Grau: zum maßgeblichen Farbwert der Gegenwart
Das Graue, das früher für schlechtes Wetter, Trübsinn oder Sehschwäche stand, ist heute zu einem Understatement geworden. Der Philosoph Peter Sloterdijk erklärt Grau sogar zum „maßgebenden Farbwert der Gegenwart“.
In seinem aktuellen Buch beschreibt er die Grauzonen der Philosophie, der Politik, der Fotografie, der Literatur und des Christentums. Sein Buchtitel „Wer noch kein Grau gedacht hat“ bezieht sich auf einen Satz von Paul Cézanne: „Man ist kein Maler, solange man nicht ein Grau gemalt hat. Der Feind aller Malerei ist Grau, sagt Delacroix. Nein, man ist kein Maler, solange man nicht ein Grau gemalt hat.“ Ein Meister der grauen Farbe ist für ihn auch Gerhard Richter, dessen Ölgemälde „Italienische Landschaft“ (1967) auf dem Umschlag von Sloterdijks Buch abgebildet ist. Der Maler wird mit den Worten zitiert, dass Grau für ihn „die willkommene und einzig mögliche Entsprechung zu Indifferenz, Aussageverweigerung, Meinungslosigkeit, Gestaltlosigkeit“ sei.
Grau ist auch die Farbe politischer Verhandlungen und der Diplomatie, weil sie Denk- und Gesprächsräume öffnet.
Willy Brandt sagte einmal: „Ich glaube nicht, dass diejenigen Recht haben, die meinen, Politik besteht darin, zwischen Schwarz und Weiß zu wählen. Man muss sich auch häufig zwischen den verschiedenen Schattierungen des Grau hindurch finden.“ Sloterdijk spürt den Grauwerten in Platons Höhlengleichnis sowie als Farbe der Philosophie bei Hegel, Heidegger und Nietzsche (der das Grau der Felsen und Steine als „geistige Befreiung“ empfand) nach. Er widmet sich ebenso Ludwig Wittgensteins These, wonach sich so etwas wie ein "leuchtendes Grau" nicht denken lässt und fragt sich, warum eine bekannte deutsche Auto-Marke heute ca. 110 verschiedene Grauton-Lackierungen im Angebot hat. Aber auch Papst Franziskus, der sich 2014 an die "grauen Christen" als "die Kinder der Grauzone", wandte, spielt eine wichtige Rolle.
Fündig geworden ist Sloterdijk auch in der Literatur (Philippe Claudels Roman „Die grauen Seelen“, Cormac McCarthys Roman „Die Straße“, bei Puschkin, Vladimir Sorokin, Thomas Mann, in Adalbert Stifters autobiografischem Bericht „Aus dem Bairischen Walde“). Chamissos Geld und Schattennovelle „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1814) ist leider nicht erwähnt, obwohl sich gerade hier alle Aspekte des Buches komprimiert finden (vom Höhlengleichnis bis zum Schatten und „Grauen“): Der rastlose Schlemihl nimmt den Teufel, dem er seinen Schlagschatten vermacht, als grau wahr. Er erkennt nicht mehr Sinn und Ziel seiner eigenen Existenz. Die Missachtung der Natur wird von ihm mit Sturz, Krankheit und einer beschleunigten Lebenszeit bezahlt. Erst das Einsiedlertum lässt ihn zur Ruhe kommen. Der in Grau gekleidete „dünne, hagre, länglichte, ältliche Mann“ verfolgt Peter Schlemihl mit „scharfen Worten“: „Was Sie versäumt haben, aus frischer Lust zu tun, werden Sie, nur zu spät, aus Überdruß und Langeweile nachholen müssen; man entgeht seinem Schicksale nicht.“ Grau und Schatten stehen traditionell für das Leblose und Unfruchtbare. Die Bedeutungen dieser Zwischenfarbe reichen in Chamissos Schlemihl-Dichtung von Müdigkeit und Melancholie bis zur Darstellung des Todes und des Teufels.
Die Novelle des Weltbürgers und Dichters Chamisso sowie die Beschäftigung mit der Farbe Grau kann uns darin unterstützen, unsere Gegenwart besser zu verstehen.
„Es geht wohl darum, den Ton zu treffen. So viel Grau wie nötig, mitsamt den Tönen des Himmels und der Meere“, so Sloterdijk. Das Ausmaß des Grauen fand sich vor einigen Jahren zuerst bei der Blue Jeans („Mister Grey“), dann folgten Sofas in Asche und Schiefer. Doch schon in den 1980er Jahren gestaltete Georgio Armani die Inneneinrichtungen seiner Boutiquen am liebsten in Grau. Schwarz und Weiß macht das Denken vielleicht bequemer und die Sicht auf die Welt einfacher - aber besser und innovativer spannender ist es nicht. Neues entsteht immer dort, wo es keine Abgrenzung gibt, sondern Übergänge und Zwischentöne.
Auch das Thema Nachhaltigkeit, das jahrelang mit Grün assoziiert wurde, findet mittlerweile im Graubereich statt.
In diesem Zusammenhang lohnt auch ein Blick auf die Produktwelt. Grau wird beispielsweise in ökologischen Onlineshops häufig mit Recycling verbunden (Briefumschläge, Versand- und Kuvertiertaschen, Ordner, Visitenkarten-Etuis, Präsentationskoffer). Produkte, die unter dem Namen „Grüne Welle“ sind auch nicht mehr grün, sondern grau (Stifteköcher, Briefablagen, Buchstützen Hängemappenboxen aus Recyclingkunststoff). Aber auch Großraum-Kombi-Schließfachschränke oder Gartenbänke sind vielfach in Grau gehalten. Außen- und Innenwelt verschmelzen heute zu einem Farbraum. So setzt sich die Farbgebung auch in der Einrichtung (graue Kissen und Schlafsofa) und Bekleidung (Sweatjacken, Shorts, Schlafanzüge) fort (Quelle: memolife).
Die Farbe Grau (2021 Farbe des Jahres) steht auch dafür, in Krisenzeiten einen klaren Blick für den Ernst der Lage zu behalten und dennoch die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Farbe steht heute für Solides, Resilienz, Kraft, Mut, Stärke und Zuversicht. Deshalb finden sich auch häufig Farbkombinationen aus Grau und Gelb – eine Stimmung zwischen Angst und Zuversicht. „Die beiden Farben drücken auch den Zeitgeist aus - die notwendige Balance zwischen Energie und Ruhe, das Ausgleichende und das Belebende“, sagt Claudia Silber, Leiterin der Unternehmenskommunikation beim Ökoversender memo. Dass die Ruhekissen, Yogamatten oder Meditationsbänke heute auch in Grau gehalten sind, ist kein Zufall. Wo es um das Wesentliche geht, braucht es keine Ablenkung.
Weiterführende Informationen:
- Grau vereint Natur und Zivilisation: Ein Plädoyer für das Dazwischen
- Abschöpfung statt Wertschöpfung: Warum der Mann ohne Schatten so aktuell ist
- Meditieren statt joggen: Warum immer mehr Manager nach innen gehen
- Anke Eberhardt: Grauzone. In: Süddeutsche Zeitung (9./10.1.2016), S. 55.
- „Der Himmel kann es doch“. Peter Neumann im Gespräch mit Peter Sloterdijk. In: DIE ZEIT (28.4.2022), S. 57.
- Alexandra Hildebrandt: Lebwohl, du heiterer Schein! - Blindheit im Kontext der Romantik. Epistemata Literaturwissenschaft. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.
- Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Shrkamp Verlag, Berlin 2022.
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