Kein Anschluss: Warum wir den Trost von Telefonzellen brauchen
Die absolute Freiheit
Der Wunsch nach Rückzug und räumlicher Verankerung in einer zunehmend entgrenzten und virtuellen Welt wird immer größer. Viele Menschen suchen deshalb nach einem Ort der Anbindung, der Einbindung und einer Kommunikation, die durch etwas Greifbares verbunden ist. Sie wollen ein reflektiertes Leben in einem Rahmen, der ihnen Sicherheit und Halt gibt, aber auch Veränderung nicht ausschließt.
In seinem Debütroman „Der Trost von Telefonzellen“ (2013) dokumentiert Joshua Groß, Jahrgang 1989, das Lebensgefühl der jungen Generation, aber auch „die Wahrheit des Augenblicks, die oft nur an den Rändern des Geschehens aufscheint“. Keine Studie, keine Podiumsdiskussion und kein Kongress zum Thema Generation Y oder Generation Z kann das Wesen der jungen „Dichter“ (sie verdichten das komplexer werdende Leben und machen es überschaubar), Denker und Macher wohl so vermitteln wie dieses Buch. Sie wirken aus der Stille und aus sich selbst heraus. Joshua Groß ist einer, der MUSS - und der sein Leben nach seinen eigenen Regeln setzt und gestaltet.
Der in Altdorf im Landkreis Nürnberger Land geborene Franke wuchs mit drei jüngeren Geschwistern auf und besuchte die Waldorfschule in Wendelstein. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg studierte er Politikwissenschaft und Ökonomie. Mit 17 Jahren begann er, Gedichte zu schreiben, spürte aber bald, „dass der Platz nicht ausreicht“, all das auszudrücken, was ihn innerlich bewegt. Es folgten Essays, Kurzgeschichten, Veröffentlichungen in Literaturmagazinen und Rezensionen. Wenn er den Eindruck hat, beim Schreiben nicht vorwärts zu kommen, ist das für ihn keine Kreativitäts- oder Schreibblockade, sondern immer auch eine Form des Lernens, die ihn dazu führt, an der Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft mitzuwirken: „Es geht doch um mehr als um mich.“ Das ist für ihn die Chance der Literatur: durchzuspielen, wie sich Leben und Gesellschaft auch entwickeln könnten.
An einem Tag im Juni
Zwei befreundete Studenten brechen aus der erstarrten Routine des Alltags aus und fahren in einem alten VW-Bus durch Franken. Der angehende Maler Luca Tasso, gerade von seiner Freundin verlassen, und der Erzähler Emil Mino, ein Szene-Lyriker, die ein „Doppelleben zwischen müder Ignoranz und dem Bewusstseinszustand eines Superhelden“ führen, sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. „Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, Kinder zu haben, in dieser abgefuckten und zerstörten Welt“, sagte Luca. Das Gefühl einer zeitweisen Ohnmacht in finsteren Zeiten ist berechtigt, denn die Wirklichkeit wird nicht ignoriert, sondern lediglich „seziert“. So heißt es auch in seinem Büchlein „Bewusstseinspfannkuchen“ (2014): „Wir fügen der Wirklichkeit einen Schnitt zu, den wir nicht umgehen können.“ Es bleibt nicht beim Gefühl, nichts tun zu können – seine Protagonisten wirken auf die Wirklichkeit ein. In dem Sinne, dass sie zum Besseren verändert werden kann. Denn die Chance, dass etwas gut ausgeht, besteht immer. „Daran zu glauben, ist unsere Aufgabe“, sagt Joshua Groß.
