Krankheit in Zeiten des Klimawandels: Das Leben als Aufgabe
Immer wieder habe ich in den vergangenen Jahren über die Beziehung von Nachhaltigkeit und Dringlichkeit unter Berücksichtigung des Vermächtnisses des Publizisten Roger Willemsen geschrieben, der 2016 seiner Krebserkrankung erlag. Auch im Herausgeberband „Klimawandel in der Wirtschaft“ habe ich mich intensiv damit beschäftigt. Der Beitrag trägt den Titel „Das Leben als Aufgabe“. Willemsens postum erschienenes Buch „Wer wir waren“, das seine Zukunftsrede enthält, basiert auf einem zweimal gehaltenen Vortrag, aus dem ein Buch entstehen sollte, als der Autor noch nichts von seiner Krankheit wusste: Willemsen blickt aus der Zukunft auf die Gegenwart, weil sie ihm ermöglicht hat, sie schärfer zu sehen. Vom Anfang aller Tage sei alles immer schlechter geworden: Luft und Wasser, Manieren, politische Persönlichkeiten oder der Zusammenhalt unter den Menschen. „Wir sind jene, die wussten, aber nicht verstanden.“ Als ich über sein Vermächtnis an die nächste Generation im Sommer und Herbst 2019 schrieb, war nicht abzusehen, dass das Thema Krebs meine Familie unerwartet treffen würde.
Am Tag der Abgabe meines Vorworts im November 2019 erfuhren wir, dass mein Vater schwer an Krebs erkrankt ist und nur noch palliativ behandelt werden kann. „Schlimmer kann es kaum kommen. Doch dann geht das Trommelgewitter erst richtig los. Der Krebs fordert alle Aufmerksamkeit und verbraucht dabei jede Kraftreserve. Er ist unsensibel, unberechenbar und unheimlich zugleich. Er kann kaltblütig sein und komplex. Er mischt sich kompromisslos ein und zwingt nicht nur die Gesundheit, sondern das gesamte Leben an seine Grenzen und weit darüber hinaus.“ Genauso, wie es Achim Sam und Verena Sam in ihrem „Krebs-Kompass“, beschreiben, haben wir diese Zeit erlebt. Nach etlichen Chemotherapien und Bestrahlungen kam diese Navigationshilfe für das Leben mit dem Krebs zur rechten Zeit, denn auch wir standen wie die Autoren plötzlich da mit der Krankheit und fühlten uns überfordert, verzweifelt und orientierungslos. Wie weiterleben? Wen fragen? Was tun oder unterlassen?
Sofort habe ich beim Lesen der ersten Seiten auch eine innere Verbindung zu meinem Text „Das Leben als Aufgabe“ gespürt – und schließlich fügte sich alles durch den Satz: „Der Krebs ist eine Aufgabe, und keine einfache.“ Man kann mit dem ihm wachsen wie an jeder größeren Aufgabe, wenn man sich ihr stellt – so wie Verena Sam, die 1982 in Kaltenkirchen zur Welt kommt und durch Schule und Leben turnt, bis sie bereits mit 15 Jahren ihre erste Trainerausbildung absolviert. Niemand vor ihr hatte in Norddeutschland in diesem Alter die Prüfung abgeschlossen. Mit 20 war sie ausgebildete Sport- und Fitnesskauffrau mit sämtlichen Zusatzqualifikationen. Seitdem arbeitet sie als Fitnesstrainerin und Personal Coach in ganz Deutschland.
Achim Sam wird 1980 in Miltenberg am Main geboren. Seine Eltern betreiben eine Metzgerei – was man ihm auch ansieht, bis er mit dem Radsport beginnt. Er gewinnt Meisterschaften und fährt für die Nationalmannschaft. In Hamburg studiert er Ernährungswissenschaften, parallel besucht er die Burda-Journalistenschule. Für das Verlagshaus arbeitet er anschließend als Food- und Sportredakteur, als Ressortleiter und zuletzt in der Verlagsleitung. Zudem ist er viele Jahre Dozent an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Mit „Die 24Stunden-Diät“ schreibt er seinen ersten Bestseller. 2016 geht er mit seinem Bühnenprogramm ‚Iss was?!“ auf Deutschlandtour. Danach wird er Vice President bei der Online-Fitness Plattform 7NXT und entwickelt das Ernährungsprogramm „Deutschlank“, das wie seine anderen Bücher zum Erfolg wird.
