Klimawandel in der Illustration: Die weltweit neuesten Entwicklungen
Die Berufenen
Illustratoren sind mehr als nur Schöpfer von Bildern, die dazu bestimmt sind, Produkte zu verkaufen oder Grundideen von Textbeiträgen zu vermitteln. Wo die Sprache an ihre Grenzen stößt, machen sie die Welt neu. In den letzten zehn Jahren verfolgten Steven Heller und Julius Wiedemann die weltweit neuesten Entwicklungen in der Illustration. Sie zeigen, dass digitale Gestaltung heute nicht das Ende eines ganzen Berufsfeldes bedeutet, und dass es noch nicht lange her ist, dass die Verbreitung des Handwerks und der Kunst der Illustration hauptsächlich auf Redaktion und Werbung beschränkt war: „Die Illustrationspraxis hat seit 2000 bis heute eine existenzielle Veränderung gegeben, die ihre eigene unverwechselbare Identität, Persönlichkeit und Haltung gefordert hat“, schreibt Steven Heller, Co-Vorsitzender des Studiengangs „School of Visual Arts MFA Designer as Author“. Er war 33 Jahre lang Art Director der New York Times, ist Autor der Kolumne „Visuals“ für die New York Times Book Review sowie von 120 Büchern über Grafikdesign, Illustration und politische Karikatur.
Die Illustration, die weitaus mehr ist als nur schmückendes Beiwerk, macht seiner Ansicht nach heute „eine Art Klimawandel“ durch, eine Evolutionsstufe, die seiner Meinung nach am besten mit dem Schlagwort „der Illustrator als Autor“ beschrieben wird. Heute ist Illustration – auch dank der neuen digitalen Werkzeuge - freier und vielseitiger denn je und in allen Medienarten gegenwärtig, vom Papier bis zum Bildschirm, über Verpackungen, Bücher bis hin zur Kleidung. Aktuell gibt es mehr Illustratoren, die zur Populärkultur beitragen als jemals zuvor. Auch wenn sie noch immer Kundenbedürfnisse erfüllen, so hat das frühere Konzept - die „sklavische Übersetzung“ - heute ausgedient. Die Arbeiten sind Hervorbringungen des unabhängigen Denkens.
100 Best from around the World
In ihrem Band „The Illustrator. 100 Best from around the World” präsentieren Steven Heller und Julius Wiedemann, der Grafikdesign und Marketing studierte und in Tokio als Kunstredakteur für digitale Medien und Designmagazine arbeitete, die weltweit angesagtesten Stile, Techniken und Farbgestaltungen und stellen etablierte Künstler wie Brad Holland vor, dessen metaphorische Bilder für die Meinungsseite der New York Times in den 1970ern die Illustration revolutionierten. Präsentiert werden aber auch aufstrebende Stars à la Robin Eisenberg, „deren pastellhäutige Weirdo-Space-Chicks auf Indierock-Covern herumcruisen.“ Igor Karash, geboren 1960 in Baku, der Hauptstadt der ehemaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan, arbeitet mit einer Vielzahl traditioneller Techniken, darunter Bleistift oder Gouache auf Papier und Tusche auf Karton, experimentiert aber auch gern mit digitalen Werkzeugen.
Enthalten sind auch Arbeiten des israelischen Mixed-Media-Künstlers und Karikaturisten Hanoch Piven, der aus gefundenen Gegenständen und Materialien collagenartige Illustrationen erstellt, sowie Ilustrationen des Zeichners und Buchkünstlers Robert Nippoldt, der unter anderem das Buch „Es wird Nacht im Berlin der wilden Zwanziger“ illustrierte. Viele der hier präsentierten Arbeiten tragen in nachhaltiger Weise dazu bei, auch das Nervensystem in Wirtschaft und Gesellschaft zu treffen, denn es braucht neue kreative Ströme und Denkprozesse auf dem Weg in eine von Wissen und Überraschungen geprägte, aufgeklärte Zukunft. Dazu ist ein Umdenken nötig, eine Änderung unserer Lebenseinstellung, des Konsumverhaltens und das Zu-Herzen-Nehmen des afrikanischen Sprichworts: „Wenn viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, verändert sich die Welt.“
Im Twitter-Profil der britischen Künstlerin Sue Coe, geboren 1951 in Tamworth (Staffordshire), steht „Vegan Artivist“. Sie wuchs in der Nähe eines Schlachthofs auf und zeichnet und druckt Holzschnitte und Lithografien in einem grafischen Stil. Ihre Arbeiten, die sich Themen wie Massentierhaltung, Fleischverpackungen, Apartheid, Gefängnissen, AIDS, Krieg widmen, stehen in der Tradition der sozialen Protestkunst. Ihre Bücher, Comics und visuellen Essays sind unter anderem beeinflusst von: Käthe Kollwitz, Francisco de Goya und Rembrandt van Rijn. Paul Davis, geboren 1938 in Centrahoma, Oklahoma, Vereinigte Staaten, wurde von der Flut der Bürgerrechtsbewegung im Amerrika der späten 1950er-Jahre beeinflusst. Stil ist für ihn „eine Stimme, die man aufgrund ihres Effekts wählt, und ich möchte so viele Stimmen wie möglich verwenden können.“
Das Cover für das Buch gestaltete Christoph Niemann, Jahrgang 1970, der zu den kreativsten und gefragtesten Illustratoren unserer Zeit gehört. Er studierte an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste. Nach dem Studium zog der gebürtige Waiblinger 1997 nach New York City, wo er seine Karriere als Illustrator, Designer und Autor startete. Seine Arbeiten erscheinen seitdem regelmäßig in renommierten Publikationen weltweit, u.a. im New Yorker, dem New York Times Magazine, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung oder dem SZ Magazin. Seit 2008 lebt und arbeitet er wieder in Berlin. Große Ideen lassen sich nicht erzwingen: Um sie hervorzubringen, braucht es die Konzentration auf das eigene Handwerk, eine angstfreie Umgebung sowie Zeit zum Nachdenken und Experimentieren. Alles andere ist Zufall. Allerdings genügt es ihm nicht, sich nur aufs Handwerk zu konzentrieren, weil man dann Scheuklappen entwickelt. Wenn gerade etwas gut läuft, ändert er die Richtung. Täglich sitzt Niemann diszipliniert ab neun Uhr an seinem Schreibtisch. Er arbeitet allein in seinem Refugium und meidet jegliche Ablenkungen. Seinen Tagesablauf hat er optimal auf seinen Beruf abgestimmt, denn er ist sich bewusst: Spitzenleistungen entstehen nicht mal nebenbei, sondern sind das Resultat konzentrierter Schaffensprozesse. Wirklich brauchbare Ideen kommen während des Arbeitsprozesses: „Du nimmst, was du kennst, und lässt es auf etwas los, das du nicht kennst, und dann beobachtest du, was passiert.“
Social Media ist heute ein unverzichtbares Instrument – auch für Feedbacks der eigenen Arbeit. Allerdings sollten Likes und Faves nicht mit echter Qualität verwechselt werden, denn sie sind kein wahrer Maßstab für kreativen Wert. Zum aktuellen Stand der Dinge im Bereich Illustration schreibt er im Vorwort von Julius Wiedemann: „Einer der Nebeneffekte des digitalen Zeitalters ist, dass es gezeigt hat, wie gut sich unser Publikum mit Visuellem auskennt, und kein Medium kann diese Erkenntnis so gut darstellen wie die Illustration.“
Weiterführende Informationen:
Steven Heller, Julius Wiedemann: The Illustrator. 100 Best from around the World. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. TASCHEN Verlag, Köln 2019.