Menschenführung: Warum Amtbildung und Personbildung zusammengehören
Die Pandemie wirkte wie ein Brennglas auf viele Problemlagen, die Dr. Klaus Esser im Dezember 2021 für den Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) in einem Interview klar benannt hat. Dazu gehören Diskriminierung und Homophobie, die Erschütterung der Institution Kirche, der verlorene Blick auf die biblische Geschichte und die Werte, die im Christentum vermittelt werden, sowie fehlendes Handlungswissen über die Anpassungen im Organisations- und Nachhaltigkeitsmanagement.
Unternehmen und Organisationen sind heute mit vielfältigen, komplexen Risiken und Herausforderungen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und ökologischer Art konfrontiert. Auch in schwierigen Situationen müssen sie handlungsfähig bleiben. Das ist allerdings nur möglich, wenn die wichtigsten Themen unserer Zeit hier richtig verankert sind und sie uns persönlich angehen.
Wir sollten ihnen möglichst viel Kraft, Zuversicht und Resilienz mitgeben, damit es ihnen auch wirklich gelingt. Dazu braucht es Orte wie die vielfältigen Einrichtungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe von Kitas über Jugendarbeit, Angebote an Schulen, Beratung für verschiedene Lebensbereiche bis hin zu stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, in denen sie ihre Potenziale nachhaltig entfalten und an ihrer Umwelt aktiv teilhaben können. Die Eröffnungsveranstaltung des Bundesverbandes Caritas Kinder- und Jugendhilfe e. V. (BVkE) der 27. Bundestagung 2022 steht deshalb unter dem Motto „Bunt. Vielfältig. Stark. Wir gestalten Lebensperspektiven mit jungen Menschen“. Der BVkE möchte die Rolle der katholischen Kinder- und Jugendhilfe beim Aufbau eines gelingenden Lebens für junge Menschen zwischen ökologischen Herausforderungen und gesellschaftlichem Umbruch diskutieren. Niemand ist immer stark, und kein Schwacher ist ohne Stärken. Die Stärke der Kinder darf sich nicht durch die Schwäche anderer definieren und ihr Selbstbewusstsein nicht in Überheblichkeit ausarten. Nur wer das lernt und lebt, wird „nachhaltig“ mit sich selbst im Reinen und frühe Rückschläge zu einer überraschenden Stärke verwandeln, die Ärzte, Psychologen und Pädagogen mit dem Wort "Resilienz" umschreiben.
Damit dies gelingen kann, braucht es kompetente, achtsame und umsichtige Begleiter:innen und kulturelle Qualitäten wie Optimismus, Hartnäckigkeit, die Kultur des Scheiterns und des Fragens, aber auch eine „Just do it“-Haltung. Wer selbst nicht hat, was Kinder benötigen, kann es ihnen auch nicht vermitteln und sie darin unterstützen zu selbstbewussten und verantwortungsvollen Gestalter:innen ihrer Lebenswelt heranzureifen. Um ihre inneren Ressourcen und ihr Selbstvertrauen zu stärken, braucht es Nähe, gefühlte Ermutigung oder humorvolle Ablenkung, wodurch das Problem die Sorge jedoch nicht verniedlichen darf. Kindern muss keine heile Welt vor Augen geführt werden. Es bedarf aber auch geistiger Kräfte wie Intelligenz und Wissen, Güte und Weisheit, Wohlwollen und Liebe. Diese Hinweise fehlen häufig in der Nachhaltigkeits- und Managementliteratur, doch ohne sie ist auf dem Feld der Menschenführung nichts zu „bestellen“.
Es lohnt in diesem Zusammenhang der Blick Viktor von Weizsäcker (1886-1957), dem Enkel eines Tübinger Theologieprofessors. 1925 hielt der Erzieher, Arzt und Therapeut, der Sigmund Freud noch persönlich kennen gelernt hat und die Schriften der Tiefenpsychologen auch im theologischen Kontext rezipiert hat, anlässlich der Helmstedter Hochschultagung vier Bildungsvorträge vor evangelischen Geistlichen zum Thema Seelenbehandlung und Seelenführung. Dieser Text wurde 1955 unter dem Titel „Menschenführung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet“ erneut publiziert und erscheint wie ein „Grundlagentext der heilenden und erziehenden Berufe“. Im Fokus stehen die Themen Identität, Willensfreiheit, Autonomie, Seelenbeeinflussung und Menschenführung, die von ihm auch als Psychagogik (seelische Führung) bezeichnet wird. Die Autonomie der Persönlichkeit gehört zu ihrem ersten Ziel. Das Amt ist für ihn eine Erziehungsaufgabe. Amtbildung und Personwerdung hängen unlösbar zusammen. Jeder „psychagogische Akt“ ist zugleich eine Selbstentwicklung des Erziehers. Viele Jahre später formuliert Helm Stierlin, ein Schüler Viktor von Weizsäckers: „Das Tun des einen ist das Tun des anderen“. Seit dieser Helmstedter Hochschultagung sind fast hundert Jahre vergangen, und vieles hat noch heute Gültigkeit. Vor allem im Bildungs- und Nachhaltigkeitskontext mit den drei Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales kann sein Werk wichtige Impulse geben.
„Die Würde anderer endet nie. Was aber endet, ist die Freiheit.“
Viktor von Weizsäcker: Menschenführung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet (1925/1955). 7. Auflage Ruprecht, Göttingen 1990.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.