Dass er wie bei Verena Sam in die Lunge gestreut hat, kommt sehr selten vor (über zwanzig Metastasen in beiden Lungenflügeln). „Das bedeutet palliative Einstufung. Nicht heilbar. Die Ärzte, die so befanden, sprachen zunächst von ein bis fünf Jahren.“ All das erinnerte mich an unser eigenes Schicksal: Uns wurde zwar kein Zeitraum mitgeteilt, aber dafür bemerkt, dass wir zu spät kommen und mein Vater nur noch „palliativ“ behandelt werden kann. Das Wort machte uns Angst, weil wir sofort den nahenden Tod vor Augen hatten. Achim und Verena Sam kritisieren seine Verwendung, denn wer dieses Etikett benutzt, sagt nichts anderes als: „Bitte bereiten Sie sich zum Sterben vor. Es geht zu Ende.“ Sie empfinden dies wie wir als Urteilsspruch, der Tausende von Patienten in zwei Gruppen einteilt: in Lebende und Sterbende. „Entweder träumen wir von Heilung – oder stellen uns auf den Tod ein. Genau das ist komplett falsch.“
In ihrem „Überlebensbuch“, das sich an Betroffenen, deren Angehörige und Partner, aber auch an Ärzte und das Klinikpersonal richtet, zeigen sie, dass zwischen diesen Vorstellungen von Himmel und Hölle ein Graubereich voller Möglichkeiten liegt. Der Krebs wird ihrer Meinung nach falsch bewertet: „Zu einseitig, zu alternativlos.“
Auch wenn jemand die Nachricht bekommt, dass seine Heilungschancen nur bei zwei Prozent liegen, dann sollte er niemals aufhören, daran zu glauben. Zwar trifft der Krebs das ganze Leben, aber sie zeigen, dass das Leben auch den Krebs treffen kann. Trotz vieler Rückschläge gibt es immer auch Grund zur Hoffnung: „Die vielen Begleiterscheinungen der Krebskrankheit fühlen sich an wie wetterwendische Launen. Tiefdruckgebiete, Kaltfronten, Tröge, hier und da tückische Okklusionen, die über einen hinwegziehen. Dann aber auch wieder wundervolle Warmfronten, Hochdruck mit purem Sonnenschein.“
So wie die Autoren haben auch wir häufig gehört, dass es besser ist, heute Krebs zu haben als noch vor einigen Jahren, denn die Fortschritte, die bei der Behandlung von Krebs gemacht werden, sind heute enorm. „Mit den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und drastisch gesteigerter Rechnerkapazität durchlaufen derzeit fast alle Bereiche des modernen Lebens kleinere und größere Revolutionen. Und das gilt auch für die Bekämpfung von Krebs.“
Diesem Anspruch möchte das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg gerecht werden. Es wurde 2004 gemeinsam von Universitätsklinikums Heidelberg, der Medizinischen Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg, dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), und der Deutschen Krebshilfe gegründet. Ziel des NCT Heidelberg ist es, vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung möglichst rasch in die Klinik zu übertragen und damit den Patienten zugutekommen zu lassen. Dies gilt für die Diagnose und die Behandlung, in der Nachsorge oder der Prävention. Die Tumorambulanz ist das Herzstück des NCT.
Hier profitieren die Patienten von einem individuellen Therapieplan, den fachübergreifende Expertenrunden (Tumorboards) zeitnah erstellen. Prof. Dr. Dirk Jäger trägt als NCT Direktor und Leiter der Abteilung Medizinische Onkologie die Verantwortung für die klinische Infrastruktur und Versorgung der Patienten am NCT Heidelberg. „Wissenschaftliche Anerkennung und Auszeichnungen treten hier in den Hintergrund. Im Vordergrund steht der Patient. Der Mensch. Und zwar jeder Einzelne“, betonen Verena und Achim Sam, der den Mäzen der TSG Hoffenheim und Mitgründer des Walldorfer Softwareunternehmens SAP Dietmar Hopp für das Buch interviewt hat.
Die Dietmar Hopp Stiftung unterstützt maßgeblich die Initiative des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und NCT mit dem Ziel, die individualisierte Krebsmedizin langfristig von einem Forschungsvorhaben in die Regelversorgung zu überführen. Seit über 25 Jahren fördert Dietmar Hopp den Medizinstandort Heidelberg. Der Kampf gegen Krebs ist eine wichtige Motivation in seiner Stiftungsarbeit. Sein Engagement gibt auch Achim und Verena Sam Hoffnung: „Es schenkt uns und Millionen betroffenen die Zuversicht, nach vorn schauen zu dürfen. Mit einem guten Gefühl im Bauch. Mit dem festen Glauben an eine Zukunft.“
Natürlich kann die Krankheit jederzeit wiederkommen, und es gibt keine endgültige Heilung, aber man kann lernen, damit zu leben. Auch eine Zuckererkrankung, ein Herzinfarkt oder eine Herzinsuffizienz sind nicht heilbar, aber behandelbar. Hervorgehoben wird auch die Bedeutung der Bewegung – auch hinaus aus der eigenen Opferrolle. „Der Krebs ist auch eine Art Klärwerk. Ein Katalysator und Verstärker. Er bringt Dinge ans Licht. Er sortiert, ordnet.“ Dafür brauchen Menschen oft viele Jahre, und manchmal lernen sie es nie. Der Krebs schärft den Blick aufs Wesentliche und lehrt, von Moment zu Moment zu leben und Geduld zu haben, denn niemand kann einen steilen Berg erklimmen und einfach senkrecht hochlaufen. Es geht nur in Etappen und Schleifen - deshalb ist der Krebs eine große Aufgabe.
Weiterführende Literatur:
Achim Sam, Verena Sam: Der Krebs-Kompass. Wie wir mit Krebs leben lernen. Diagnose, Therapie, Heilungschancen. Schnelle Orientierung auf Basis der neuesten Forschung. C. Bertelsmann Verlag, München 2020.
Alexandra Hildebrandt: Das Leben als Aufgabe. Was bleibt. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.