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Motiv: Schöpferkraft, Schreibtisch in Goethes Gartenhaus, Weimar 2019. - Nicole Simon

Goethe lebt! Interview mit der Fotokünstlerin Nicole Simon

Die Fotokünstlerin Nicole Simon interessiert weniger die Wiedergabe der Orte und Gegenstände, die für Goethe von Bedeutung waren, als die Beziehung zwischen ihnen und dem, was die Welt auch heute im Innersten zusammenhält. Im Fokus ihres Projekts Goethe 21.0 steht unter anderem Goethes Weimar, eine Welt, in die er viele andere Welten hineingezogen hat: Das Große zeigt sich in den Bildern im Kleinen und umgekehrt, aber auch Weltgeschichte und alltägliches Tun und Wirken. Wie Goethe, der alles Erworbene sogleich verarbeitet und wieder neu hervorgebracht hat, antwortete sie gestaltend auf das, was ihr unterwegs begegnete.

Ihre Schwarz-Weiß-Bilder halten für Augenblicke die Zeit an und schärfen den Blick fürs Wesentliche. Die Farbfotos widmen sich Momenten des Übergangs von Lebensaltern, vom Tag in die Nacht oder vom Leben in den Tod. Sie plädieren dafür, anzunehmen, was jedem Menschen von Liebe, Glaube, Hoffnung übriggeblieben ist, sich auf die Gegenwart zu fokussieren und im Augenblick zu leben. Bilder und Texte zeigen auf schmerzliche und tröstliche Weise, dass erst die Zeitlichkeit dem Leben eine Form gibt und Fotografieren ein Versuch ist, es „bleibend“ auszusprechen.

Frau Simon, was fasziniert Sie an Goethe?

Er ist für mich “first-class“ in der Lyrik und ein Universalgenie, dessen Kunst zeitlos und zukunftsweisend ist. Sie wird nie an Aktualität verlieren. Das Wesentliche seiner Werke fügt sich für den Leser zu einem Big Picture zusammen, und in seiner Lyrik spiegelt sich die gesamte menschliche Gefühlspallette wider: Klarheit, Mut, Anspruch, Perfektion, Detail, Liebe, Sinnlichkeit, Verzweiflung, Leidenschaft, Hoffnung, Sanftmut, Stärke, Zuversicht, Geduld, Stolz, Anmut, Verlust und Demut sowie der Glaube. Selbstreflexion bedeutete für ihn Weiterentwicklung und inneres Wachstum. Alles, was sich in seinem Gemüt abspielte, konnte er in seiner Dichtung im Sekundentakt interpretieren. Die Vielfalt seiner Lyrik und der poetischen Tonalität zeigt seine innere Meisterschaft. Er war immer auf das Wesentliche fokussiert und blendete das aus, was für ihn nicht relevant war.

Was hat das mit Ihrer Arbeit als Fotografin zu tun?

Die Intention meiner Fotografie ist ähnlich - sie soll Gefühl und Klarheit zeigen. Meine Passion ist es, den Moment zu erkennen und ihn anzuhalten, um ihm die nötige Dauer geben zu können. Dabei spielt Effizienz bei der Umsetzung eine bedeutsame Rolle. Denn nur wer schnell und richtig handelt, wird belohnt. Die Bilder sind klassisch und modern gehalten, dadurch erhalten sie etwas Unbegrenztes. Mir gefällt es, wenn es gelingt, „aus wenig mehr zu machen“, und dem Bild zusätzlich eine magische Tiefe zu verleihen. Ich mag deshalb den puristischen Avantgarde Style, der die Klarheit der Linien und Formen durch schlichte Eleganz betont.

Goethe widmete sich nicht nur dem Großen, sondern auch dem Detail – wie Sie in der Fotografie…

Ja, er hatte den unstillbaren Drang, seine Sichtweise auf das Leben ständig weiterzuentwickeln, um sich als Mensch und Künstler verbessern zu können. Nur das ergab für ihn den essenziellen Sinn im Tun.

Warum können Sie das besonders gut nachvollziehen?

Wer die kleinen Dinge im Leben nicht erkennt und zu schätzen weiß, bekommt selten die Fähigkeit, das große Ganze („Big Picture“) wahrzunehmen. Goethe war von sich selbst überzeugt. Seine Botschaft – auch an die junge Generation von heute - ist: „Glaub an Dich und gebe nicht auf!“ Er fühlte sich in seiner Tätigkeit als Geheimrat in Weimar nicht frei und entschied sich für eine längere kreative Auszeit. So klagte er „Hätte ich mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen“. Das verstehe ich nur zu gut, denn man muss sich auch zurückziehen können, um richtig kreativ zu sein. Erst in den stillen Momenten kommt häufig die zündende Idee.

Goethe sah in der Natur etwas Göttliches. Spielt das für Sie auch eine wichtige Rolle?

Auch ich empfinde das so, denn diese wundervolle Natur mit all ihren Farben und Jahreszeiten kann kein Zufall sein. Ebenso empfinde ich diese Besonderheit des Göttlichen bei einigen Menschen. Ist aber leider selten.

