Geschichte als Wiederholung? Die Zwanziger Jahre im Vergrößerungsglas der Gegenwart
Die späten Zwanziger und frühen Dreißigerjahre gelten für viele Menschen als kulturelle Schwesterepoche unserer Zeit. Darauf würden die Vorzeichen von damals deuten: eine nach unten abgerutschte Mittelschicht, eine sprachliche Aufrüstung, das Lasterhafte, die Vergnügungskultur, die Opulenz des damaligen Lebensstils und die Eleganz. Diese Zeit ist auch in Filmen, Serien wie „Babylon Berlin“ und Büchern heute lebendig. Allerdings sollte beim verwandtschaftlichen Vergleich mit der Gegenwart Vorsicht geboten sein, schreibt Hilmar Klute in der Süddeutschen Zeitung: „Anders als Weimar ist der Rechtsstaat Bundesrepublik keine alte Wackelhütte, die beim großen Orkan weggeblasen wird.“ Unsere Demokratie muss beweisen, dass sie dafür Sorge tragen kann, dass die Barbarei in einzelnen Städten nicht der „Beginn der Barbarei in Deutschland wird“.
Tanz auf dem Vulkan
Das Metier des Schauspielers und Musikers Ulrich Tukur, der sich als "musikalisch asynchrone Person" bezeichnet, sind nicht die Trends der postmodernen Popwelt, sondern die Swing-Songs, Schlager und Chansons der 20er- bis 40er- Jahre. Er sagte einmal, dass er nie am Puls der Zeit war. Seine Vorliebe für die Musik der Zwanziger Jahre war auf einmal da: Zu seiner Konfirmation erhielt er ein paar alte Schellackplatten. Darunter waren Duke Ellington, Tommy Dorsey, englische und deutsche Tanzmusik und einige Aufnahmen des amerikanischen Jazzpianisten Fats Waller. Das „elegante Lebensgefühl“ und die Freude, die mit dieser Musik verbunden ist, haben ihm immer viel bedeutet. Als Europa vor der schlimmsten Katastrophe seiner Geschichte stand, war die Mode so geschmackvoll wie nie zuvor, und die Musik leicht und beschwingt.
Die Goldenen Zwanziger waren fiebrig und voll exzessiver Lebenslust, viele Jugendliche litten am Zuviel an Möglichkeiten, und im Hintergrund zogen schon die Gewitterwolken von Weltwirtschaftskrise und Naziherrschaft auf. Die Weimarer Republik im Krisentaumel. Den Geist dieses schnelllebigen Jahrzehnts hat der opulent illustrierte Band des Zeichners und Buchkünstlers Robert Nippoldt atmosphärisch eingefangen: „Es wird Nacht im Berlin der wilden Zwanziger“. Das Buch enthält keine Fotos, sondern lebt von den Illustrationen Nippoldts, die an moderne Graphic Novels erinnern.
Die Goldenen Zwanziger
Alles wird hier wieder lebendig: die grellen Lichter der Großstadt, das Grau der Fabriken, Hinterhöfe und Mietskasernen, die hohe Säuglingssterblichkeit, die Lautstärke der Sporthallen, Verkehrschaos, Cabaret, Theater, Funk, Film, Reklame, das neue Frauenbild, die Stille der Theatersäle, der Gesang der Comedian Harmonists, Marlene Dietrich in Frack und Zylinder, Josephine Baker im Bananenröckchen, Metropolis, der Revuekönig James Klein, der Kosmopolit Harry Graf Kessler, der Reporter Egon Erwin Kisch, Fritz Lang auf Mörderjagd, der Ku’damm im Neonglanz, Kokainkonsum, Spartakus und SA, Filmpaläste, Sensationspresse und anarchistische Boheme. Vorgestellt werden auch Lotte Reiniger, Christopher Isherwood, Albert Einstein, Kurt Weill, George Grosz und Thea Alba („die Frau mit zehn Gehirnen“), Magnus Hirschfeld („Einstein des Sex“) und der Ganoven Adolf Leib. Enthalten sind auch Beschreibungen damaliger Berlin-Wahrzeichen wie des Dajos-Béla-Orchesters, des Hotel Adlon, des Karstadt am Hermannplatz, der Universum-Film AG und des Flughafens Tempelhof.
