Coverausschnitt: XXL Stephen Wilkes. Day to Night Stephen Wilkes, Lyle Rexer (TASCHEN) - Steven Wilkes

Im Zeitraffer: Fotokunst im Zeitalter der Komplexität

Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen und unterschiedlichen Handlungen ist ein Charakteristikum von Komplexität und unserer Gesellschaft. Das kann faszinieren und überfordern. Der Umgang mit Komplexität wird künftig nicht einfacher. Ein intelligenter Umgang mit Komplexität benötigt deshalb eine hohe Reflexionsfähigkeit und einen experimentellen und spielerischen Zugang, wie ihn der amerikanische Fotograf Stephen Wilkes in seiner Serie Day to Night entwickelt: Auf seinen Bildern wird die Zeit nicht angehalten, sondern gerafft und zu einer Vision geformt. Das ist beispielsweise auch für das Innovationsmanagement von Unternehmen interessant, denn dadurch erschließen sich immer neue Zusammenhänge, die auf einen Blick besser erfasst werden. Wir brauchen heute den Panoramablick genauso wie den Blick aufs Detail. Das muss immer wieder geübt werden und ist nicht selbstverständlich. Die Auseinandersetzung mit Künstlern kann dabei ein wichtiger Wegweiser sein.

Visionäre Innovationen

Bei Wilkes‘ Ansatz verschmelzen technisches Know-how und künstlerisches Konzept zu einer visionären Innovation. Er hat den Spielraum fotografischer Bildgestaltung unter Einsatz neuester Digitaltechnik erweitert und das Repertoire vergrößert, mit dem die Fotografie sich ihrem zentralen Thema nähert: dem Erfassen von Zeit. Als Problemlöser versucht er, die praktischen Grenzen des Mediums mithilfe des technischen Fortschritts zu überwinden.

Stephen Wilkes fotografiert für Vanity Fair, Time, Fortune, National Geographic und Sports Illustrated und wird bei Werbekampagnen für Nike, American Express, Sony und Rolex gebucht. Seine Werke finden sich in den Sammlungen vieler Museen, darunter das Houston Museum of Fine Arts, das Museum der Stadt New York und das 9/11-Memorial-Museum. Er erhielt unter anderem den Alfred-Eisenstaedt-Preis für Zeitschriftenfotografie und war in der Top-Ten auf der TIME-Magazine-Bestenliste „Foto des Jahres 2012“.

Bei Tausenden auszuwertenden Einzelbildern kann die Fertigstellung einer Fotografie bis zu vier Monate dauern. Obwohl sich Wilkes auf Computer und digitale Aufnahmetechnik stützt, sind in seinem Studio in Connecticut auch zahlreiche Arbeitsabzüge zu finden. Der Fotokünstler muss physisch vor Augen haben, wie seine Bildauswahl funktioniert, ob sie die Rhythmen und Übergänge von Tag und Nacht präzise wiedergibt. Der Computer ist für ihn dennoch essenziell.

24 Stunden waren die nötige Zeit, um einen Übergang von Tag zu Nacht und Nacht zu Tag sehen zu können. Wilkes fragte: „Was bedeutet ein Tag?“ Als Antwort darauf entwickelte er folgende Herangehensweise: Hatte er eine Szene als Bildmotiv ausgewählt, ermittelte er einen exakten Standort, der ihm eine möglichst freie Sicht auf die Szene bietet. Dann legte er die Kameraposition fest und begann in regelmäßigen Abständen Aufnahmen zu machen, während der Tag in die Nacht überging. Der Panorama-Bildausschnitt blieb immer gleich – allerdings nicht das, was er eingefangen hat. Im nächsten Schritt wurde entschieden, aus welchen Bildern die finale Fotografie zusammengesetzt werden sollte.

Als Wilkes 1987 für sein erstes Buch, California One, an einem Strand in Kalifornien fotografierte, fragte er sich, ob es nicht möglich wäre, eine Aufnahme zu machen, die alles erfasst ohne das Intime aufzugeben. Mit einer Fuji-617-Panoramakamera und einem Objektiv mit langer Brennweite fokussierte er eine einzelne Figur am Strand - jedoch in einem erweiterten Kontext. Er fragte sich, wie sich die Kluft schließen lässt zwischen dem, was Auge und Körper erleben, und dem, was die Kamera aufzeichnet: „Wie fühlte sich der Tag an? Wie wanderte die Sonne über den Himmel, wie veränderte sich das Licht, die eigene Wahrnehmung des umgebenden Raumes? Oft hat man doch den Eindruck, dass Fotografien die Erinnerung nicht in all ihrer Intensität zurückbringen können.“

Der Autor Lyle Rexer, ein in New York ansässiger Schriftsteller, Kurator und Kunstkritker, der für die Zeitschrift Photograph und viele andere schreibt, hat die wichtigsten Aussagen dazu von ihm in Buch Day to Night zusammengetragen. Er zeigt, dass Wilkens Auseinandersetzung mit dem Panoramaformat ihn schließlich den besten Umgang mit dem visuellen Raum finden ließ. Wilke setzte auf das analoge 4x5-Zoll-Negativformat mit seiner Schärfentiefe und Detailgenauigkeit. In den 1990er-Jahren lernte er, mit diesem Medium meisterlich umzugehen. 1996 erhielt er den Auftrag des Life Magazine, Schauspieler und Crew der Romeo und Julia -Verfilmung von Baz Luhrmann abzulichten.

