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Ins Freie! Natur und Landschaft mit neuen Augen sehen

Doch wie kommen wir dahin? Dafür muss keine Reise gebucht werden. Wir müssen nur ins Freie gehen. Die Indoor-Generation verbringt im Vergleich zu früheren Generationen den größten Teil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen und vor Bildschirmen: Im Lift geht es aus der Wohnung in die Tiefgarage und dann ins Büro, wo das Arbeitsleben in Büro- und Konferenzräumen stattfindet. Viele von ihnen verlieren die Bodenhaftung, weil sie die wirkliche Welt nicht mehr sinnlich erleben. Landschaft ist für sie nichts weiter als ein hübscher Hintergrund. Dabei ist die sinnliche Wahrnehmung, so der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, unabdingbar für das Verständnis der Welt. Tilo Schneider, Designer, Dozent und Online-Trainer, Autor und passionierter Zeichner. Als Mitgründer der Akademie für Illustration und Design Berlin hat er lange Zeit Illustrator:innen ausgebildet sowie ein Vorstudienjahr Design für Nachwuchs-Kreative ins Leben gerufen. Er ermutigt kreative Menschen, bei einem Sketching Natur und Landschaft mit neuen Augen zu sehen. Skizzen, Skizzen, Skizzen – ist ein Credo seiner Coachings für Nachwuchs-Kreative, die sich zum Designstudium bewerben.

Der Journalist Gerhard Matzig verweist darauf, dass Architekturstudenten an den Hochschulen, Akademien und Universitäten kaum noch im freien Zeichnen unterrichtet werden. Sie entwerfen meist das, was ihre CAD-Kompetenz hergibt. Das "computer-aided design" unterstützt das rechnerunterstützte Konstruieren nach Norm, aber kaum das freie rechnerunterstützte Denken. CAD gehört zu den Handwerkszeugen, die zur Planung in der Automobilindustrie, im Maschinenbau und auch in der Städteplanung unentbehrlich geworden sind. Durch ihre mit einer CAD-Software entworfenen Modelle erhalten sie mit einem 3D-Drucker eine plastischere und anschaulichere Diskussionsgrundlage als eine Skizze auf dem Papier oder ein zweidimensionales Modell auf dem Computerbildschirm. „Bleistift gegen KI, Aquarellpapier gegen Bit und Byte - und am Ende stehen sich unfertige Skizze und vollendeter 3-D-Druck gegenüber“, so Matzig, der dafür plädiert, sich mit Menschen zu beschäftigen, „die Papier und Stift lange vor Maus und Rechner zu Bedeutungsträgern machten“: Oscar Niemeyer, Daniel Libeskind und Zaha Hadid. Für Stararchitekt Norman Foster aus London ist die Hölle ein Ort, wo er keinen Bleistift mehr bekäme: „Ich zeichne und schreibe ununterbrochen - in Taxis, im Flugzeug, wo immer ich gerade bin, wenn ich warten muss oder auf der Fahrt." In den Kursen und Workshops von Tilo Schneider (auch anerkannt als Weiterbildung) entdecken Menschen das Potential der Handzeichnung neu und trainieren sich im visuellen Denken, egal ob mit Stift auf Papier oder digital auf dem Tablet: „Beide Techniken brauchen Kopf und Hand.“

