Pixabay

Krank: Steht unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps?

"Für Kranke sind Faktoren wichtig, die in betriebswirtschaftlichen Programmen keine oder kaum eine Rolle spielen: Zeit, Geborgenheit, und ... Barmherzigkeit." Heribert Prantl

Das Wohl der Patienten bleibt auf der Strecke

Medizin, die ausschließlich den Gesetzen der Betriebswirtschaft gehorcht, verliert die Barmherzigkeit. Der Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, verweist in seinem lesenswerten Beitrag über das Gesundheitssystem, das an seinen Krankenhäusern krankt, auf die Tafel im Foyer der im Jahr 1784 in Wien errichteten Frauenklinik, die Kaiser Joseph II. anbringen ließ: "In diesem Haus sollen die Patienten geheilt und getröstet werden." Solche Tafeln braucht es auch heute.

Doch das "Wohl des Patienten bleibt in deutschen Krankenhäusern auf der Strecke“, urteilte 2016 der Ethikrat. In deutschen Krankenhäusern herrschen Überbürokratisierung, Arbeitsüberlastung und massiver ökonomischer Druck. Die Vielzahl der Kliniken steht in scharfer Konkurrenz zueinander. Das Geld ist knapp, weil die Länder seit Jahren ihre Finanzzuschüsse kürzen. Krankenhäuser steigern vor dem Hintergrund der schwierigen ökonomischen Situation die Zahl der Operationen und senken gleichzeitig die Zahl der Pflegekräfte. Ärzte überweisen Untersuchungsmaterial an Labore, um hieran still zu profitieren. Menschen mit Behinderung und Kinder werden ungern behandelt, weil es sich nicht „lohnt.“

Unser Gesundheitssystem gehört zu den ältesten der westlichen Welt. „Es wird nach mehr als 140 Jahren zugrunde gehen, wenn nicht schnell etwas geschieht“, sagt der Gastroentgerologe Berndt Birkner. Wenn es nach dem Ethikrat geht, müsse das Ziel sein, das Patientenwohl zum zentralen Leitmotiv im Krankenhaus zu machen. Nach Auffassung des Gremiums kommt es für den Patienten auf drei Umstände an:

1. Der Patient sollte innerhalb des Krankenhauses selbstbestimmt handeln können.

2. Zum Patientenwohl gehört laut Ethikrat eine gute Behandlungsqualität.

3. Es muss zur Sicherung des Patientenwohls bei der Behandlung gerecht zugehen.

Dafür braucht es allerdings Veränderungen im täglichen Ablauf: So sollten die Geschäftsführer der Kliniken künftig „neben ihrer ökonomischen Fachkompetenz auch über grundlegende Kenntnisse in Medizin und Pflege verfügen.“ Zudem müssten die Regeln überarbeitet werden, nach denen zurzeit die Krankenhausleistungen (Fallpauschalen) bezahlt werden, denn sie führen laut Ethikrat vielfach dazu, dass in den Krankenhäusern Leistungen im Übermaß angeboten werden, die besonders lukrativ sind. Andere Behandlungen würden jedoch aus dem Angebot fallen.

Kranke Häuser

Was passiert, wenn zu spät reagiert und an dem festgehalten wird, was immer getan wurde, zeigt im Kontext des Gesundheitswesens das Beispiel Dräger, einst Vorzeigeunternehmen der deutschen Medizintechnikbranche: Noch zu stabilen Zeiten, 2009, wurde hier ein „Turnaround-Programm“ aufgelegt, um Profitabilität und Eigenkapital zu stärken. Doch es war nicht nachhaltig: „So wurden trotz Sparmaßnahmen in den vergangenen drei Jahren mit Segen des Vorstands rund 1000 neue Mitarbeiter auf Basis überzogener Wachstumsaussichten neu eingestellt, viele in der Zentrale sowie für Marketing und Vertrieb. Wieder liefen die Kosten aus dem Ruder.“

In ihrem Beitrag „Lebensretter in Not“ aus dem Jahr 2016 zitiert Anke Henrich den Beschaffungsschef einer großen nordrhein-westfälischen Feuerwehr: „Dräger ist zu innovativ in zu kurzen Produktlaufzeiten und mit zu komplizierten Denkansätzen.“ So seien neue Atemschutzgeräte viel verspielter, aber weniger robust als ihre Vorgänger. Auch würde die Konzernführung nicht auf ihre rationalen Praktiker hören, sondern auf „Technikfantasten“. Das Unternehmen hielt zu lange an uralten Produkten fest, setzte nicht auf richtiges Management und führte für die Probleme vor allem externe Gründe wie Währungsverluste, weltweit politische Turbulenzen und Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen an. Es erkannte nicht, dass die wahren Probleme wie internes Bürokratentum und eine veraltete Führungskultur innen liegen.

Qualität wird zunehmend durch Quantität ersetzt

"Was zählt eigentlich mehr, wenn Krankenhäuser an der Börsen notiert sind: die Bedürfnisse des Shareholders oder die des Patienten?" Heribert Prantl

Die Logik der Pharmaindustrie entspricht der kalten Logik der Kapitalmärkte: Sie ist mit zahllosen Übernahmewellen verbunden. Zudem werden Bilanzen poliert, indem die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen ihrer Übernahmeziele auf Miniaturformat geschrumpft und die zugekauften Medikamente massiv verteuert werden. Damit steigen Gewinne, Aktienkurse und die Gehälter der Topmanager. Jedes Mal, „wenn das Management sich auf Deals konzentriert statt sein Augenmerk auf den Nachschub aus den eigenen Labors zu richten, sinkt die Produktivität der Forscher.“ (manager magazin, 3/2016)

Statt um Forschung und Lehre geht es um das Einwerben von Drittmitteln. Oder es wird auf Forschung und Entwicklung verzichtet. Werden dann die Preise angezogen, geht das auf Kosten der Patienten – und unserer Zukunft. Dem Psychiater und Psychologen Manfred Spitzer wird oft vorgeworfen, dass seine Bücher zu negativ sind und keine positive Botschaft beinhalten. Dabei spiegeln sie doch nur die Wirklichkeit. Sein Buch „Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert“ ist ein kleines Licht in großer Dunkelheit, das zeigt, dass wir uns an uns und unseren Nachkommen versündigen, wenn wir die Entwicklung „einigen sehr reichen Firmen überlassen, denen ihre Profite wichtiger sind als das Wohl der nächsten Generation.“

Weiterführende Informationen:

Berndt Birkner: Was Ärzte krank macht. In: Süddeutsche Zeitung (27./28.7.2019), S. 5.

Guido Bohsem: Mehr Operationen, weniger Pfleger. In: Süddeutsche Zeitung (6.4.2016).

CSR und Sportmanagement. Jenseits von Sieg und Niederlage: Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2019.

Elisabeth Dostert: Der Kämpfer: In: Süddeutsche Zeitung (6.4.2016).

Anke Henrich: Lebensretter in Not. In: WirtschaftsWoche (4.3.2016).

Oliver Pragal: Gekaufte Medizin. In: DIE ZEIT (10.3.2016).

Heribert Prantl: Kranke Häuser. In: Süddeutsche Zeitung (17/18.8.2019), S. 5.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

Artikelsammlung ansehen