In Zeiten der Unsicherheit suchen wir nach Orientierung. - Pixabay

Jogis perfekte Arbeitswelt 21.0: Fußball als Ingenieurskunst

Warum begeistern sich eigentlich die Deutschen so sehr für den Fußball-Bundestrainer Joachim Löw? Das fragte die Sportjournalistin Cathrin Gilbert 2016 in DIE ZEIT und gab eine logische Antwort:

Er sei kein Entertainer, sondern ein Fußball-Ingenieur, ein Konstrukteur, der sich mit den Gesetzmäßigkeiten des Spiels beschäftigt. Das kommt an in Zeiten der Unsicherheit, in der alte Gewissheiten zerbrechen und nach Orientierung und Sicherheit gesucht wird. Aber auch nach jemandem, der analytisch denkt, zuhören kann, das Richtige und Wichtige tut, Teamplayer ist und die Muskeln der Gemeinschaft stärkt – Schritt für Schritt durch Können und strukturiertes Üben.

Langjährige Untersuchungen bestätigen, dass erfolgreiche Trainer eher ruhig, aber bestimmt sind, wenig loben und kritisieren und ihren Fokus hauptsächlich auf reine und anschauliche Information legen. Bei Niederlagen hinterfragen sie ihr Handeln und korrigieren ihre Strategie. Ihre Expertise beruht auf ihrem enormen Erfahrungsschatz. Übungen und Abläufe zerlegen sie wie ein Ingenieur präzise in einzelne Bestandteile bzw. Einheiten, die sich als effektiv erweisen.

Um zu erkennen, was Nachhaltigkeit im Fußball bedeutet, braucht es eine gute Beobachtungs- und Kombinationsgabe sowie das Verständnis für übergreifende Zusammenhänge. Es ist kein Zufall, dass einige Physiker ein ähnliches Verständnis von Nachhaltigkeit haben wie der Bundestrainer, der die Erfolgsgeschichte der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer seit 2004 prägte. Damals sprachen Jürgen Klinsmann und er von einem „nachhaltigen Projekt“, einem Zehn-Jahres-Plan, den es anzuschieben gelte. Erfolg ist die Folge von Beharrlichkeit, Zuversicht, Entschlossenheit, Training und Können. Meister wird, wer den Dingen Zeit lässt, geduldig und gelassen ist.

Im Trainingslager der Mannschaft in Südtirol, der letzten Station vor der Fußball-WM in Brasilien, gab Joachim Löw die Devise „Ruhe und Gelassenheit“ aus. Bis vor einigen Jahren war Yoga (heute in fast jedem Trainingsplan von Bundesligamannschaften fester Bestandteil) undenkbar. Das Ziel ist Entspannung und absolute Konzentration im Hier und Jetzt, um im Training und im Spiel die beste Leistung zu bringen. Das bedeutet nicht, die Zukunft aus dem Blick zu verlieren – vielmehr sollte alles im richtigen Kontext wahrgenommen werden, also nicht während des Trainings oder der Arbeitszeit. Auf den Punkt gebracht bemerken die Autoren: „Wenn ich esse, dann esse ich!“ „Wenn ich spiele, dann spiele ich!“ „Wenn ich arbeite, dann arbeite ich!“

Das ist in unserer flüchtigen Zeit nicht einfach und muss deshalb immer wieder trainiert werden. Das Motto von Joachim Löw lautet denn auch auf dem Platz: „Armbanduhr ablegen oder: draufschauen verboten!“ Denn aktives Lernen misst sich in der „Zahl der guten Versuche und in der Zahl der Wiederholungen.“ Nur dann kommt es zu neuen Verknüpfungen im Gehirn, die eine Voraussetzung für Lernen und Wachsen sind. Für Jogi Löw ist dies mit Werten verbunden. In diesem Zusammenhang verweist er häufig auch auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Leitlinien, die auch die Nationalmannschaft widerspiegeln sollte.

