Kultur der Nachhaltigkeit: Ist die kulinarische Dimension der Intelligenz bei uns unterentwickelt?
Deutschland isst: „Tiefkühlpizza aus dem Schickimicki-Ofen“
Die Deutschen geben gern viel Geld für teure Küchen aus, die auch im internationalen Produktdesign hohe Anerkennung genießen. Allerdings werden in diesen „perfekten“ Küchen häufig minderwertige Speisen zubereitet. Convenience Food (Fertig- oder Halbfertiggerichte) spielt in den Ernährungsgewohnheiten vieler Deutscher eine zentrale Rolle. Ein weiterer Trend ist auch, „sich Grills zum Preis eines Kleinwagens zu kaufen, während das Fleisch, das auf den Geräten zubereitet wird, immer billiger wird“, resümiert der Autor Michael Nast in seinem aktuellen Buch „Vom Sinn unseres Lebens. Und andere Missverständnisse zwischen Ost und West“. Bekannt wurde er einem breiten Lesepublikum 2016 mit dem Bestseller „Generation Beziehungsunfähig“. 2018 erschien mit „#EGOLAND“ sein erster Roman.
In seinem neuen Buch kritisiert Nast, dass wir Deutschen gern billig kaufen „obwohl wir in einer der reichsten Nationen der Welt leben.“ Kultiviert wird unsere Gier durch die Billigangebote („Geiz ist geil“, „Spar dich reich“, „Tiefpreiswochen“, „Sparwochen“, „Allet super, allet billig.“). Dabei kann die Art unseres Konsumierens alles ändern: „Wir können etwas bewirken. Die Dinge verändern. Vielleicht sogar die Welt. Und das ist doch ein sehr schöner Gedanke.“
Schreiben war für den Autor schon immer seine Art, sich selbst und die Welt besser zu begreifen. Es ist für ihn wie eine Therapie und eine Möglichkeit, neben sich zu treten und sein Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten, „die einen unvoreingenommeneren Blick zulässt.“ Diesen braucht es auch für das Thema Nachhaltigkeit, das in seinem neuen Buch verwoben ist in die große Geschichte und viele kleine persönliche Geschichten, die dazu einladen, sie weiterzudenken und weiterzuschreiben. Seine Fragen sind auch unsere Fragen: „Was ist eigentlich meine Geschichte?“, „Was für ein Mensch möchte ich sein und wofür möchte ich die kurze Zeit, in der ich lebe, nutzen?“
Am 12. März 2019 wurde das Internet 30 Jahre alt. Michael Nast saß an diesem Tag an seinem Schreibtisch und blätterte im Buch „Vom Sinn unseres Lebens“, das er am 16. April 1989 (knapp einen Monat nach der Geburt des Internets und ein halbes Jahr vor dem Mauerfall und dem Ende der DDR) zur Jugendweihe in der DDR erhielt. Es war für ihn „ein Propagandaband voller unfreiwilliger Komik.“ In der DDR war der Sinn des Lebens „das Aufgehen in der Masse“, in der sich jeder ein- und unterzuordnen hatte. Seinen ersten Lebensbruch erlebte er mit 14 Jahren. Nast wuchs in Ost-Berlin auf, wurde in der DDR „sozialisiert“, war aber dennoch jung genug, um sich ganz selbstverständlich im Kapitalismus zurechtzufinden, als die Mauer fiel.
