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Grundsatzfragen zur Nachhaltigkeit: Warum wir eine ganzheitliche Wirtschaftswissenschaft brauchen

Ökonomie muss wieder in breitere Kontexte eingebettet werden

Millionen junger Menschen studieren heute an Tausenden von Business Schools und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten Ökonomik oder besuchen einführende Vorlesungen in ihren Curricula. In den vergangenen Jahrzehnten erfolgte jedoch eine dramatische Verengung der Lehrpläne. „Vieles entstammt aus Lehrbüchern aus den 1950er-Jahren, die auf den Theorien von 1850 beruhen“, kritisiert die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth in ihrem Buch „Die Donut-Ökonomie“. Erschwerend kommt hinzu, dass jede Denkschule ihre eigenen Plattformen wie Fachzeitschriften, Konferenzen, Lehrbücher oder Forschungseinrichtungen hervorgebracht hat.

Kritik an der Mainstream-Ökonomik von Ökonom*innen, die sämtliche Ebenen der Wirtschaftswissenschaft betrifft, übt auch Christian Felber in seinem aktuellen Buch „This is not economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft“, in dem er Grundsatzfragen nach den Wurzeln der Disziplin und den Gründen der fatalen Verirrungen stellt. So fragt er beispielsweise, warum sich die Wirtschaftswissenschaft ausschließlich auf Angebot und Nachfrage von Gütern konzentriert, die einen Preis haben? „Der wichtigste und essenzielle Kontext allen menschlichen Wirtschaftens“ sind für ihn „der Planet Erde und seine Ökosysteme.“ Die Trennung von Ökonomie und Ökologie ist seiner Meinung nach einer der gröbsten Sündenfälle der Wirtschaftswissenschaft, der Kritikoffenheit, Selbstreflexion und Demut gerade jetzt gut zu Gesicht stünde. Beklagt wird vor allem, dass wesentliche Umfelder und Grundlagen des Wirtschaftens wie Ökologie, Ethik oder Demokratie-Theorien bestenfalls Marginalia in der Lehre sind oder gar nicht behandelt werden. Viele Ökonomik-Kurse verweisen bei ethischen Fragestellungen auf das Philosophie-Studium, dabei sollten gesellschaftliche Fragen und kritische Diskussionen das studentische Leben prägen.

Ähnlich kritisch äußerte sich bereits 2013 der Autor und Ökonom Benedikt Herles, Jahrgang 1984: „Eigennutz ist rational“, lautete das Credo seiner Lehrpläne. Psychologie, Politikwissenschaften, Soziologie und Philosophie hatten darin keinen Platz. Seine Vorlesungen „propagierten kurzfristige Profit-Maximierung durch Finanzmathematik, Anlage- und Unternehmensstrategien, lehrten aber wenig über gesellschaftliche Verantwortung.“ Es wunderte ihn deshalb nicht, dass sich Querdenker und Idealisten kaum für ein wirtschaftswissenschaftliches Studium interessierten.

Wir brauchen heute umfassende und universelle Ansätze, die die Stärke von Interdisziplinarität nutzen und die künftige Generation von Denkern und Machern zugleich darin unterstützt, das Lernen neu zu lernen, alte Vorstellungen durch neue zu ersetzen und neue Denkansätze in der Praxis zusammenzuführen. Um die aktuellen und künftigen Herausforderungen zu meistern, braucht es ein neues ökonomisches Denken, das niemals abgeschlossen ist und sich ständig weiterentwickelt. Deshalb möchte Christian Felber Studierenden alternative Vorstellungen von Wirtschaft und Wissenschaft anbieten und Werkzeuge in die Hand geben, das, was sie im Studium kennengelernt haben, zu hinterfragen, zu reflektieren und zu dekonstruieren, denn es gibt nicht nur eine ökonomische „Denkweise“ (Mankiw), sondern viele. Eine integrale Wirtschaftswissenschaft basiert auf einer reflektierten wissenschaftstheoretischen Grundlage und legt ihre Annahmen und Werte offenlegt, die dem Gemeinwohl dient.

Matrix der Nachhaltigkeit: Was wir durch Gemeinwohl-Ökonomie gewinnen

Christian Felber gehört zu jenen, die gesellschaftlichen Wandel als ihr primäres Ziel deklarieren und nicht darauf warten, bis andere handeln. 2010 initiierte er die internationale Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung sowie das Projekt „Genossenschaft für Gemeinwohl“. Er wollte keine wissenschaftliche Theorie vorlegen, sondern eine konkrete Alternative, die auch Menschen ohne (abgeschlossenes) Studium verstehen, praktisch anwenden und weiterentwickeln können. Der Kerngedanke der GWÖ ist, dass der monetäre Gewinn nicht länger Zweck des unternehmerischen Handelns sein soll, sondern lediglich das Mittel, um den eigentlichen Zweck zu erreichen (einen größtmöglichen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten).