Wie im Trostbuch der Telefonzellen: Auf einem abgelegenen Parkplatz bei Altdorf verkaufen die beiden Freunde auf gestohlenen Tapeziertischen antiquarische Bücher. Es gibt für sie keinen besseren Platz für die Literatur als diesen – und eine alte Telefonzelle, die Professor Luigi Fontano, ein Profi auf diesem Gebiet Händler von besonderen Import-Export-Produkten, aus seinem Wagen zieht. „Diese lebensnotwendigen Kabinen menschlicher Einsamkeit und Zusammenkunft werden nach und nach abgerissen und dann ist alles aus – wir sollten so ein Teil auftreiben“, sagte Luca. Denn seine Generation weiß sehr genau, dass sie auch definierbare Beziehungen zu Orten braucht, Konstanten in der modernen vernetzten Gesellschaft, um Halt zu haben und sich nicht zu verlieren.
So steht die Telefonzelle symbolisch für einen verlässlichen Schwerpunkt, an dem man sich innerhalb der Welt orientieren kann, aber auch für die Konkretisierung eines Gefühls und für Sinn, der dort beginnt, „wo die Sprache aufhört.“ Die Kabine aber ist vor allem auch ein Symbol für Nachhaltigkeit – im Buch und im wirklichen Leben. „Unsere Konsumtion könnte problematisch werden“, heißt es im Buch. „Wir brauchen ein Produkt, das wir nicht verbrauchen können“. Dazu gehören die alten Telefonzellen und das hier gebündelte Wissen, das nie veraltet, weil es ständig getauscht wird und in übergeordnete Zusammenhänge integriert ist.
Ein Beispiel aus dem echten Leben: Die öffentliche Straßenbibliothek (BücherboXX) ist ein Projekt vom Institut für Nachhaltigkeit in Bildung, Arbeit und Kultur in Kooperation mit Sascha Groddeck vom Unternehmen Wohnfühlzeit und dem Start-Up Unternehmen PerspekTeam. Jugendliche in der Berufsausbildung oder Berufsvorbereitung gestalteten den Aus- und Umbau selbstständig - von der Beschaffung der Telefonzelle bis zur Aufstellung, Vermarktung sowie der Betreuung der Nutzungsphase. Das Prinzip: „Bring ein Buch, nimm ein Buch, lies ein Buch!“ Gelesene Bücher können in einer ausgedienten Telefonzelle getauscht werden (auch in Bonn und anderen Städten gibt es ähnliche Ansätze mit alten englischen Telefonzellen). „Durch das freie Geben und Nehmen von Büchern erschließt sich unmittelbar, was mit nachhaltigem Lebensstil und einer neuen Ökonomie des Tauschens und Schenkens gemeint ist.“ Heißt es auf der Website der Verantwortlichen. Die BücherboXX war 2010 Teil eines LSK-Projekts (Lokales Soziales Kapital) zur Entwicklung und Erprobung nachhaltiger Juniorenfirmen im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, das aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Landes Berlin gefördert wurde. Inzwischen gibt es in Deutschland 3242 „offene Bücherschränke“ (Stand: August 2019).
Kein Anschluss
Am Beispiel der sterbenden Telefonzellen zeigt sich allerdings auch, dass die Kommunikation immer öffentlicher geworden ist und sich das Verhältnis zwischen den Telefonierenden, den Apparaten und den Räumen, in denen miteinander kommuniziert wird, in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat. Die gelben Kabinen von einst sind eingetauscht worden gegen Mobiltelefone, die im freien Raum und jederzeit verfügbar sind. „Wir sind wie neu geboren, ungebremst und kabellos, / die Handys werden kleiner und die Freiheit riesengroß.“ Heißt es in Rolf Zuckowskis Titel „Wo ist das Telefon?“. Es gibt heute kaum mehr eine wirkliche Grenzziehung zur Außenwelt – nur noch die „eigene gedankliche Abschottung“ (Miriam Meckel) vor menschengemachten Geräuschen. Wer ständig online oder draußen ist, für den wird das Drinnen zu etwas Besonderem.