Es ist nicht einfach ein Arbeitsbuch, sondern ein Lebensbuch, das uns auch sinnlich zu uns selbst zurückführt. Jede Seite, jedes Wort und jedes Bild gehen uns an, es berührt im wahrsten Sinne des Wortes. Wer handwerkliche Fähigkeiten nicht ausbildet, wird weder reifen noch „begreifen“. Das Wort stammt aus der haptischen und taktilen Sphäre. Wo etwas mit Händen gegriffen wird, lässt es sich auch begreifen. Auch die Worte „erfassen“ oder „auffassen“ vermitteln, dass sie zufassenden Händen ihre Bildung verdanken. Der Begriff des Handwerks, in der altgriechischen Bezeichnung „techne“ noch mit Kunst gleichgesetzt, erhält immer dann eine besondere gesellschaftliche Bedeutung, wenn das Haptische seine Bedeutung verliert. Wenn wir nicht in der Lage sind, wie die großen Meister auch im Kleinen ans Werk zu gehen, können wir auch die an uns gestellten Aufgaben nicht verstehen und bewältigen. Schon Leonardo betonte, dass das Zeichnen zwar eine handwerkliche Tätigkeit, aber dennoch eine intellektuelle Handlung ist: „Aus dieser Kenntnis heraus erschafft der Verstand eine bestimmte Anschauung und ein Urteil über einen Gegenstand und das, was danach mithilfe der Hände ausgedrückt wird, nennen wir Zeichnung.“ Die Vorteile des Zeichnens finden sich auch im Buch von Tilo Schneider.

  • verhilft zu authentischen, manuellen und kreativen Erfahrungen

  • zeigt die Bedeutung des Unperfekten

  • führt zu entschleunigten Glücksmomenten

  • hilft Farben zu sehen mit Kopf und Bauch

  • trägt zur Welterschließung

  • regt dazu an, mit wachem Blick, wenig Material und etwas Übung eigene kreative Draußen-Erfahrungen zu machen

  • führt zur Verlangsamung unserer Wahrnehmung und zur Konzentration aufs Wesentliche

  • stärkt die Gesundheit durch die Bewegung in der Natur und Landschaft

  • erweitert den eigenen visuellen Horizont.

  • birgt das Unerwartete, eine unkontrollierbare Wendung, die von einer Überraschung lebt

  • unterstützt uns bei der Urteilsfähigkeit und Entscheidungsfindung (Fokussierung und Konzentration).

2002 wurde bei ihr ein Gehirntumor diagnostiziert. Alles musste langsam gehen, es durfte nicht zu viel auf einmal passieren, dann machte ihr Kopf nicht mehr mit. Sie lernte wieder, das Wesentliche zu erkennen und glaubte, dass der heutige Stress das Gehirn zerstört. Schon als Kind fand sie Trost in der Natur. In ihrem Garten stand eine alte, kräftige Linde. Sie liebte es, ihre Nähe zu suchen, denn der Baum gabt ihr Kraft: „Lieber eine Linde als Facebook.“ Während der Krankheit versuchte sie, weiter kreativ zu sein. Kurz nach der ersten Operation machte sie mit ihrem Mann Micke das Album „The Change“. Nach der Fertigstellung wurde ein Bild für das Cover benötigt, doch sie wollte sich nicht aufgedunsen fotografieren lassen. Stattdessen malte sie ein Selbstporträt. Dadurch fand sie zurück zum Zeichnen und Skizzieren. Es war für sie das größte Glück, etwas zu Papier zu bringen und sich auf diese Weise auszudrücken zu können.

„Draußensein“ ist auch mit dem Gefühl verbunden, wieder Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu bekommen und selbstbestimmt zu entscheiden. Wer das kann, empfindet auch weniger Stress und ist gesünder. Hier lernen alle, die Zeitnot als das größte Übel empfinden und permanent unter Druck stehen, was es heißt, im eigenen und konzentrierten Handeln aufzugehen und sich selbst zu finden - ohne auf die Uhr zu sehen. Ursprünglich meint Muße die Zeit, in der sich Menschen konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnten. Der Begriff wird heute vielfach durch populäre Metaphern ersetzt, die der Sprache der Technik entlehnt sind. Dazu gehören „Abschalten“ oder „Herunterfahren“. Einer Gesellschaft, die sich eine solche Muße nicht mehr leisten zu können glaubt, „wird die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch fehlen“, sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann. Das Zeichnen kann ein Anfang sein.

  • Tilo Schneider: Ins Freie! Draußen zeichnen. Wie Landschaft, Wind und Wetter den Weg in Ihr Skizzenbuch finden. Verlag Hermann Schmidt. Mainz 2023.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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