Die Bewegung wächst weltweit. Es gibt mehr als 11.000 Unterstützer*innen, 4.000 Aktive in über 150 Regionalgruppen, 31 Vereine, 500 bilanzierte Unternehmen, knapp 60 aktive Städte und Gemeinden sowie 200 engagierte Hochschulen (Stand: 05/2019). In der „Gemeinwohl-Bilanz“, dem Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie, werden Werte wie Transparenz, soziale Verantwortung, ökologisch nachhaltiges Wirtschaften und gesamtgesellschaftliche Solidarität gemessen. Es werden Punkte auf einer Skala von -2.850 bis +1.000 vergeben. Kern ist die Analysematrix mit 17 Indikatoren, die auf einer DIN A4-Seite Platz finden. Sie verbindet Werte wie ökologische Verantwortung, Gerechtigkeit, Transparenz und Mitbestimmung mit den Berührungsgruppen eines Unternehmens, das mit Hilfe der „Matrix“ dokumentiert, wie es humanistische Werte gegenüber Mitarbeitern, Lieferanten, Kunden, Investoren und der Gesellschaft lebt. Ergänzt wird die Analysematrix von einem dazugehörigen Handbuch, das Anregungen und Best-Practice-Beispiele enthält. Beide sind kostenlos erhältlich.

Das Punktesystem ermöglicht die Einordnung des eigenen Engagements und damit die Grundlage für eine konsequente Nachhaltigkeitsstrategie. Je höher die Punktezahl, umso mehr Vorteile können dem Unternehmen gewährt werden: günstigerer Mehrwertsteuersatz, niedrigerer Zoll-Tarif, günstigerer Kredit bei der „Gemeinwohl-Bank“ oder Vorrang im öffentlichen Einkauf. Die „Gemeinwohl-Bilanz“ ist ein Strategie- und Steuerungsinstrument der Unternehmensführung – unabhängig von der Größe der Organisation. Auch wenn Unternehmen verschiedene Wege und Orientierungsrahmen im Nachhaltigkeitsmanagement zur Verfügung stehen wie EMAS Plus, UNGC, OECD-Leitsätze, Deutscher Nachhaltigkeitskodex, ISO 26000 und Global Reporting Initiative (GRI), so überfordern viele Standards gerade kleine Unternehmen: Die Auditierungs- und Lizenzierungskosten sind hoch, und der Schwerpunkt dieser Standards liegt vor allem auf einer Berichterstattung als auf einer gezielten nachhaltigen Entwicklung.

Die GWÖ-Bilanz wird im ersten Schritt als Selbsteinschätzung in Form eines ausführlichen GWÖ-Berichts erstellt. Anschließend prüft und bewertet ein externer GWÖ-Auditor die Angaben. Mit Hilfe eines Punktesystems ergibt sich ein direkter Vergleich zwischen der Selbsteinschätzung und der Einschätzung des externen GWÖ-Auditors. Resultate werden im Audit-Bericht veröffentlicht. Das dazugehörige Testat gibt die Bilanzsumme (die erreichte Gesamtpunktzahl) bekannt. Daran lässt sich der Beitrag, den das Unternehmen für das Gemeinwohl leistet, messen und vergleichen. Ein Gewinninteresse ist mit der Zertifizierung nicht verbunden, auch fallen keine Lizenzkosten an. Veränderungen im Bewertungsrahmen werden öffentlich diskutiert und dokumentiert.

Weltweit engagieren sich immer mehr Menschen, die Korrekturen in der Wirtschaft für notwendig halten und sich für den GWÖ-Ansatz aussprechen

Ökonomischer Erfolg wird hier nicht nur in Geld, sondern mit nicht-monetären Nutzwert-Indikatoren gemessen –auf der Ebene des Unternehmens als auch der Volkswirtschaft. Die Bewegung versteht sich als partizipativer, lokal wachsender Prozess mit globaler Ausstrahlung. So entstehen beispielsweise in den USA immer mehr „B Corps“ oder „Benefit Corporations“, die als „Wohltat-Unternehmen“ seit 2014 gesetzlich zugelassen sind und eine formalisierte Version der Google-Maxime darstellen: „Tue nichts Böses“. Auch hier wird nicht nur auf Gewinne geachtet, sondern auch auf soziale und ökologische Aspekte.

Weiterführende Informationen:

Christian Felber: This is not economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft. Deuticke in der Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019.

Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: CSR und Nachhaltigkeitsmanagement richtig umsetzen: Die wichtigsten Schritte und Werkzeuge - mit zahlreichen Praxistipps und Mustervorlagen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Benedikt Herles: Die kaputte Elite. Ein Schadensbericht aus unseren Chefetagen. München 2013.

Kate Raworth: Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. Carl Hanser Verlag, München 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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