Kollegen als Freunde? Warum gerade jetzt in der Krise gute Arbeitsbeziehungen wichtig sind
„Mit meinen Kollegen muss ich nicht befreundet sein“, höre ich häufig. Dabei ist es gerade jetzt und im Homeoffice umso wichtiger, in gute zwischenmenschliche Beziehungen auf der Arbeit zu investieren.
„Job ist Job, Kollegen sind Kollegen, Freunde habe ich im Privatleben!“ Solche Aussagen begegnen mir gefühlt immer häufiger. Im Coaching, wenn es um bessere Zusammenarbeit im Team geht und in vielen Kommentaren unter meinen Beiträgen, wenn ich für gute Beziehungen unter Kolleginnen und Kollegen werbe. Je stärker die Grenzen zwischen Arbeit und Leben verschwimmen, umso stärker scheint das Verlangen zu werden, private Lebensbeziehungen mit Nähe von professionellen Jobbeziehungen mit Distanz zu unterscheiden. Wieviel unpersönliche Distanz ist im beruflichen Umfeld geboten und wieviel kollegial freundschaftliche Nähe tut uns gut?
Job-Gefängnis: Wenn aus Kollegen Mitinsassen werden
Wenn ich mit Angestellten über ihre Jobs spreche, dann habe ich manchmal das Bild im Kopf, dass sie mit ihrer Personalnummer morgens in den Ort ihrer Arbeitsverrichtung einchecken, hierbei ihre Persönlichkeit sowie menschlich sozialen Bedürfnisse auf Zeit und bewusst draußen parken, für ihren Lohn pflichtbewusst Dienst nach Vorschrift leisten und spätestens ab der Mittagspause die Minuten zählen, bis sie ihr Arbeitsgefängnis verlassen, ihr Leben wieder Freude machen und sie Kontakt zu denjenigen Menschen in ihrem Umfeld haben dürfen, die sie Freunde nennen und bei denen sie sein dürfen, wie sie sind. Selbst aktuell im Homeoffice ziehen viele die Trennung von Jobmensch und Privatperson konsequent durch.
Einige meiner Klienten beschreiben es als hohe Steinmauer in ihren Köpfen, die sie über die Jahre bei einem Arbeitgeber oder in einem Team mühevoll um sich herum aufgebaut haben. Möglichst eng, möglichst hoch, möglichst stabil. Als Schutz vor falschen Kollegen oder ungerechten Chefs, vor persönlicher Verletzung oder mangelnder Wertschätzung. „Das alles lasse ich nicht mehr an mich heran“, erzählen sie mir fast stolz.
Mit etwas Übung ist die Gefahr jedoch sehr groß, dass solche Mauern zur Normalität im Dauerzustand werden. Das Gefühl innerhalb der Mauern wird zur vermeintlich kuschelig sicheren Komfortzone. Und so erwachsen rasant solche Denkmuster und Verhaltensweisen, die nicht nur auf Vertrauen fußende Beziehungen im Beruf vollständig verbieten, sondern auch den Blick ins Außen sowie den eignen Wirkungskreis innerhalb eines Jobs immer stärker einengen.
Kollegen: Freund oder Feind?
Schutz ist ein Urinstinkt in unserem in weiten Teilen noch steinzeitlich tickenden Gehirn. Es liegt uns näher, gefangen in einem Arbeitsvertrag möglichst schnell die stabilste Mauer als Selbstschutz zu errichten, statt wortwörtlich Auge in Auge eine belastende Situation zu klären:
Mit dem Kollegen nicht zu besprechen, was gerade eben im Meeting so sehr verletzt hat, sondern ihm ab sofort für immer die kalte Schulter zu zeigen. Mit der Chefin niemals wieder auch nur ein persönliches Wort zu wechseln, nachdem sie die eineinhalb Überstunden am vergangenen Freitag nicht gewürdigt hat. Den neuen Kollegen im Team zur Sicherheit besser von Anfang an unwissend klein auf Abstand zu halten, bevor er in der Gemeinschaft zu mächtig wird und womöglich am Ende schneller Karriere macht.
