Mensch oder Arbeitskraft? Der entscheidende Unterschied zwischen Wert und Wertschätzung
Seltsam, dass ausgerechnet ein Lenin-Zitat sich zu einer der hartnäckigsten Weisheiten der deutschen Arbeitskultur entwickelt hat: „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“. Spätestens die Corona-Pandemie dürfte diese Redewendung aber obsolet gemacht haben. Und das ist gut so!
Die Pandemie hat Führungskräfte dazu gezwungen, Kontrolle in einem bisher nie da gewesenen Maßstab abzugeben. Dass die Mehrheit der deutschen Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter seit fast zwei Jahren von zu Hause aus arbeitet, ohne dass die Wirtschaft zusammengebrochen ist, ist für mich der beste Beweis, dass das Prinzip Vertrauen funktioniert. Dafür steht übrigens auch unser NEW WORK Harbour, unser neues Büro mit Kiezkneipe, Dachterrasse und Bandraum: Obwohl er jede Menge Gelegenheit bietet, sich mit anderen Dingen als mit Arbeit zu beschäftigen, bin ich mir sicher, dass er unsere Produktivität nicht beeinträchtigen, sondern sie im Gegenteil beflügeln wird.
Andere scheinen sich da nicht so sicher zu sein. Einer aktuellen Umfrage zufolge befürchtet gut ein Drittel (37 Prozent) der deutschen Vorgesetzten negative Folgen für ihr Unternehmen, wenn sie flexibles Arbeiten ermöglichen – das hat kürzlich eine repräsentative Yougov-Umfrage unter 2000 Führungskräften aus elf Ländern ergeben. Die größte Sorge dabei ist, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen das Homeoffice nutzen, um sich um andere Dinge zu kümmern oder schlicht zu bummeln. 38 Prozent haben Bedenken, dass Jobs so nicht ordnungsgemäß erledigt werden. Mit diesen Werten liegt Deutschland klar über dem europäischen Durchschnitt. Das Misstrauen gegenüber den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist offensichtlich bei uns besonders tief verwurzelt – und das, obwohl die deutsche Volkswirtschaft zu einer der stabilsten der Welt zählt.
Werte (vor)leben
Woher kommt die deutsche Angst vor Kontrollverlust? Ich glaube, es liegt an einem Faktor, der in einigen Unternehmen immer noch im Dornröschenschlaf liegt: ihrer Kultur. Zwar haben die meisten inzwischen Missionen und Visionen formuliert, an die Wände geklebt (wo sie aktuell keiner mehr sieht) und Compliance-Richtlinien festgelegt, aber es hapert oft immer noch daran, sie tatsächlich im Alltag umzusetzen. Gelebte Unternehmenskultur bedeutet, Menschen als Menschen wahrzunehmen und nicht nur als „humane Ressource“, als Teil des Unternehmenskapitals. Gerade wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Unzufriedenheit signalisieren, wird oft reflexartig auf vermeintlich bewährte Mittel zurückgegriffen: Mehr Geld oder ein schönerer Titel werden es schon richten. Oft hilft das auch – für eine Weile. Aber in den meisten Fällen wird sich langfristig an der Zufriedenheit nichts ändern. Denn Zufriedenheit braucht Wertschätzung und Gestaltungsfreiräume. Wenn beides fehlt, ist das schlecht. Und beides sicherzustellen, das ist ganz klar eine Aufgabe für die oberste Führungsebene: „Die Reform beginnt an der Spitze. Die Treppe muss von oben gekehrt werden“, sagt dazu Beraterlegende Hermann Simon.
Leider kann sich auch schlechte Führung von oben nach unten ausbreiten. Gerade vor ein paar Tagen ging eine Meldung durch die Presse, dass der CEO eines amerikanischen Finanzkonzerns in einem dreiminütigen Videocall 900 Mitarbeiter mit den Worten „If you're on this call, you are part of the unlucky group that is being laid off“ fristlos entlassen hat. Wenn Führung so toxisch vorgelebt wird, strahlt das auch auf alle anderen Managementebenen aus und führt zu einer Arbeitsumgebung, in der nicht Kreativität und Motivation die Treiber sind, sondern Angst und Druck. In so einem Klima wandern auch hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eher früher als später ab – und jede künftige Nachbesetzung wird ein Albtraum.
Positivität kann ansteckend sein
Ich bin fest davon überzeugt, dass das Reinigen der Treppe tatsächlich oben anfängt. Dass gute Führung und eine Unternehmenskultur, die auf Offenheit und Vertrauen und ein positives Menschenbild setzen, ansteckend sind. Und damit meine ich nicht einen Kuschelkurs, in dem alles weichgespült wird. Meine Grundüberzeugung ist: Wer das liebt, was er tut, den Freiraum hat, sich zu entfalten, und wertgeschätzt wird, bringt bessere Leistung. Daran sollte doch jede Führungskraft Interesse haben. Menschen sind das wichtigste „Asset“ meines Unternehmens. Auch wir arbeiten hart daran, unsere Unternehmenskultur zukunftsfähig zu machen und in Zeiten von Distanz und Remote Work aufrechtzuerhalten. Ich bin in der glücklichen Lage, ein Unternehmen zu leiten, das eine den Menschen zugewandte und optimistische Kultur hat und dessen Ziel es ist, die Arbeitswelt zum Positiven zu verändern – und ich freue mich, jeden Tag meinen Teil dazu beitragen zu können. Für mich gilt daher: Vertrauen ist gut, Leidenschaft noch besser.
Welche Erfahrungen habt Ihr mit dem Thema Vertrauen und Unternehmenskultur gemacht? Ich freue mich über Austausch in den Kommentaren.