Globale Raserei: Warum wir uns nicht im Geschwindigkeitsrausch verlieren dürfen
„Ob ein Tempolimit der globalen Raserei Einhalt gebieten kann, muß allerdings bezweifelt werden. Denn Schnelligkeit ist das Lebenselixier des Kapitals.“ Mario Müller
Rasender Stillstand
Für den französischen Architekten, Städteplaner und Technikphilosophen Paul Virilio (1932-1918) war der kulturelle und gesellschaftlichen Tempo-Rausch das alles beherrschende Merkmal des Mobilisierungszeitalters. Mit Verkehrsmitteln und dem Informationsbombardement der Medien trage er unaufhaltsam zur „Vernichtung von Raum und Zeit“ bei. Gleichzeitig entbehrt der dauernd auf dem Laufenden gehaltene Mensch - der in eine Lage gerät, die man „rasenden Stillstand“ nennen kann - das Moment der Überraschung. Der Erfahrungshorizont des scheinbar Allwissenden geht gegen unendlich und verliert so seine vertraute Dimension.
In mehreren Büchern hat Virilio zwei Phänomene der Moderne unter wechselnden Gesichtspunkten analysiert: die zunehmende Beschleunigung von Bewegung und Wahrnehmung und die zunehmende Perfektionierung der Kommunikationstechnik durch militärische Bedürfnisse (u. a. „Der negative Horizont und Krieg und Kino“, beide 1984). Bereits in vorangegangenen Schriften (z. B. Geschwindigkeit und Politik, 1980) verwendete er jenen Terminus, der seine Überlegungen bekannt gemacht hat: „Dromologie“ (vom altgriechischen Wort dromos, Rennbahn), übersetzt als: „Lehre von der Geschwindigkeit“.
Der technische Fortschritt prägte vor allem in Bezug auf Mobilität die Geschichte der Menschheit entscheidend mit: Dem Pferd folgten Eisenbahn und Auto, heute sind es Flugzeuge und Internet. Zeitliche und räumliche Grenzen werden hier aufgehoben. Derzeit stecken wir Virilio zufolge in einer Tempo-Euphorie und Revolution der Beschleunigung, die von „Transplantationen“ gekennzeichnet ist: Die Technik wächst immer mehr in den menschlichen Körper hinein und macht ihn irgendwann überflüssig. Der Mensch ist in Virilios Vorstellung nur noch ein passiver Cyborg, der in einer Welt des ständigen Informationsflusses nur noch ein Zuschauer ist. Auch wenn der Philosoph technikfeindlich war und die Digitalisierung ablehnte, so lohnt es sich dennoch, seinen Pessimismus in aktuelle Debatten mit einzubeziehen. Die Idee des Fortschritts muss nicht aufgegeben werden, sondern braucht lediglich eine Neudefinition. Wer Zukunft nur als Verhängnis sieht, wird letztlich nichts Nachhaltiges ausrichten können. Worauf es jetzt ankommt ist doch, hinter den Gefahren die Chancen auf eine bessere Zukunft sichtbar zu machen.
Warum wir die Diskussion um Geschwindigkeit brauchen
Wir brauchen die Diskussion um Geschwindigkeit, weil nur dann die Notwendigkeit der Muße und Entschleunigung wieder mehr in den Fokus rückt. Am 12. September 1998 klärte die FAZ ihre Leser über eine „Gesellschaft ohne Schatten und eine Gegenwart ohne Zukunft“ auf. In seinem Beitrag „Die Beine der Konkurrenz“ beschreibt der französische Ökonom Philippe Thureau-Dangin das Grundgesetz der Konkurrenzgesellschaft. Dabei wird die in ein Werden eingebundene Geschwindigkeit auch auf Vorgänge angewendet, die diese häufig gar nicht vertragen: „Man übertreibt wohl kaum, wenn man sagt, daß heute alles beansprucht, dringlich und eilig zu sein, und daß die Menschen sich hetzen, um bloß keine Gelegenheit zu verpassen. Und indem jeder sich beeilt, schneller zu sein als der andere, verpaßt auch jeder den Anschluß, weil man stets im Hinblick auf irgendjemand anderen zu spät kommt.“
Mit der Schattenlosigkeit der Gesellschaft wird auch ein wichtiges bewusstseinsgeschichtliches Faktum angesprochen: dass zu allen Zeiten dieselben oder verwandte Gedanken und Tendenzen auftreten können. So artikuliert bereits Adelbert von Chamissos berühmte Geld- und Schattennovelle „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1814) die durch den Fortschritt bedingte Entfremdung. Die Missachtung der Natur wird vom Protagonisten, der seinen Schatten für ein Glückssäckel hergab, mit Sturz, Krankheit und einer beschleunigten Lebenszeit bezahlt. Erst die Kontemplation, die durch das Einsiedlertum in der Wüste bekräftigt wird, führt hier zu einem positiven Verständnis von Endlichkeit: Die Zeit kommt für den einst so rastlosen Peter Schlemihl zur Ruhe.