Als Grenzgänger, der weder hier noch dort wirklich „ganz“ ist, sieht er vieles aus der Distanz und ist aus diesem Abstand heraus besser urteilsfähig: „Wir sind so angepasst an diese Konsumgesellschaft, die alle Aspekte unseres Lebens, auch das Zwischenmenschliche, durchdringt, weil unsere Kultur ein Ich fördert, dass von äußeren Besitztümern abhängt. Wir drücken unser Ich durch Konsum aus. Wir glauben, uns durch die Originalität unseres Konsums selbst zu finden.“
Das bedeutet allerdings für viele Menschen nicht, wirklich nachhaltig zu sein – vielmehr setzen sie auf den schönen und teuren Schein. So verweist Nast auf den Trend, „sich Grills zum Preis eines Kleinwagens zu kaufen, während das Fleisch, das auf den Geräten zubereitet wird, immer billiger wird.“
Warum Bauch und Hirn zusammengehören
Der Sinn des Lebens sollte nach Ansicht von Dr. Frank Berzbach, der Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln unterrichtet, mit gutem Essen und mit der Fähigkeit zum Genuss in Verbindung stehen. Der Zen-Meister Shunryu Suzuki sagte einmal zu einem Mann, der gerade Koch in einem Meditationszentrum geworden war: „Du arbeitest nicht nur am Essen, du arbeitest auch an dir selbst und an anderen Menschen.“
Wer das Essen nur als bloße Nahrungsaufnahme betrachtet, wählt - ausgehend von der Fastfoodkultur - Essen von minderwertiger Qualität und übergroße Portionen („all you can eat“). Smartphones und Fernsehen machen es heute leicht, nebenbei zu essen, was wiederum entscheidenden Einfluss darauf hat, wie sich Menschen ernähren. „In Deutschland, anders als in anderen europäischen Ländern, wird inzwischen überall gegessen: in Hochschulseminaren, in Straßenbahnen, selbst im Stehen und Gehen“, schreibt Berzbach und verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Kulturanthropologen Gunther Hirschfelder, für den die Esskultur ein Spiegel gesellschaftlicher Werte ist.
Ein interessanter und in vielen Publikationen oft vernachlässigter Aspekt ist Berzbachs Beobachtung, dass sich die meisten großen Denker den Fragen guter Ernährung gar nicht erst gewidmet haben. Viele Fragen „wurden von jeglicher Schriftstellerei und anderen Künsten meist ausgeschlossen.“ Das folgende Beispiel mag amüsant erscheinen, zeigt aber zugleich die Ernsthaftigkeit des Themas: Der 2016 verstorbene Publizist und Intellektuelle Roger Willemsen gestand 2008 in einem Interview, dass er nicht kochen kann: "Entweder ich lasse mich bekochen, oder ich esse Wackersteine". Im Herausgeberband „Der leidenschaftliche Zeitgenosse“ von Insa Wilke findet sich sein Text „Die Raupe“, in dem er die Zusammenarbeit mit seinem Lektor Jürgen Hosemann beschreibt. Zutaten, Zubereitung und Genuss beziehen sich hier nur auf Literatur, der Lektor wird sogar als „ganz gute Hausfrau“ bezeichnet, die seine Texte von Überflüssigem reinigt. Auch liegen die Anforderungen des Lektorats „im Kulinarischen“. Um die gemeinsame Arbeit nicht unterbrechen zu müssen, aßen die beiden oft bei Roger Willemsen daheim, was bedeutete, dass er vorkochte. „Bewährt hat sich ein Gemüseeintopf, dem ich mit roten Linsen, Cumin und Garam Masala eine indische Note gebe. Diesen Matsch essen wir bei Bedarf drei Tage lang.“
Als eine Verlagsangestellte einmal ihre Geburtstagstorte auf den Flur gestellt hat, damit sich jeder ein Stück herunterschneiden kann, tat dies auch Herr Hosemann und lobte gegenüber Roger Willemsen besonders die Marzipan-Couvertüre, bis er ihn belehrte, dass es sich „um das Stearin, das beim Ausblasen der Kerzen verlaufen war“, handelte.
Die Bücher von Michael Nast und Frank Berzbach sind eine Einladung an alle, ihrem Körper vernünftiges Essen zuzuführen, sodass ihr Hirn „klar genug denken“ kann. Nachhaltiges Formbewusstsein bezieht sich nicht nur auf Literatur, Kunst und Wissenschaft, sondern auch auf uns selbst: „In unbedachter Zerstreuung können wir Dinge zwar benutzen, sie essen, uns ankleiden und von Medien berieselt werden. Aber erst in einer achtsamen Haltung können wir sie auch ästhetisch wahrnehmen und empfinden.“ (Frank Berzbach)
Weiterführende Informationen:
Michael Nast: Vom Sinn unseres Lebens. Und andere Missverständnisse zwischen Ost und West. Edel Germany GmbH. Hamburg 2019.
Frank Berzbach: Formbewusstsein. Eine kleine Vernetzung der alltäglichen Dinge. Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2016.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Küchen-Kultur und Lebensart: Warum Verantwortung nicht zwischen Herd und Kühlschrank aufhört. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Wohnen 21.0: Grundzüge des Seins von A bis Z: global – lokal –nachhaltig. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.