Das Foto sollte als effektvolle Klappseite im Heft erscheinen und eigentlich im Panoramaformat aufgenommen werden. Das Szenenbild, in dem die Aufnahme entstehen sollte, war allerdings ein viereckiger Raum und optisch völlig ungeeignet, um in ein breiteres Bildformat übersetzt zu werden. Hier erinnerte sich Wilkes einer Technik, die der Maler David Hockney bei seinen Ausflügen in die Fotografie eingesetzt hatte: Er komponierte große Bilder, indem er eine Reihe einzelner Aufnahmen aneinandersetzte. Wilkes nahm deshalb, während er seine Kamera durch das Szenenbild bewegte, 250 Einzelbilder auf, jeweils aus leicht verändertem Blickwinkel und zu einem anderen Zeitpunkt. Die Aufnahmen wurden anschließend lückenlos zu einem einzigen Bild zusammengefügt.

Im Verlauf des Shootings bemerkte der Fotokünstler, dass die Umarmung der beiden Hauptdarsteller, Claire Danes und Leonardo DiCaprio, auf einer der Aufnahmen auch in einem Spiegel zu sehen war. Deshalb wurden sie ein zweites Mal im Spiegel fotografiert, während sie sich küssten. In der endgültigen Bildmontage ist die Umarmung und der gespiegelte Kuss zu sehen. Wilkes manipulierte den Raum, indem er ihn auseinanderzog und dehnte auch die Zeit aus. Alles mutete wie eine Erzählung an.

Es sollte allerdings noch zwölf Jahre dauern, bis digitale Großformatkameras und Photoshop technisch ausgereift waren. Wilkes entdeckte aber noch eine weitere (ästhetische) Inspirationsquelle für sich: Im Alter von 14 Jahren hatte er im New Yorker Metropolitan Museum of Art Pieter Brueghels Die Kornernte gesehen, ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert, das Menschen bei der Arbeit in einem Weizenfeld zeigt. Einige von ihnen schneiden und bündeln das Korn, während andere ihr Mittagessen verspeisen oder unter einem nahen Baum rasten. Das Bild zeigt eine Vielzahl von Handlungsschauplätzen, die alle miteinander verbunden sind. Der Betrachter erlebt das Vergehen von Zeit. Mit der Anschaffung eines 4x5-Zoll-Digitalrückteils für seine Kamera im Jahr 2005 war es technisch machbar, von ein und demselben Ort über die Zeit hinweg eine unbegrenzte Anzahl von Aufnahmen in hoher Auflösung zu machen und diese später in Photoshop zusammenzufügen.

Diese Form von Kontrolle über Raum und Zeit gab Wilkes die Mittel, um das Prinzip des unbewegten fotografischen Einzelbildes zu überdenken. „Im digitalen Zeitalter ist das unbewegte Einzelbild kaum noch mehr als die Vermittlung der Daten eines Augenblicks. Aber ich wollte die Zeit offenhalten, um sie ein gehend untersuchen zu können und emotional zugänglich zu machen.“

Wilkes erzählt vieldeutige Geschichten, deren Ende offenbleibt, und die berühren und fesseln. Auch im Management können sie ein wirkungsvolles, handlungsorientiertes Hilfsmittel sein, mit dem sich erstaunliche Resultate erzielen lassen. Wort und Bild sollten hier gleichermaßen berücksichtigt werden.

2017 reiste Wilkes im Auftrag des National Geographic an den Platte River in Nebraska, um Kanadakraniche in ihrem natürlichen Lebensraum abzulichten. Er fotografierte 36 Stunden lang. Das Ergebnis ist das ornithologische Äquivalent eines Brueghel-Gemäldes. Von rechts nach links verfolgt das fertige Bild den Wandel vom Tag zur Nacht und etwa 100.000 Kraniche vom Erwachen bis zum Einschlafen. Die Vögel verlassen ihre Nistplätze und kehren zurück, paaren sich und kommunizieren untereinander, alles am selben Tag. „Ich wollte an das herankommen, was ich fühlte und von diesem Tag in Erinnerung hatte“, sagt Wilkes. Als er noch mit dem 4x5-Zoll-Film experimentierte, entstand sein Projekt vor Day to Night, eine Bildstrecke über Ellis Island.

Auch seine Darstellungen menschlicher Aktivität sind in der freien Natur angesiedelt, wieder im Wechsel von Tag und Nacht. Seine ambitioniertesten Projekte finden sich allerdings an symbolträchtigen Orten wie den Champs Elysées in Paris oder dem Times Square in New York. An Breughels Vielschichtigkeit erinnert auch eine Fotografie, die Papst Franziskus bei der Ostermesse im Vatikan zeigt. Wilkes wartete über zwei Jahre auf die Aufnahmegenehmigung und verhandelte lange über einen Standort, von dem aus seiner Kamera das weite Rund des Petersplatzes vollständig erfassen konnte. Er fotografierte schließlich von einem nahe gelegenen Klostergebäude aus. Der Pontifex ist etwa zehn Mal im Bild zu finden, während er den Petersplatz überquert, den Balkon betritt oder seine Predigt hält. Wilkes‘ Bild zeigt aber auch angrenzende Straßen, die sich auf der linken Bildseite mit Einbruch der Nacht verdunkelt haben.

Der Band Day to Night präsentiert 60 dieser Panoramen, die zwischen 2009 und 2018 entstanden sind – von der Serengeti bis zu den Champs-Élysées, vom Grand Canyon bis Coney Island, vom Trafalgar Square bis zum Roten Platz.

Literatur:

  • XXL Stephen Wilkes. Day to Night Stephen Wilkes, Lyle Rexer Hardcover mit 2 Ausklappseiten (Deutsch, Englisch, Französisch). TASCHEN Verlag, Köln 2019.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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