Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Kommunale Daseinsvorsorge: „Es muss die Art, wie wir Gesundheitsversorgung praktizieren, radikal geändert werden“

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Dort, wo die Menschen leben, wohnen und sich bewegen, muss das Problem der integrierten, vernetzten Landschaften der Versorgung, Behandlung, Betreuung, Begleitung, Förderung und Aktivierung nachhaltig gelöst werden. Der Gesundheitsexperte Thomas Bade, geboren 1955 in Berlin, studierte Betriebswirtschaft an der Universität Hamburg. Berufs- und Lebenserfahrungen wurden an verschiedenen Wohnorten gesammelt: Berlin, Hamburg, New York, Stuttgart, Helsingborg, Bad Oldesloe und Eichstätt. Nach der Ausbildung hatte er verschiedene Tätigkeiten in unterschiedlichen Positionen im Marketing in Deutschland und den USA inne. Von 1989 bis 1996 war er Geschäftsführer einer Medizintechnik-Firma, parallel erste Auseinandersetzung mit dem deutschen Gesundheitssystem. Bade war Europa-Repräsentant der amerikanischen Medizintechnik Firma Rehablicare Inc. in Schweden. Für die Asklepios Kliniken GmbH & Co. KGaA war er von 2017 bis 2020 verantwortlich für den Bereich Business Development und Execution in den Geschäftsfeldern Entlassmanagement und HomeCare. Von März 2021 bis März 2023 arbeitete er als Geschäftsführer der Präqualifizierungsstelle HAWE-Systems GmbH in Röthenbach. Seit Dezember 2023 ist er Mitarbeiter der nubedian GmbH in Karlsruhe und verantwortlich für den Aufbau eines Patientenportals zum Entlassmanagement an bayerischen kommunalen und frei gemeinnützingen Krankenhäusern.

Interview mit dem Gesundheitsexperten Thomas Bade

Herr Bade, was verstehen Sie unter Kommunaler Daseinsvorsorge? Können Sie einige Beispiele nennen?

Die kommunale Daseinsvorsorge ist ein zentraler Aspekt der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland und wird durch das Grundgesetz geschützt. In Bayern werden Aufgaben der Kommunen zusätzlich durch das Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze definiert. So wird u.a. die Pflicht der Kommunen zu einer bedarfsgerechten stationären wie ambulanten Pflege gefordert. Dadurch wird den Kommunen das Recht eingeräumt, alle Angelegenheiten der örtlichen Versorgungssettings und Dienstleistungsangebote im Rahmen der bundeseinheitlichen Sozialgesetzgebung in eigener Verantwortung zu regeln.

Als erstes sollten an Grund- und weiterführenden Schulen Schulgesundheitspflegerin bzw. der Schulgesundheitspfleger (School Health Nurse) für die Gesundheitsversorgung als auch für die Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen verantwortlich sein. Nach schwedischem Vorbild wären sie für Schüler der zentrale Ansprechpartner zu allen gesundheitlichen Fragestellungen, Problemen sowie Belange und ermitteln und unterstützen gesundheitsförderliche Potentiale.

Zweitens müssen sich Kommunen darauf konzentrieren, präventive Maßnahmen und Gesundheitsförderungsprogramme auszubauen. Dies könnte beispielsweise durch die Erhöhung von Budgets für altersgerechten Wohnungsbau erreicht werden.

Drittens müssen Beratungs- und Unterstützungsangebote zu gesundheitlichen, sozialrechtlichen und finanziellen Fragen für Betroffene und ihre Angehörigen bei der Navigation durch das Gesundheits- und Sozialsystem angeboten werden.

Es ist ein Armutszeugnis, dass laut einer aktuellen Studie des Sozialverband VdK jährlich Sozialleistungen im Gesamtwert von 12 Milliarden Euro von Anspruchberechtigten nicht abgerufen werden. Dies geschieht zum einen, weil Ansprüche nicht bekannt sind, die Inanspruchnahme so kompliziert ist oder es schlichtweg keine Kapazitäten für bestimmte Leistungen gibt.

Warum ist es wichtig, sich vor allem auf regionale, konkrete und unbürokratische Gesundheitsförderung zu konzentrieren?

Regionale Ansätze, wie das Gesundhaus i-Tüpferl in Steindorf, ermöglichen eine maßgeschneiderte kommunale Sozialplanung, die spezifisch auf die Bedürfnisse, Herausforderungen und Ressourcen in der Region zugeschnitten sind. Um Nachhaltigkeit und die dauerhafte Verfügbarkeit von Gesundheitsdienstleistungen zu erreichen, haben regionale innovative Ansätze eher das Potential langfristig etabliert und für alle zugänglich gemacht zu werden. Dies gewährleistet z.B., dass erfolgreiche Innovationen nicht nach Auslaufen von Förderprogrammen wieder verschwinden.