Kollegen – Freund oder Feind? ‚Weder noch‘ lautet in meiner Wahrnehmung aktuell die Antwort vieler Arbeitnehmer. Es scheint mehr ein diffuses Gefühl irgendwo dazwischen zu sein. Wo früher noch von einer großen Familie im Unternehmen die Rede war, dort gehören Kollegen heute einfach zum Job oder in einem Projekt dazu. Sie sind halt da, mehr aber bitte nicht! Gutes nebeneinander Auskommen statt freundschaftliches einander Zugehören. Miteinander arbeiten statt zusammen arbeiten. Mehr das Ich im Team als das Wir als Team.
Kollegialität für Angestellte einer der wichtigsten Werte
Spreche ich mit Menschen darüber, was ihnen im Beruf wirklich wichtig ist, sie motiviert und gesund hält, dann rangieren Kollegialität oder Zugehörigkeit als Werte für sehr viele Angestellte weit oben:
Die Hilfsbereitschaft im Team, die gegenseitige Unterstützung sowie gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um erfolgreich Ziele zu erreichen. Sich innerhalb einer Organisation als Mensch und Teil eines großen Ganzen zugehörig zu fühlen sowie als Individuum gesehen, gehört und wertgeschätzt zu werden. Freude und Leichtigkeit im täglichen Miteinander zu empfinden, gemeinsam etwas zu bewegen und einen Unterschied zu machen ist das, was sich viele sehnlichst wünschen, jedoch gefangen in ihren selbst errichteten Mauern im Kopf und als Teil von Organisationen, in denen Silo- und Konkurrenzedenken derartige Schutzreflexe mitunter sogar systematisch fördern, häufig so sehr vermissen.
Kollegialität ist also super wichtig, doch mit den Kollegen gut Freund zu sein, das geht zu weit? Mal ehrlich, was spricht tatsächlich dagegen und ist es wirklich derart gefährlich, mit Kolleginnen und Kollegen freundschaftliche Arbeitsbeziehungen zu pflegen? Sich echt füreinander zu interessieren und neugierig auf die Erfahrungen und Sichtweisen anderer zu sein. Sich zu unterstützen, wo es für den Erfolg als Team wertvoll ist. Ängste, Wut oder Trauer genauso zeigen zu dürfen und wahrnehmen zu können, wie Spaß, Leidenschaft oder Stolz. Kollegen um Hilfe oder Rat bitten zu können, wie auch selbst bewusst Grenzen setzen zu dürfen. Ehrliches Feedback geben und offen auszusprechen, was gerade stört oder verletzt hat, ohne Sorge, die gute Beziehungsebene im gegenseitigen Vertrauen zu gefährden - wer wünscht es sich nicht?
Corona-Krise: Gute Beziehungsebene gewinnt auf Distanz an Bedeutung
Die gute Nachricht: Als Chef*in Deines eigenen Lebens kannst Du selbst und in jeder Situation individuell entscheiden, wieviel „Mauer“ Dir in der Arbeitsbeziehung mit einem anderen Menschen Schutz bietet, Dich jedoch auch einengt – oder welche Intensität kollegialer Freundschaft Dir persönlich täglich Kraft gibt und Euch als Team mit Leichtigkeit erfolgreicher macht.
Besonders jetzt in der Krise und im Homeoffice auf Distanz ist es umso wichtiger, nicht nur gesunde Selbstfürsorge zu betreiben, sondern auch und ganz bewusst in gute zwischenmenschliche Arbeitsbeziehungen zu investieren. Meine Erfahrungen aus der Arbeit mit Mitarbeitern und Teams sind eindeutig: Wer in Kollegen keine Freunde sieht, der steht sich selbst im Weg.
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Was ist Deine Meinung, wie freundschaftlich sollte es unter Kolleginnen und Kollegen zugehen? Ich bin gespannt auf Deine Sichtweise und Erfahrungen unten in den Kommentaren.
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