Gute Wegweiser hinein in die lebendige Natur
Die Kunst des klugen Fragens
Eichhörnchen sollten nicht nur als „lustiges Beiwerk“ zu einem Spaziergang im Stadtpark betrachtet werden. „Was wir an ihnen sehen, sind Facetten ihres Lebens, über die nachzudenken lohnt“, schreibt der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf in seinem Buch „Das Leben der Eichhörnchen“, dessen Leitfrage lautet: Warum verhalten sich die Eichhörnchen so, wie sie das tun? Das Warum führt zurück auf das kindliche Fragen, das Antworten finden und komplexe Zusammenhänge verstehen möchte.
„Die Schwanzhaltung dürfen wir sogar wie ein Fragezeichen deuten; ein Zeichen, das offenlässt, was im nächsten Moment geschehen wird“, schreibt Reichholf. Der Universalgelehrte hat den analytischen Blick für die großen Zusammenhänge, nimmt aber auch Details und Nebensächlichkeiten ernst. Er beschäftigt sich in seinem Buch mit Fragen des Stoffwechsels und Nestbaus, belegt die Beziehung zwischen Geburtenrate und Entwicklungsgeschwindigkeit des Nachwuchses und erkennt in der Feindseligkeit gegen den Fremdling einen Mangel an Sachkenntnis. Reichholf listet die verschiedenen Arten der Nagetiere auf, von denen es 2.280 verschiedene gibt - mittendrin das Eichhörnchen. Er widmet sich ihrer Verwandtschaft, zu denen auch der Siebenschläfer gehört. Einer von ihnen („Schmurksi“) lebte bei Familie Reichholf, die das Tierjunge großzog.
Der Evolutionsbiologe sieht viele Facetten und Perspektiven gleichzeitig, erfasst das große Ganze und widmet sich mit gleicher Hinwendung dem Detail. Die Fragen in seinem Buch laden zur Reflexion und Klärung ein, denn sie schärfen unseren Blick und unsere Art, genauer hinzusehen, um dabei auch viel über uns zu lernen:
Warum rangieren auf der Beliebtheitsskala von uns Menschen Eichhörnchen ganz oben?
Weshalb haftet ihnen ein koboldhafter Zauber an?
Warum sollte man sich vom Eichhörnchen nicht beißen lassen?
Wo leben diese Tiere im Winter?
Wie paaren sie sich, und wo ziehen sie ihre Jungen auf?
Wie verhalten sich Sauerstoffverbrauch und Körpergröße zueinander?
Was sagt die relative Darmlänge über den Aufwand an Energie, der nötig ist, bis die Nahrung zur Ernährung wird?
Welche Verbindung besteht zwischen der Zusammensetzung der Muttermilch und dem Spieltrieb?
Was bedeuten die Haarbüschel („Hörnchen“) an den Ohren?
Warum sehen wir in manchen Jahren Eichhörnchen mehr als in anderen?
Woher kommt der Spruch "Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen"?
Die niedlichen Nager haben Literaten und Maler schon immer fasziniert
In der isländischen Textsammlung „Edda“ aus dem 13. Jahrhundert gibt es eine Erzählung von der Weltenesche Ygdrassil. In ihren Wipfeln wohnt ein Adler, und an ihren Wurzeln haust ein Drache, der die dunklen und bösen Mächte verkörpert. Das Eichhörnchen bewegt sich als eine Art Mittlerfigur zwischen beiden. Im 16. Jahrhundert platzierte der flämische Maler Michiel Coxcie in seinem Gemälde vom Sündenfall ein Eichhörnchen als Symbol des Teufels zu Evas Füßen. Die surrealistische Künstlerin Meret Oppenheim nannte 1969 ein Objekt „Eichhörnchen“, bei dem sie den Griff eines Bierkrugs durch den riesigen Schweif eines Nagetiers ersetzte. Die meisten Künstler haben in ihm jedoch ein Sinnbild für Fleiß gesehen und waren von seinem niedlichen Wesen fasziniert.
„Dies Geschöpfchen, eine Nuss eröffnend, besonders aber einen reifen Fichtenzapfen abspeisend, ist höchst graziös und liebenswürdig anzuschauen“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe, der Eichhörnchen liebte.