Projekte und Initiativen, die in der eigenen Gemeinde durchgeführt werden, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich Einwohner engagieren und einbringen. Durch den Fokus auf konkrete, regionale Maßnahmen können Ressourcen gezielter und effizienter eingesetzt werden. Unbürokratische Ansätze verringern zudem Verwaltungsaufwand und ermöglichen eine schnellere Umsetzung von Projekten und Initiativen.

Die Zusammenarbeit auf lokaler Ebene fördert den Aufbau und die Stärkung von Netzwerken zwischen verschiedenen Akteuren, wie kommunalen Einrichtungen, sozialen Diensten, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsdienstleistern und der Zivilgesellschaft. Die Einbeziehung verschiedener Sektoren und Disziplinen in die Planung und Umsetzung von Gesundheits- und Sozialmaßnahmen fördert einen ganzheitlichen Blick auf Gesundheit und Wohlbefinden. Dies ermöglicht die Berücksichtigung von physischen, psychischen und sozialen Aspekten und trägt zur Entwicklung umfassender Lösungsstrategien bei.

Welche Rolle spielen die SDGs für das Entwicklungsfeld „Gesundheit“?

Es müssen auf regionaler Ebene mehr Lösungen für eine altersfreundliche Umgebung geschaffen werden (z. B. Zugänglichkeit von Dienstleistungen, öffentlichen Räumen und Gebäuden; altersfreundliche Unternehmen; Mobilität älterer Menschen in der Gemeinschaft; Möglichkeiten für lebenslanges Lernen). Die Integration der Themen Leben und Wasser, weniger Ungleichheiten sowie Gesundheit und Wohlergehen in die Planung und Entwicklung von Städten und Gemeinden kann zu klimaneutralen, resilienten, kulturell attraktiven und gesundheitsfördernden urbanen Umgebungen führen. Wichtig ist dabei, dass übergeordnete Konzepte und internationale Initiativen, wie z.B. der WHO One Health Ansatz und die UN Decade of Healthy Ageing in regionale Projekte überführt werden.Aus diesem Grund sind regionale Projekte wie das Gesundhaus i-Tüperl in Steindorf und Bemühungen des Gemeinderats so wichtig.

Welche Herausforderungen gilt es zu bewältigen?

Es muss die Art, wie wir Gesundheitsversorgung praktizieren und darüber nachdenken, radikal geändert werden. Der demographische Wandel zeigt, dass eine Verlagerung hin zu präventiver und proaktiver pflegerischer Versorgung entscheidend ist. Ältere Menschen müssen als Experten ihres Lebensumfeldes in regionale Projekte einbezogen werden, und wir müssen sie in die Lage versetzen, Mitgestaltungsprozesse zu initiieren. Altersfreundlichkeit von öffentlichen Räumen, Dienstleistungen und Informationen müssen entscheidend verbessert werden. Angebote zur sozialen Teilhabe müssen je nach Region aus- oder aufgebaut werden. Besuchsdienste, gemeinschaftliche Aktivitäten oder Fahrdienste zu sozialen Ereignissen fördern die soziale Einbindung und bekämpfen die Isolation, die oft mit dem Älterwerden einhergeht.

Ist Gesundheitsvorsorge Sache des Staates oder des Einzelnen?

Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass der Staat nur dann eingreifen solle, wenn der Einzelne oder kleinere Gemeinschaften nicht in der Lage sind, eine Aufgabe selbst zu erfüllen. Es betont zunächst die Eigenverantwortung des Einzelnen, der selbst zuständig für seine Gesundheitsvorsorge ist. Der Sozialstaat hat die Aufgabe die notwendigen Gesundheitsinfrastrukturen sowie finanzielle Absicherungen zur Verfügung zu stellen und damit die Sicherstellung eines gerechten Zugangs zu Gesundheitsvorsorge für alle Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten.

Die Pflegeversicherung des SGB XI folgt dem Subsidiaritätsprinzip. In § 3 SGB XI heißt es: „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können.“ Obwohl die Pflegeversicherung in der Sozialgesetzgebung etabliert wurde, bildet das Prinzip der Subsidiarität nach §1618a und §1353 BGB, die Grundlage unseres Pflegesystems. Das rechtlich verankerte Prinzip der Subsidiarität ist geblieben.

Sowohl Ehepartner als auch Kinder und Eltern sind zu wechselseitiger Sorge füreinander verpflichtet. Ganz selbstverständlich wird hingenommen, dass über 80% der Versorgung und Pflege rund um die Uhr von Angehörigen, meist Frauen, sichergestellt wird. In diesem Bereich müssen wir dringend einen Diskurs darüber beginnen, wo die rote Linie der Subsidiarität gezogen wird.

Wie kann es gelingen, Bund, Länder, Kommunen und weitere Verbände einzubeziehen, um die Primärprävention zu stärken?