Was bedeutet Ihnen das Goethe-Zitat: „Ein jeder, der nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“

Diese Aussage ist mir sehr wichtig, denn ich habe mir auch schön häufig die Frage gestellt, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich zehn Jahre später oder früher auf diese Welt gekommen wäre. Was wäre mit meiner Familie, und wie wäre ich als Person? Ich denke, dass ich genau diejenige geworden wäre, die ich heute bin, weil uns vieles bereits von Geburt an in die Wiege gelegt wird, und das Kreative in einem wohl auch verborgen ist. Im Laufe des Lebens wird das Bedürfnis immer stärker, diese Seite auszuleben. Ich würde meinen Weg zur Fotografie wieder wählen - mit allen Risiken. Denn es wurde mir gesagt: „Bitte mache das nicht, das ist zu risikoreich.“ Darüber dachte ich auch nach und ging trotzdem intuitiv den nächsten Schritt, und ließ mich dabei von meinem Bauchgefühl leiten. Deshalb verstehe ich Goethe in seinen Handlungen nur zu gut.

Wann haben Sie Goethe für sich entdeckt?

In meiner Schulzeit, als wir Goethe Teil des Lehrplans hatten, seitdem bin ich ein Fan.

Wie sollte Goethe heute in der Schule nähergebracht werden?

Das Emotionale und Zeitgemäße sollte nicht vergessen werden. Es braucht Lebendigkeit und mehr Ausdruck! Goethes Werke sind leidenschaftlich und sollten deshalb auch mit Gefühl vermittelt werden. Das gelingt möglicherweise durch schulische Theateraufführungen oder Social Media-Projekte wie die Twitter-Parade #100TageGoethe. Dadurch kann es gelingen, dass sich Jugendliche noch intensiver mit Goethe beschäftigen. Gerade heute, wo viele Menschen das Gefühl haben, dass die Zeit viel schneller vergeht als früher, wird die Bedeutung der Entschleunigung vergessen. Junge Menschen nehmen sich häufig nicht einmal mehr die Zeit, um ein Buch zu lesen und sind stattdessen nur mit ihrem Smartphone beschäftigt. Gerade deshalb ist es umso wichtiger, Goethe in den Schulalltag fest zu integrieren und richtig zu vermitteln, damit seine Aktualität verstanden wird. Denn er war ja auch cool und dazu noch intelligent.

Welches Werk von Goethe ist Ihnen besonders wichtig und warum?

Es ist der Roman „Die Leiden des jungen Werthers“, der aus einer unglücklichen Liebe heraus entstand. Aber auch der Faust ist mir sehr wichtig. Die Augen und Ohren weit auf zu machen, um erkennen zu können, was wir möchten und worin der tiefere Sinn liegt. Das hat viel mit meiner künstlerischen Arbeit zu tun. Vertrauen, Liebe und Klarheit ist für mich eine Königsdisziplin. Goethe bringt es wie immer auf den Punkt: „Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen“.

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang Erfahrungswissen?

An seiner Tragödie Faust hat Goethe fast 60 Jahre gearbeitet. Es ist also auch ein Lebenswerk, das all seine Erkenntnisse enthält. Dazu gehört auch, dass sich der Mensch immer mehr zu einem sittlich vollkommeneren Wesen entwickeln sollte. Was in jungen Jahren nur Gefühl war, wird später „vom Verstand gebändigt und veredelt“: „Allein wer andre wohl zu leiten strebt, Muss fähig sein, viel zu entbehren.“ Das ungebundene Gefühl und die Leidenschaft der Sturm und Drang-Zeit erlangte im Alter Festigkeit. Der Überschwang der Romantik, das Sich-Verlieren und Schwebende war ihm suspekt.

Was bedeutet Ihnen die Twitter-Parade #100Tage Goethe? Nach welchen Kriterien haben Sie das Bildmaterial ausgewählt?

Das Projekt ließ mich mit Bewunderung und Ehrfurcht an etwas Kunstvollen teilhaben. Bei sehr vielen Motiven spielt das Licht in Verbindung mit dem Gegenlicht der Sonne eine bedeutsame Rolle. Wir brauchen Licht, um kreativ zu sein - es wärmt unsere Seele. Ohne Licht können wir uns nicht weiter entwickeln, und alles gerät in Dunkelheit. Ich möchte mit meinen Bildern positiv auf die Intentionen der Goethe-Zitate aufmerksam machen, die ein wichtiger Bestandteil des Twitter-Projekts mit Damian Mallepree, Halil Topcuk und Dr. Alexandra Hildebrandt waren. Wir sollten lernen, mehr Licht in unser Bewusstsein zu lassen und den Glauben an das Gute stärken. Goethe beschreibt dies treffend: „Ich glaube, dass wir einen Funken jenes ewigen Lichts in uns tragen, das im Grunde des Seins leuchten muss und unsere schwachen Sinne nur von Ferne ahnen können. Diesen Funken in uns zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht“.

Weiterführende Informationen:

Nicole Simon und Alexandra Hildebrandt: Goethe 21.0. Was die Welt im Innersten zusammenhält. Kindle Edition 2020.

Halil Topcuk: „Eigentlich wollte ich die Welt retten.“ Die Generation Y entdeckt Goethe.

Damian Mallepree: Mit Goethe lernen. Wie der Einzelne mit gesellschaftlichen Umbrüchen umgehen kann.

Beide in: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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