Wer immer umgeben ist vom Lauten, für den wird die Stille umso kostbarer – und hörbarer, denn auch eine Farbe ist ja nur möglich, wenn alle anderen Farben nicht sind. „Weil wir nicht nur mit den Ohren hören, das Herz hört mit. Wir erfahren die Kraft der Stille erst, wenn wir uns ganz auf die einlassen, sie nicht nur als Pause im Getriebe wahrnehmen.“ Sagt Rolf Zuckowski, für den das das Faszinierende an der Stille darin besteht, „dass letztlich aus der inneren Ruhe Dinge geboren werden. Gedanken, Lieder, Vorhaben.“ Viele Menschen kommunizieren nicht mehr mit dem Herzen und sind nur noch außerhalb der eigenen inneren Reichweite. Der Hamburger Liedermacher ist kein Kritiker neuer Kommunikationstechnologien, verweist aber zu Recht auf die Grenzen der scheinbaren Grenzenlosigkeit.
Trost und Leerstellen
Wenn an den Trost von Telefonzellen erinnert wird, so geht es nicht um Verklärung, Rückwärtsgewandtheit oder Technikfeindlichkeit, sondern um Möglichkeiten der Selbstbestimmung im Online-Zeitalter und der Dauerpräsenz. Wohl niemand mag mehr auf die Annehmlichkeiten durch die modernen Kommunikationsmittel verzichten. Vielmehr geht es um Momente der Besinnung und die Nachhaltigkeit zeitloser Botschaften und Erinnerungen. Wenn die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber, die hauptberuflich die Unternehmenskommunikation bei der memo AG leitet, an Telefonzellen denkt, verbindet sie Erinnerungen an ihre längst verstorbene Großmutter: „Vor dem Haus, in dem sie wohnte, stand einsam eine gelbe Telefonzelle. Und nachdem meine Oma gestorben war, war auch bald die Telefonzelle verschwunden und durch Nichts ersetzt worden. Die Telefonzelle war eine von zwei in unserem kleinen Ort mit damals rund 1.000 Einwohnern. Die zweite Telefonzelle gab es übrigens etwas länger, aber auch sie verschwand irgendwann.“ Das Traurige ist für sie, dass es heute kaum mehr Orte gibt, „an die wir uns zurückziehen können, um - wenn auch nur kurz - mit jemandem zu sprechen, denn wir können das heute überall, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Wir müssen noch nicht einmal den Mund dazu aufmachen - dank SMS, What's App & Co.“
Dass Joshua Groß in seinem Buch ebenfalls an das erinnert, was wir verloren haben, berührt zutiefst. Dass er aber gleichzeitig zeigt, was wir finden können, wenn wir wie seine Protagonisten weiterziehen, aber innerlich verankert bleiben, macht seinen Roman selbst zu einem „nachhaltigen Produkt“, das sich nie verbraucht. Sein Ende ist offen. In erstaunlicher Eigendynamik entwickelte sich ein spontanes Musikfestival namens "Woodstock11", das die Protagonisten nicht mehr erleben, weil sie längst „abgefahren“ sind. Was (zurück) bleibt, ist die alte Telefonzelle.
Was im Zeitalter der Digitalisierung bleibt
Besonders beliebt sind heute die ikonischen, britischen Telefonhäuschen, die zwischen 48 und 96 Jahre alt sind. Ihr ursprünglicher Zweck wird seit Jahren von Mobilgeräten ausgeführt. Besonders interessant ist, dass jene Geräte, die sie einst verdrängt haben, jetzt dorthin getragen werden, um wieder „gesund“ zu werden. So haben die britischen Telefonhäuschen buchstäblich therapeutische Wirkung. Das zeigt das Beispiel Lovefon: Der Dienstleister hat in London einige der Telefonzellen zu Reparaturshops für Smartphones umgebaut. Es sind die „kleinsten Repair-Shops der Welt“, die eine Fläche von etwa 0,8 Quadratmetern besitzen.
Weiterführende Informationen:
CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.