Unser Gesundheitssystem und das ihm zugrundeliegende Wohlfahrtsmodell stehen seit Jahren unter erheblichem Druck. Dieser Druck beruht zum Teil auf unsicheren demografischen Bedingungen. Die explodierenden Kosten der Langzeitpflege und die wachsenden Herausforderungen, mit denen Arbeitskräfte und pflegende Angehörige im Gesundheitswesen konfrontiert werden, sind Anzeichen für ein versagendes System. In der Vergangenheit wurden jährlich die Ausgaben für die Langzeitpflege und Krankenbehandlung erhöht, um mit der Nachfrage der Bürger Schritt zu halten, aber dies ist nicht mehr tragbar.

Es muss zukünftig die Primärprävention gestärkt und ein umfassendes, effektives Präventionskonzept entwickelt werden. Hierfür ist eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen gesetzlichen Krankenkassen, Bund, Ländern, Kommunen und dem Sozialsektor erforderlich. Wir bemühen uns, immer innovativere Behandlungsformen und den Bau von Hightech Superkrankenhäusern in Deutschland zu etablieren. Diese Systeme sind auf die wirksame Behandlung von Krankheiten ausgelegt, aber wir sehen wenig Innovation in Bezug auf Präventionsdienste.

Das soll nicht heißen, dass das Superkrankenhaus keinen Platz im Gesundheitssystem der Zukunft hat, aber es ist symptomatisch für die seit langem bestehende Tendenz, in die Behandlung zu investieren, anstatt die Fähigkeiten und das Bewusstsein der Institutionen und der Bürger für die Gesundheitsvorsorge zu entwickeln.

Gibt es Vorbilder?

Vorbild könnte die Nordic Health 2030 Initiative der nordischen Länder sein. Erklärtes Ziel der Initiative ist eine Verschiebung der Kosten für Behandlung und Prävention. Bis 2030 sollen die nordischen Länder fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Krankheitsbehandlung ausgeben, und fünf Prozent für Prävention. Im Vergleich dazu betragen die Gesundheitsausgaben in Deutschland 12,9% des BIP und nur 0,015% des BIP für Gesundheitsprävention und betriebliche Gesundheitsförderung (€ 584 Mio.).

Welche Aspekte gehören für Sie zu einem umfassenden Gesundheitsverständnis?

Dazu gehört die Erkenntnis, dass Gesundheit von einer Vielzahl von Determinanten beeinflusst wird, einschließlich sozialer, ökonomischer, umweltbedingter und persönlicher Faktoren. Der größte Teil unserer Gesundheitsausgaben fließt nach wie vor in die kurative und rehabilitative Versorgung, obwohl es eindeutige Belege dafür gibt, dass mehr Mittel benötigt werden, um Gesundheitsförderung und Prävention auszubauen. Die alleinige Orientierung der Versorgungsziele auf Krankheitsbewältigung ist nicht mehr ausreichend. Deutschland als Mitglied der Europa-Region der WHO hat mit der Tallinn-Charta 2008 ein umfassendes Gesundheitsverständnis verankert. Dies geht weit über die reine medizinische Versorgung hinaus. Soziale, wirtschaftliche und umweltbedingte Einflüsse haben unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit.

Das Interview führten Dr. Alexandra Hildebrandt und Christine Bergmair

Veranstaltungshinweis:

Mittwoch, 10. April 2024 14-18 Uhr im Gesundhaus i-Tüpferl:

THINK TANK · Interdisziplinäre Medizin & zukunftsfähige Versorgungskonzepte mit Christine Bergmair und Thomas Bade

Thema: Kommunale Daseinsvorsorge. Sozialpolitik im Kontext regionaler Infrastrukturen. Neuausrichtung der Versorgungsmodelle für wirksame Gesundheitsdienstleistungen.

Impuls der Gastgeberin · Expertenvortrag · Austausch

Veranstaltungsformat Think Tank:

„Das Gesundhaus i-Tüpferl ist ein modernes Praxishaus und vereint medizinische, therapeutische, pädagogische Behandlungsansätze. Es wird die Vision gelebt, traditionelle Heilkunde mit modernster Technik & innovativen Konzepten in Zusammenarbeit für eine umfassende Patientenbegleitung zu verbinden. „Think Tank“ ist eines von vielfältigen Veranstaltungsformaten rund um die Themen Gesundheit & Prävention, mit denen Menschen durch unterschiedliche Impulse befähigt werden sollen, sich mit der eigenen Gesundheit zu beschäftigen, sich und seiner Gesundheit Gutes zu tun und sich Kompetenzen anzueignen, aufgeklärt und eigenverantwortlich im Gesundheitssystem die Hilfe & Unterstützung zu erlangen, die notwendig ist. Gleichzeitig soll es Organisationen befähigen, Entwicklung im Gesundheitswesen aktiv zu gestalten. Das Think Tank bietet Raum und Begegnung für unterschiedliche Akteure und Interessensgruppen zu einem aktuellen Thema aus der Gesundheitspolitik. Konzept ist ein offener Diskurs für gemeinsame Bewegung und aktive Umsetzung.“ Christine Bergmair“

Weiterführende Informationen:

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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