Berlin war eine der spannendsten Metropolen in den 1920-er Jahren: 40 Theater und 170 Varietés lockten in Berlin Besucher an. Der vom Autor und Kunstkritiker Boris Pofalla betextete „Spaziergang“ ist eine Liebeserklärung an die Vielfalt des Lebens - das Varieté (nach franz. théâtre de variétés, aus: théâtre (Theater) und variété (Abwechslung, bunte Vielfalt) – und den schönen Schein. Nachdem der Erste Weltkrieg mit all seinen Entbehrungen die Vergnügungssucht entfacht hatte, waren alte Moralvorstellungen und Privilegien „nach dem Krieg mitsamt der Monarchie über Bord des steinernen Vergnügungsdampfers Berlin geflogen, Kokain und Prostitution auf Berliner Straßen wurden so normal wie die Molle mit Korn in der Eckkneipe“, schreibt Pofalla.
Es habe unzählige Prostituierte und Dutzende Lokale speziell für schwules Klientel gegeben. Berichtet wird auch, wie sich Varietés und Revue-Theater in Konkurrenz mit frivolen Anzüglichkeiten, Nackttänzen und Massenszenen zu überbieten suchten. Doppelseitige Übersichten bieten Fakten etwa zu Ereignissen in den Zwanzigerjahren. Die meisten der hier porträtierten Künstler, Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und Filmemacher „hielt es nach 1933 nicht mehr lange in Berlin, das nun die Hauptstadt des Nazireiches war“, schreibt Pofalla: „Das Berlin der Weimarer Jahre war bald bloß noch eine ferne Erinnerung - wenn auch eine, die bis heute nachhallt.“
So singt Max Raabe Lieder von Textdichtern und Komponisten der Zwanziger und Anfang der Dreißigerjahre. Dazu gehören auch Gassenhauer der Comedian Harmonists. Das ist keine Unterhaltung als „Masche“, kein Nostalgiefimmel, sondern Wahrheit „im Kern“, wie er sagt. Er lenkt in Krisenzeiten wie diesen nicht ab, sondern zu etwas hin: „Gelassenheit, Genauigkeit und Manieren.“ Der Begriff Nostalgie ist hier angebracht, denn er ist eine Kombination aus dem altgriechischen nóstos (Heimat) und álgos (Schmerz). Das meint auch Ulrich Tukur, wenn er von der Musik aus dieser Zeit spricht. Es geht um die Sehnsucht nach einer Zeit, in der das Leben kurz vor dem Untergang zelebriert und gefeiert wurde.
Ödön von Horváth, geboren 1901 als Sohn eines hohen ungarischen Beamten, wollte damals als „treuer Chronist“ seiner Zeit fungieren. In Berlin erlebte er in den späten Zwanzigern Jahren den Aufbruch in neue Zeiten. Mit dem Kapitel „Der Untergang“ endet der literarische Spaziergang durch die „Goldenen Zwanziger“. Im Oktober 1929 kam es in New Yorker zum Börsencrash: „Amerikanisches Kapital wurde aus Deutschland abgezogen, die Industrieproduktion brach ein und die Arbeitslosenzahlen stiegen dramatisch - auf bis zu 44 Prozent.“ Im September 1930 wurde die NSDAP zweitstärkste Partei nach der SPD im Reichstag. Danach wurde es dunkel. Die neuen Machthaber lassen keinen Raum mehr für die Toleranz und kreative Vielfalt der 1920-er Jahre.
Die Kapitel enthalten glänzende Fragmente (von lat. Frangere, zertrümmern, zerbrechen) der Zeit davor. Der Leser kann das Buch aufschlagen, wo er möchte und sich seinen Vorlieben hingeben. Er kann abschweifen und findet doch immer wieder zurück, denn jedes Kapitel ist durchkomponiert - alle zusammen ergeben einen historischen „Reigen“. Eine Musik-CD mit seltenen Originalaufnahmen macht es zu einem Gesamtkunstwerk, das Kultur als Lebens-Mittel aus analogen Zeiten präsentiert. Das Bedrohliche und Unentrinnbare, das alle geahnt haben, ist für einen (Lese-)Moment gebannt.
Weiterführende Literatur:
Robert Nippoldt, Boris Pofalla: Es wird Nacht im Berlin der wilden Zwanziger. TASCHEN Verlag 2017.