Foto Unsplash Jonathan Borba

Marshmallows beweisen Willenskraft und Windräder töten Vögel

Prüfe deine Annahmen. Streiche und ersetze Elemente. Geht es anders und einfacher? Gibt es andere Erklärungen als gedacht? Wurde eine Komponente übersehen?

Auch in anerkannte Studien schleichen sich Lücken und Missverständnisse ein, die überraschen können, schaut man genauer hin.

In Maslow ist kein Maslow drin

Die Maslowsche Bedürfnispyramide wird häufig in Trainings und Coachings zitiert. Danach gibt es eine klare Rangfolge der menschlichen Bedürfnisse. Die Basis aller Bedürfnisse bilden Essen, Schlaf, Sex. Darüber stehen die Bedürfnisse Sicherheit und Wohnen. Erst wenn diese Bedürfnisse erfüllt sind, wird auf der nächsten Ebene Anerkennung, Ansehen, Macht, Erfolg, Partnerschaften, Freundschaften und Zugehörigkeit gesucht. Und ganz oben an der Spitze steht die Selbstverwirklichung. In Brechts Worten: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“

Überraschenderweise hat Maslow nie von einer Hierarchie und einer Pyramide gesprochen. Die Darstellung der weltbekannten Pyramide stammt gar nicht von Maslow. „Maslow hat selbst nicht behauptet, dass die vorgelagerten Stufen immer erst voll befriedigt sein müssen, damit Menschen sich den übergeordneten Bedürfnissen zuwenden. Die Darstellung als Pyramide geht mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Psychologen Charles McDermid zurück, der diese 1960 in der Zeitschrift Business Horizons veröffentlichte.“

Der universelle Beweis der Willenskraft

Eine weitere Überraschung bietet das Marshmallow-Experiment der Stanford University von 1972. Kinder bekamen ein einziges Marshmallow. Ein zweites Marshmallow wurde ihnen versprochen, wenn sie nach einer bestimmen Zeit das erste Marshmallow noch nicht aufgegessen hatten. Wer konnte warten und wer nicht? Das Ergebnis wurde mit den späteren schulischen und beruflichen Leistungen der Kinder verglichen. Jahrzehntelang glaubte man an dieses Fazit: Wer die Willenskraft besitzt, auf das zweite Marshmallow zu warten, erzielt im Leben bessere Abschlüsse, glücklichere Beziehungen und höhere Einkommen.

Foto Unsplash Leon Contreras
Foto Unsplash Leon Contreras

Erst 2018 benennt The Atlantic das Problem der Stanford-Studie: Der familiäre Hintergrund der Kinder war 1972 völlig ausgeblendet worden. Ausschlaggebend für die Leistungen der Kinder war nicht deren angebliche Willensstärke, sondern die soziale Lage ihrer Eltern. Wer arm ist, greift sofort zu, weil er Hunger hat. „Für arme Menschen gibt es einfach keinen zweiten Marshmallow“, erfasst Wolfgang Gründinger die blinden Flecken im Marshmallow-Test.

Die Aussage des Marshmallow-Tests ist also eine völlig andere! Wenn es gar nicht um „angeborene“ Willenskraft geht, sondern um die soziale Lage der Eltern, dann wird auch klar, warum auch in Deutschland Bildungswege weiterhin am Beruf der Eltern kleben.

Verschwendung von Talenten

Dass Akademikerkinder eine dreimal so große Chance auf einen Bachelorabschluss haben wie Kinder, die in einer Nicht-Akademiker-Familie aufwachsen, liegt nicht an mangelnder Willenskraft. Das Argument „Bildung steht doch von allein jedem offen“ zieht nicht. Deutschland verschwendet die Talente des Nachwuchses.

Wer Armut nicht erlebt hat, weiß nicht, wie sie Kindheit und Leben prägt. Alle sozialen Bereiche sind betroffen, Schule, Essen, Freizeit und die Selbsteinschätzung. Privilegierte Menschen wissen nicht, wie es ist, auf jeden Euro achten zu müssen. Und vor allem haben sie nie erfahren, wie niederschmetternd die soziale Stigmatisierung auf die Betroffenen wirkt.

Windräder töten Vögel

Ein Argument gegen Windräder ist der Vogelschutz. Es wird behauptet, dass Windräder viele Vögel töten würden. Schauen wir uns die Zahlen an: Unangefochtener Erzfeind der Vögel sind Katzen. Sie sind laut einer US-Studie für rund 70 Prozent der getöteten Vögel verantwortlich. Der zweitgrößte Feind der Vögel ist die Fensterscheibe. Laut Schätzungen des BUND sterben in Europa jährlich 90 Millionen Vögel an Glasfassaden und Fenstern, davon mindestens 18 Millionen in Deutschland. Windkraftanlagen schlagen mit satten 0,007 Prozent aller getöteten Vögel zu Buche.

Auch gefährdete Vogelarten wie der Rotmilan haben von Windkraftanlagen kaum etwas zu befürchten. Über GPS-Sender werden die Flugbewegungen vieler Rotmilane in Deutschland nachvollzogen. Die größte Gefahr für den Greifvogel ist nicht das Windrad, sondern Gift. Rotmilane sterben, wenn sie tote Ratten oder Mäuse fressen, die kurz zuvor Giftköder gefressen haben. Es folgen Straßenverkehr, illegaler Abschuss, Stromschläge und Züge. Die Windkraft steht auf dem siebten Platz der Todesursachen. Niemand kommt auf die Idee, den Auto- oder Zugverkehr zu verbieten, weil einige Rotmilane mit ihnen kollidieren.

Recht zu haben ist Zeitverschwendung

Es ist Zeitverschwendung, auf altem Wissen zu beharren. Recht haben zu wollen, ist ein falscher Freund. Es kostet Zeit, Lebensfreude und Glück. Es gibt so viel Neues zu entdecken, wenn wir infrage stellen, vertiefen und Wissen neu kombinieren! Besserfrager sehen, hören, schmecken, fühlen, riechen mehr. Sie erkennen, probieren aus, streichen, drehen um und steigern. Wer fragt und lernt, befindet sich jeden Tag auf einer Abenteuerreise. Die 17., 23. oder 43. Frage wird dich überraschen, selten die ersten zehn Fragen. Übst du das regemäßig, stellst du in sieben Jahren eine Million Fragen. Jede Frage ist eine Anregung zum Streichen, Ersetzen und Kombinieren. Du schaust hinter Mauern, vertiefst, entdeckst und mistest alte Prozesse und Denkweisen aus.

Bist du fertig? Oder offen für Neues? Beharrst du auf deinem Standpunkt? Willst du Bestätigung des Bekannten? Oder fasziniert dich Überraschendes? Ist Platz neben deiner Überzeugung? Feierst du verschiedene Meinungen? Stellst du Fragen, die weiterführen?

Wer fragt, gibt dem Wandel eine Chance.

Mehr zu Leben und Arbeit, gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen steht im neuen Buch ROCK YOUR WORK. Das Buch gibt es überall: Im lokalen Buchladen, bei Amazon - Softcover und Hardcover und bei Tredition.

Martin Gaedt schreibt über Provotainment, Leben und Arbeit, cleveres Recruiting, Wirtschaft & Management

Martin Gaedt ist Autor von "4 TAGE WOCHE", "Rock Your Work", "Rock Your Idea" und "Mythos Fachkräftemangel". Er ist Provotainer und hat seit 2014 in 650 Keynotes mehr als 100.000 Gäste begeistert, provoziert und entertaint. Seit 1999 gründet er Unternehmen und stellt 44 Fragen, der Anfang des Neuen.

Artikelsammlung ansehen