Er war von der Sehnsucht getrieben, die Zeit zu besiegen. Da er es nie bei sich aushielt, kam er auch niemals an. Durch die Siebenmeilenstiefel erhält die alogische Vernichtung der Zeit hier ihr Bild. Ähnlich wie Goethes Faust wird jeder Wunsch schon vom nächsten überholt. "Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben", so Mephisto, "der ungebändigt immer vorwärts dringt, / und dessen übereiltes Streben / der Erde Freuden überspringt." Goethe nannte den modernen Zeitgeist "veloziferisch". Darin klingt auch "luziferisch" an: die Eile ist des Teufels. In Faust II finden sich denn auch etliche "Kainszeichen der Selbstzerstörung". Im 5. Akt der Tragödie wirft Goethe den Blick auf die beiden Phänomene aller Übereilungen: Irrtum und Gewalt. Ungeduld vernichtet Klugheit, und so flüchtet Faust immer wieder in die "Schlechtigkeiten" der Gewalt.
Erst nach dem Tod von Philemon und Baucis erkennt er, dass seine Übereilung eine fatale Folge hatte: "Geboten schnell, zu schnell getan." Bereits erblindet, beschäftigt sich Faust mit modernen "Visionen". Auch ein groß angelegtes Entsumpfungsprojekt verdankt sich der Eile: "Was ich gedacht, ich eil' es zu vollbringen." Faust ist verblendet und denkt, dass das Klirren der Spaten mit der Arbeit am Graben zu tun hat. In Wirklichkeit gilt sie seinem eigenen Grab. Goethe hielt konsequent an einer Kultur der slow motion fest, „deren Bedeutung uns erst heute einzuholen beginnt.“ Die Natur war für ihn die Gegenwelt des Veloziferischen: Sie ist „die große Ruhe gegenüber unserer Beweglichkeit."
Mephisto hat Faust vom Anschauen der Natur entfernt - leider erkennt er dies zu spät: "Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen, stünd ich, Natur, vor dir allein, dann wär' es wert, ein Mensch zu sein." Dies weist auf Paul Virilios kulturkritischen Pessimismus voraus.
Ähnlich ist es auch bei Chamissos Peter Schlemihl: Er wird, nachdem ihn die Siebenmeilenstiefel mit äußerster Geschwindigkeit über die Grenzen der Gegenwart hinausbefördert haben, zum umherirrenden Fremdling, der die Zeit rasend erlebt. Mitgerissen in einem Hin und Her hat er keinen festen „Grund“ mehr zum Innehalten. Auch heute ist es so, dass mehr Raum in kürzester Zeit überwunden wird, je schneller man reisen kann. Der schwedische Osteuropa-Korrespondent und Schriftsteller Richard Swartz bemerkte einmal, dass wir uns auf unseren Pauschalreisen, die möglichst weit weg führen, einbilden, „wie ein Fliegender Holländer den Tod vom Leibe halten“ zu können: „Aber in der Eile vergessen wir unsere Seele. Wenn die Leute wirklich wüßten, wie leicht es ist, die Seele zu verlieren, würden sie wohl nicht soviel reisen.“
Im 20. Jahrhundert erinnerten sich auch einige Autoren an die Schlemihl-Novelle. Das zeigt beispielsweise ein Seitenblick auf Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“: „Ich bin wie der Mann, der seinen Schatten verkauft hat, oder besser, wie der Schatten des Mannes, der ihn verkauft hat.“ Die Zeilen der Unruhe erinnern uns daran, dass wir Zugeständnisse an die Langsamkeit in einer viel zu schnellen Welt brauchen, in der die Muße des betrachtenden Verweilens eine Ressource ist, die immer knapper zu werden droht.
Weiterführende Informationen:
Arane Barth: Im Reißwolf der Geschwindigkeit. Über die rasende Zeit der gehetzten Gesellschaft. In: Der Spiegel. Nr. 20. 43 (15.5.1989).
Stefan Breuer: Der Nihilismus der Geschwindigkeit. Zum Werk Paul Virilios, in: S. B.: Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation. Hamburg 1995, S. 155-186.
Alexandra Hildebrandt: Lebwohl, du heiterer Schein! Blindheit im Kontext der Romantik (Epistemata - Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft). Königshausen & Neumann. Würzburg 2002.
Jochen Hörisch: Non plus ultra. Paul Virilios rasende Thesen vom rasenden Stillstand, in: Merkur 47 (1993), H. 9/10, S. 784-794.
Mario Müller: Tempolimit für globale Raser. In: DIE ZEIT. Nr. 39 (17. September 1998). S. 26 (Wirtschaftsbeilage).
Gerhard R. Koch: Zeit lassen. In: FAZ. Nr. 170 (25. Juli 1998), S. 12.
Philippe Thureau-Dangin: Die Beine der Konkurrenz. In: FAZ (Bilder und Zeiten). Nr. 212 (12. September 1998). S. I f.
Richard Swartz: Wahl zwischen Kompaß und Zwirn. Über das Fliehen, die Heimkehr und das Licht der Wege - also über das Reisen. In: FAZ (Bilder und Zeiten). Nr. 284 (6. Dezember 1997).
Manfred Osten: Die beschleunigte Zeit. „Alles veloziferisch“ - Anmerkungen zur Modernität Goethes. In: DIE ZEIT. Nr. 35 (26. August 1999), S. 33-24. Hier: S. 33.
Dirk Schümer: Von der Sehnsucht, die Uhr zu besiegen. Der globalisierte Mensch in der Zeittrommel. In: FAZ (Bilder und Zeiten). Nr. 1 (2. Januar 1999), S. I f.
Paul Virilio: Der Negative Horizont: Bewegung - Geschwindigkeit - Beschleunigung. Berlin 1989.
Paul Virilio: Ereignislandschaft. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. München 1998.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.