserer Lebenszeit ein. Auch in dieser Zeit kann man dem Körper Gutes tun. Ergonomisches Arbeiten, Klima, Licht, Lärm, Sozialkontakte, Pausen, Vorsorge und Bewegung sind Themen, die bei der Arbeit stattfinden können. Damit unterstützt man das eigene Unternehmen und die Volksgesundheit. Gesunde und zufriedene Mitarbeitende haben weniger Fehlzeiten und man bindet sie langfristig - angesichts des Fachkräftemangels ein zusätzlicher Aspekt.
Gesundheitskompetenz ist für jeden von uns ein wichtiger Haltepunkt, wenn das Klima rau oder stürmisch wird. Im Berufsalltag sollte jeder wissen, welchen Belastungen er wie weit gewachsen ist, und wann es Zeit wird, gegenzusteuern. Jeder sollte seinen eigenen Biorhythmus kennen, auf ihn hören und möglichst gut den beruflichen Erfordernissen anpassen – oder umgekehrt. Arbeiten bei sauberer Luft, gutem Licht und in angemessener Körperhaltung (Bürostühle!) - „Arbeitshygiene“ fällt manchmal nicht vom Himmel, kann aber eine Gelegenheit sein, sich selbst einzubringen. Das gilt auch für den vernünftigen Rhythmus von Pausen- und Arbeitsphasen und nicht zuletzt für die Arbeitsatmosphäre allgemein, etwa das Teamgefühl oder die gegenseitige Akzeptanz sowie das Nutzen von Lob und Wertschätzung unter Kollegen oder Vorgesetzen mit dem Team.
„Work-Life-Balance“ wird manchmal wie ein Modebegriff gehandhabt, oder um Mitmenschen zu karikieren, denen Selbstfürsorge oberstes Gebot ist. Dabei ist sie eine Herausforderung oder der optimale Zustand für jeden, der im Arbeitsleben steht. Diese Balance finden wir auch, wenn wir im Privatleben den Ausgleich zur Arbeitsbelastung finden, beim Sport oder der Pflege sozialer Kontakte.
Für sich selbst zu sorgen, wie für einen Menschen, der einem wirklich etwas bedeutet, ist die Grundvoraussetzung. Die in letzter Zeit vielbesungene Achtsamkeit beschreibt ja gerade die Sensibilität des Menschen, Verhältnisse seiner Umwelt, seines eigenen Körpers und seiner Seele zu erfassen. Eine Art von Aufmerksamkeit für sich, und natürlich auch für andere. Diese Empfindungen richtig einzuordnen und im Alltag danach zu handeln, schließt auch den Bereich der Gesundheitskompetenz ein. Die sollte schon bei den Kindern in der Schule mehr gefördert werden. In den letzten Jahren ist da schon einiges passiert, so gibt es eine ganze Reihe von Kinderbüchern, in denen man sich gesundheitlichen Themen spielerisch und interessant nähert. Aber es ist noch Luft nach oben. Ebenso wie bei den Erwachsenen, wo es um den Aufbau gesunder Routinen geht, wie regelmäßige Bewegung, um die Einhaltung einer Schlafhygiene, und andere sinnvolle Regelmäßigkeiten. Körperwissen ist dabei eine wichtige Basis, etwa um zu verstehen, warum man zwei Stunden vor dem Schlafen die Blaulichtquellen (Handy, Tablett…) löschen sollte, nämlich, um das Dunkelheitshormon Melatonin entstehen zu lassen, das einerseits für einen erholsamen Schlaf sorgt und zugleich die Gewebereparatur ankurbelt. Ohne übertriebene „Selbstoptimierung“ gibt es hier noch viel zu entdecken. Ganz von selbst wird man dann vom Wohlgefühl und Erfolg belohnt.
Dr. Yael Adler, Jahrgang 1973, ist Dermatologin und Autorin von Sachbüchern. Sie hat für die klinische Forschung gearbeitet und leitet seit 2007 eine eigene Praxis in Berlin. Da sie medizinische Sachverhalte gern einfach erklärt, tritt sie in den Medien häufig als Expertin für Gesundheitsthemen auf. Ihre Bücher "Haut nah", "Darüber spricht man nicht" und ihr aktuelles Buch "Genial vital!" sind Bestseller. Yael Adler ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für Anti-Aging-Medizin.
Leitfaden statt „Leidfaden“: Die positiven Möglichkeiten und Chancen des Altwerdens
Yael Adler: Genial vital! Wer seinen Körper kennt, bleibt länger jung. Droemer Verlag, München 2023.