Was uns mit Eichhörnchen verbindet
Das Leben der Nager ist hart, denn sie müssen ohne Winterschlaf durch die kalte Jahreszeit kommen und sich „abrackern“, um an Eicheln, Bucheckern, Hasel- und Walnüsse und all die anderen Samen und Früchte zu kommen. „Für uns allerdings sind sie ideale Wegweiser, mit deren Hilfe wir die Mechanismen und Grundlagen der Natur besser verstehen“, so Reichholf.
Mensch und Eichhörnchen sind sich nicht nur in ihrer enormen Energie ähnlich. Sie lieben wie wir Frühstückseier und können zuweilen sogar eine ähnliche Körperposition wie wir. Auch sind sie hervorragende „Handwerker“. Reichholf beschreibt nicht nur den Bau des Eichhörnchens, sondern auch die Behausungen ihrer Verwandten: Vom kleinen Nest der Feldmaus bis hin zu den Bibern, die bekannt für ihre Dammbauten sind, mit denen sie Bäche aufstauen und sogar künstliche Teiche anlegen. Sie können ihren Damm öffnen, um Hochwasser rascher ablaufen zu lassen und ihren Damm so zu schützen. „Biber transportieren Schlamm vom Gewässergrund auf Händen zu den Dämmen oder zu der Burg, die sie bauen, und sichten Ritzen und Fugen ab. Aus Astwerk gebaute Biberdämme werden dabei wasserdicht. Sie stauen den Bach oder kleinen Fluss auf die von Bibern benötigte Wassertiefe. Alles Handarbeit!“
Die Vorderextremitäten der Eichhörnchen können wie die menschliche Hand als Multifunktionswerkzeug verwendet werden. Niststoffe bearbeiten sie intensiv mit ihren Vorderpfoten. Im Sommer halten sie meistens um die Mittagszeit stundenlang Siesta. Sie haben ein stressempfindliches Herz und verbrauchen beim Klettern und Springen viel Energie.
Ein verwaistes Eichhörnchen kann man nicht einfach aufnehmen und pflegen, denn dazu ist eine artenschutzrechtliche Ausnahmeerlaubnis erforderlich. Reichholf kritisiert, dass die Forstwirtschaft wiederum „bei der Holzernte genehmigungsfrei die Nester mit den kleinen Jungen darin vernichten“ darf. Natur ist für den Evolutionsbiologen „das, was selbstständig existiert. Existenz und Wirken der Menschen schließt dies nicht aus. Insofern bin ich anderer Meinung als viele Naturschützer. Natur in der Stadt ist daher für mich kein Widerspruch“. Die Tiere kamen in die Städte, weil sie dort freier und sicherer sind „und nicht wie auf dem Land aus reinen Nützlichkeitserwägungen zum Feind erklärt wurden.“
Zuweilen wird Reichholf für seine berechtigte Kritik angefeindet. Doch damit kann er umgehen, denn seine geistige Freiheit und kritische Distanz war ihm, der niemals von Drittmitteln in der Forschung abhängig war, immer besonders wichtig.
Prof. Dr. Josef H. Reichholf, 1945 in Niederbayern geboren, war bis April 2010 Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München und Professor für Ökologie und Naturschutz an der Technischen Universität München. Er ist Träger der „Treviranus-Medaille“, der höchsten Auszeichnung der Deutschen Biologen, und des Grüter-Preises für Wissenschaftsvermittlung. 2007 wurde er zudem mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. 2010 wurde sein Bestseller „Rabenschwarze Intelligenz“ als „Wissenschaftsbuch des Jahres“ prämiert. Zuletzt erschienen von ihm Evolution – Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur (2016), der als Wissensbuch des Jahres ausgezeichnete Band „Symbiosen“ und „Haustiere“ (beide 2017 in der Reihe Naturkunden), Schmetterlinge - Warum sie verschwinden und was das für uns bedeutet (2018) sowie Das Leben der Eichhörnchen (2019).
Weiterführende Informationen:
Josef H. Reichholf: Das Leben der Eichhörnchen. Illustriert von Johann Brandstetter. Carl Hanser Verlag, München 2019.
Josef H. Reichholf: Mein Leben für die Natur. Auf den Spuren von Evolution und Ökologie. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015.
Josef H. Reichholf: Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2008.