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Ist Nachhaltigkeit utopisch?

Wir brauchen eine Politik der Nachhaltigkeit

„Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd“, sagte Otto Bismarck. Dass vielen Politikern heute kaum geglaubt wird, liegt daran, dass viele Parteien vor Wahlen Dinge versprechen, die sie danach nicht erfüllen. Auch sind viele Politiker, die sich in den mit der Macht verbundenen Privilegien gemütlich eingerichtet haben, keine Charaktere, sondern nur Charakterspieler, die eines nicht tun: Themen, von denen sie überzeugt ist, offen anzusprechen – „auch wenn für sie im Augenblick noch kein politischer Markt da ist“ (Frank Schirrmacher).

Politiker, die langfristig ausgerichtet sind, greifen Strömungen in Richtung Nachhaltigkeit auf und setzen sich dafür ein, dass sie in Gesetze und Verordnungen eingearbeitet werden. Doch andere sind nicht in der Lage, nachhaltige Ziele so zu handhaben, dass diese mit den kurzfristigen, auch populistischen Wünschen harmonieren. Beim Skatspiel heißt es „Ober sticht Unter“ - in der Politik gilt häufig: „Kurzfrist sticht Langfrist“. Wahlkämpfe beginnen immer früher und nehmen einen großen Teil der Legislaturperiode ein, was die Zeit „wirksamer politischer Arbeit sehr verkürzt“, schreibt Christian Berg, der sich seit fast 20 Jahren in verschiedenen Rollen mit dem Thema Nachhaltigkeit – in Wirtschaft und Wissenschaft, Politikberatung und Zivilgesellschaft befasst - etwa als Mitglied des deutschen Präsidiums des Club of Rome oder als Professor für Nachhaltigkeit an der TU Clausthal. Immer beschäftigte ihn die Frage, warum so viele Maßnahmen und Ideen zur Eindämmung sozial-ökologischer Krisen im Sande verlaufen und politische Vereinbarungen und gutgemeinten Aktionen nicht wirksam sind.

Die Menschheit ist weit von einem nachhaltigen Pfad entfernt. Anzeichen für die Dringlichkeit grundsätzlicher Maßnahmen nehmen von Tag zu Tag zu.
Christian Berg

Je länger er über die Gründe dafür nachdachte, desto mehr reifte in ihm die Überzeugung, dass es nur durch einen viel stärker integrativen, holistischeren Ansatz auf die diversen Barrieren zur Nachhaltigkeit gelingen kann, wirksame Veränderung zu erreichen. Denn alles hängt mit allem zusammen. Er plädiert dafür, das Konzept der Nachhaltigkeit als Ideal festzuhalten – „ein Ideal, das wir vielleicht nie erreichen werden, das vermutlich utopisch ist, aber das wir als solches dringender benötigen denn je.“

Die Wende gelingt seiner Meinung nach nicht, weil nur einzelne Symptome bekämpft werden als die zugrunde liegenden Probleme und ihre Zusammenhänge anzugehen. In seinem Buch „Ist Nachhaltigkeit utopisch?“ identifiziert er die Barrieren, die uns rechtlich, wirtschaftlich, politisch, aber auch technologisch und kognitiv im Weg stehen. Es nützt aber nichts, heute nur Werkzeuge zu haben – entscheidend ist ihre Anwendung und die Fähigkeit, mit Unsicherheit zurechtzukommen und hohe Komplexität zu meistern. Kompliziertes ist vorhersagbar und kontrollierbar. Komplexes birgt Überraschungen. Derartige Systeme sind zwar von außen beobachtbar, jedoch nicht kontrollierbar, was auch längerfristige Vorhersagen unmöglich macht. „Häufig führen die besten Absichten zu unerwünschten Nebenwirkungen, weil die Komplexität der Zusammenhänge unterschätzt wurde“, so Berg. Für ihn ist die Anerkennung der Komplexität aller Fragen rund um das Thema Nachhaltigkeit Grundvoraussetzung und Ausgangspunkt, um eine Fülle an neuen Gedanken, Erkenntnissen, Einsichten und Fakten zu präsentieren, die zu konkreten Handlungen führen. „Was können sie beisteuern zur Agenda 2030 mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (SDGs) und 169 Unterzielen? Ziele sind wichtig und notwendig – aber die Formulierung globaler Ziele hilft bei konkreten Entscheidungen wenig weiter“, sagt der Nachhaltigkeitsexperte.

Suffizientere Lebensstile sollten seiner Meinung nach nicht allein durch moralische Appelle motiviert werden. Sie können durch politische Maßnahmen befördert werden – was als Nudging (Anstupsen) bezeichnet wird. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass Sunstein haben den Begriff geprägt. Sie gehen davon aus, dass Menschen immer dann eine kluge Entscheidung treffen, wenn diese zugleich die leichteste ist.

Das sollte schon im Kindesalter beginnen. Auf Nudging setzt beispielsweise auch das Projekt des Dudenverlags, des VfL Wolfsburg und der memo AG: Im kostenlos erhältlichen Sonderheft aus der Duden-Reihe „Weltenfänger“ mit dem Titel „Ab jetzt rette ich die Welt! Kinder übernehmen Verantwortung“ wird Kindern erklärt, wie sie ihren Alltag nachhaltiger gestalten können. Dazu werden die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen vorgestellt sowie Tipps und leicht umsetzbare Anregungen gegeben, die Welt ein bisschen besser zu machen (Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung, nachhaltig essen und trinken, Wasser und Strom sparen).

Auch im öffentlichen Raum zeigen sogenannte Nudges Wirkung. Bei einem Experiment in Dänemark wurden beispielsweise grüne Fußabdrücke auf dem Gehweg angebracht, die in Richtung Mülleimer führten. Die Passanten wurden unmerklich daran erinnert, umweltbewusst zu handeln. Die Vermüllung der Straße konnte dadurch um 40 Prozent verringert werden.

Christian Berg zeigt, wie nachhaltiges Handeln wirksam wird, und dass Veränderung möglich ist – „sie kommt vielleicht schneller als wir meinen.“

Weiterführende Informationen:

  • Christian Berg: Ist Nachhaltigkeit utopisch? Wie wir Barrieren überwinden und zukunftsfähig handeln. Oekom Verlag, München 2020.

  • Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

  • Richard Thaler und Cass Sunstein: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Ullstein Verlag, Berlin 2009.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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