Es gibt eine Vielzahl von Publikationen zum Thema des gesellschaftlichen Engagements, von Nachhaltigkeit und CSR im Fußball, die allerdings wesentliche Aspekte vernachlässigen, zu denen auch Führung und Management gehören. Nachhaltigkeit fängt nicht bei der Stabsstelle CSR oder Nachhaltigkeitsberichten an, sondern innen. Es geht nicht nur um Wissen, sondern auch um Können. Diese Lücke zwischen den Themen und unterschiedlichen Ansätzen schließt das Buch „One touch“ von Claus-Peter Niem und Karin Helle. Nach ihrem Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie arbeiteten sie zunächst als Lehrer und gründeten 1999/2000 gründeten die Agentur Coaching for Coaches in Dortmund. Seitdem arbeiten sie mit zahlreichen prominenten Sportlern, unter ihnen Jürgen Klinsmann, Joachim Löw, Stefan Kuntz und Sebastian Kehl.

Sie haben nicht einfach nur ein Managementbuch geschrieben, sondern ein kleines Kompendium, in dem belegt wird, dass Nachhaltigkeit ohne Selbstführung nicht wirksam ist. Dies wird anhand vieler Beispiele, Übungen und Geschichten aus der Welt des Fußballs belegt, die zeigen, wie sich Managementqualitäten Schritt für Schritt verbessern lassen. Interessant ist auch der Verweis auf analoge Dinge, auf die auch im Digitalisierungszeitalter nicht verzichtet werden kann. Dazu gehört beispielsweise das Notizbuch, das wie eine Landkarte wirkt: „Es strukturiert die Gedanken und schafft Klarheit.“ Der Leitfaden des Buches ist das „magische Fünfeck“ exzellenter Führung, in dem professionelles Ethos, Expertenwissen, Kommunikation, Selbstführung und Beziehung perfekt ineinandergreifen.

Der One Touch ist im Fußball die schnelle Weitergabe des Balles - ohne ihn zu stoppen. Das setzt eine hohe Laufbereitschaft, technisches Können und automatisierte Laufwege voraus. Er entwickelte sich in den 1980er Jahren in den Fußball-Eliteschulen in den Niederlanden und wurde dann von Arsène Wenger mit Arsenal London perfektioniert. Der One Touch im metaphorischen Sinn ist eine emotionale Berührung mit einer klaren Ansage, die Spuren hinterlässt und zum Handeln bewegt. Claus-Peter Niem und Karin Helle zeigen anhand zahlreicher Beispiele, dass er der Anstoß für eine Initialzündung sein kann. Sie betonen allerdings auch, dass es neben Expertenwissen und der entsprechenden Didaktik noch etliche andere Kriterien braucht, wenn man langfristig erfolgreich und nachhaltig führen möchte.

Der Weg einiger Sportler ihres Buches begann mit dem Erwerb der Trainer-Lizenz im Januar 2000: Damals startete in Hennef ein Kurzlehrgang für besonders verdiente Nationalspieler. Neben Jürgen Klinsmann, Stefan, Reuter, Stefan Kuntz und Matthias Sammer war auch Joachim Löw dabei, der nie für die Nationalmannschaft gespielt hat (mindestens 40 Einsätze im Nationaltrikot waren damals „eigentlich“ Pflicht für den Lehrgang): „Doch weil Löw bereits in der Schweiz eine Ausbildung angefangen (wenn auch nicht abgeschlossen) hatte, sich zudem Verbandsboss Gerhard Mayer-Vorfelder für ihn einsetzte, machte der DFB eine Ausnahme.“ Er verstand schon damals, die Kunst, komplizierte Sachverhalte zu vereinfachen und so zu vermitteln, dass sie andere verstehen – und „berührt“ werden.

„Ich war 18 Jahre lang Profi. Und in den 18 Jahren konnte es mir kein Trainer erklären, wie sich eine Viererkette verschiebt. Bei Jogi habe ich es in einer Minute verstanden“, wird Jürgen Klinsmann im Buch zitiert, der sich an die erste Begegnung beim DFB-Trainerlehrgang 2000 an der Sportschule Hennef erinnerte. Es ist ein Mut-Macher-Buch im besten Wortsinn, das zeigt, worauf es heute ankommt: sich aufs Detail zu konzentrieren und dabei das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren.

Weiterführende Informationen:

Claus-Peter Niem und Karin Helle: One touch. Was Führungskräfte vom Profifußball lernen können. Mit Einwürfen von Jürgen Klinsmann, Joachim Löw & Co. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016.

Claus-Peter Niem und Karin Helle: Vom Tun über das Können zur Meisterschaft. Wege zur Persönlichkeit. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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