Im War for Talents sind Bewerber die Verlierer
Der Kampf um die besten Talente tobt. Arbeitgeber rüsten ihr Recruiting auf, Bewerber pushen ihre Lebensläufe in die Welt hinaus. Beide Seiten stöhnen und finden nicht so richtig zusammen. Was läuft im Bewerbermarkt schief?
Ein Blick hinein in die Hochschulen, die Welt der Job- und Karriere-Messen, der wie Pilze aus dem Boden sprießenden Online-Stellenbörsen oder der Berater und Dienstleister im Recruitingmarkt zeigt es: Der Kampf um die besten Talente tobt und wird zunehmend härter.
Und so ködert der kleine Pflegedienst seine neuen Mitarbeiter nicht nur mit unbefristeten Arbeitsverhältnissen und Mitsprache bei der Dienstplangestaltung, sondern mit dem Firmenwagen zur privaten Nutzung oder dem Urlaub in den firmeneigenen Ferienhäusern an der Ostsee.
Auch die großen Player rüsten auf und greifen tief in die Kassen: Sei es die Unternehmensberatung, die infolge ihrer Grow-or-Go-Politik jedes Jahr einen immensen Bedarf an frischen Absolventen hat und sie zu Workshops nach Mailand statt ins triste Büro zum Assessment-Center einlädt, oder der Traditionskonzern, der voller Spirit Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten vollmundig eine Karriere nach der Tripple-Two-Philosophie inklusive Jobrotation verspricht – was auch immer das zu bedeuten hat.
Geld allein macht Recruiting nicht erfolgreich
Manager tun, was sie gerne tun, um Probleme kurzfristig zu lösen: Sie stocken Budgets auf. In diesem Fall für HR-Kampagnen, Sichtbarkeit auf Karriere-Messen, pompöse Recruiting-Events und gut klingende Karriere-Websites mit bunten Bildern glücklicher Mitarbeiter.
Sie stellen Social-Media-affine Mitarbeiter im neu geschaffenen Employer-Branding-Team ein und investieren Millionen in schicke Bewerbermanagement-Systeme – natürlich alles für die beste Candidate Experience.
Doch es ist ein Denkfehler, dass Geld allein Recruiting erfolgreich macht.
Was bringt es, wenn mit Top-Arbeitgeber Siegeln werbende Unternehmen imposante Stände auf Karriere-Messen errichten, doch Bewerber dort von HR-Verantwortlichen Visitenkarten in die Hand gedrückt bekommen mit der Bitte, auf der Homepage selbst nach offenen Stellen zu suchen?
Was bringt es, in die Arbeitgebermarke zu investieren, sich in Hochglanzbroschüren gut klingenden Werten zu verpflichten, doch dem Bewerber mit der standardisiert unpersönlichen Absagemail mitzuteilen, dass er sich in den nächsten Jahren nicht wieder bewerben soll?
Was bringt es, Mitarbeitern Kickertische, frisches Obst und eine gute Work-Life-Balance zu versprechen, wenn Jobwechsler aus den AGG-konformen und profillosen Stellenanzeigen nicht mehr erkennen können, um welche Aufgaben es geht und wer tatsächlich gesucht wird?
Bewerber sind die Verlierer im War for Talents
Auf der anderen Seite sehen sich Absolventen und Jobwechsler mit einer immer größeren Vielfalt an Möglichkeiten konfrontiert, die ihnen von außen suggeriert wird. Die Komplexität der Einstiegs- und Entwicklungsoptionen ist schier unüberschaubar geworden. Was einerseits bunte Karrieren und Chancen zur Veränderung eröffnet, führt doch bei Bewerbern vor allem zu großer Unsicherheit sowie Angst über ihre berufliche Zukunft.
Digitalisierung sei Dank können sie einfach per Knopfdruck ihre Lebensläufe in die ganze Welt verschicken. „Ich weiß nicht genau, was ich kann und wohin ich möchte, aber irgendwo wird es schon klappen!“, so die Haltung vieler Bewerber, die mir begegnen. Das Angebot „Per Klick zum Traumjob“ hat Suchende zur Strategie „Per Massenpost zum Job.“ verleitet. Eine Entwicklung, die Kandidaten für Recruiter immer weniger greifbar und damit im Auswahlprozess immer schlechter individuell bewertbar macht.
Die durchoptimierten Standardbewerbungen enthalten heute genauso viele nichtssagende Keywords wie die meisten Stellenanzeigen. Bewerber lernen brav die besten Antworten auf die Standardfragen von Personalern auswendig und spulen sie im Gespräch ab. Sie haben Angst vor der Macht der Recruiter und Sorge, es könne etwas ans Licht kommen, was ihnen die Chance auf den Traumjob nimmt. Selbst die kürzeste Phase einer Arbeitslosigkeit wird als Sabbatical oder Zeit der Neuorientierung getarnt, um der Suche nach Lücken im Lebenslauf zu entfliehen.
Ich habe selten eine so große Unsicherheit und so ein mangelndes Selbstbewusstsein bei Bewerbern erlebt, wie heute. Sei es der Abiturient, der nach dem passenden Einstieg Ausschau hält oder der erfahrene Manager auf dem Sprung aufs nächste Karriere-Level. Manchmal kommt es mir so vor, als ob die attraktivsten Talente vor den mächtigen Recruiting-Maschinerien der händeringend suchenden Arbeitgeber verängstigt in Deckung gehen.
Trotz Digitalisierung geht es um Menschen
Es geht auch anders. Werfe ich einen Blick auf die vielen positiven Beispiele, in denen sich Arbeitgeber und Bewerber gut gefunden haben, dann sind es Klarheit in der Kommunikation sowie echtes Interesse auf beiden Seiten, die sie zueinander geführt haben.
Als Arbeitgeber das Bewusstsein, welche Kompetenzen, Erfahrungen und Persönlichkeit den idealen Bewerber ausmachen und die entsprechende Klarheit in der Ansprache. Die echte Neugierde im Gespräch, was ein Bewerber alles mitbringt und was an Potenzialen noch verborgen ist und entwickelt werden kann. Das wahre Interesse, was einem Menschen wichtig im Beruf ist und der ehrliche Abgleich von alledem mit der zu besetzenden Position.
Als Bewerber die Investition in Zeit, sich selbst über attraktive Arbeitgeber und Positionen bewusst zu werden. Die Kreativität, gezielt nach interessanten Stellen zu suchen. Die Lust, alles über das Unternehmen, seine Produkte und die beschäftigten Personen zu erfahren. Die Klarheit, echte Motivation mit einer einzigartigen Bewerbung zu vermitteln. Kante zu zeigen, um sich als Bewerber greifbar zu machen. Die Neugierde, die zukünftige Aufgabe, den Chef und die Kollegen unter die Lupe zu nehmen und der Mut, eine Stelle auch abzulehnen, wenn es nicht passt.
So sieht mein Idealbild einer Haltung zweier Interessenten auf einem funktionierenden Recruiting- und Bewerbermarkt aus. Auch wenn es heute vielfach nicht so ist, können beide Seiten daran arbeiten. Indem sie Klarheit im eigenen Bewusstsein und auch in der Kommunikation nach außen schaffen. Indem sie mit dem irreführenden Schauspiel aufhören, sondern ein echtes Interesse entwickeln, sich gegenseitig zu öffnen und wertschätzend zu prüfen, ob es wirklich passt.
Weder das größte Budget für Recruiting-Kampagnen noch die ausgefeilteste Bewerbung führen zum Ziel, sondern die richtige Haltung als Mensch anderen Menschen gegenüber.
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Insider for Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung