Nachhaltige Mobilitätswende: Welche Rolle spielen Lastenräder?
Wer über eine grüne Verkehrswende spricht, sollte auch über Lastenräder nachdenken. Deutschland hinkt in der Entwicklung vielfach noch hinterher.
Das Auto hat heute als Statussymbol ausgedient. Fahrräder, vor allem Lastenräder, werden als Verkehrsmittel immer beliebter. 51 Prozent aller Transporte in europäischen Städten könnten damit erledigt werden. Erste Vorläufer gab es bereits im 19. Jahrhundert für den Transport von Backwaren, Post oder als Krankentransport. Ursprünglich kommen sie aus den Niederlanden, wo sie schon lange fest im Straßenverkehr etabliert sind. Heute erleben sie ein Revival, weil immer mehr Menschen nachhaltiger leben möchten.
Zu ihnen gehört auch Stefan Bonner. Er studierte Anglistik, Germanistik und Geschichte an der Universität Bonn, war langjähriger Verlagslektor und Leiter der Bastei Lübbe Academy und arbeitet heute als freier Schriftsteller und Autor von Bestsellern wie „Generation Doof“ oder „Wir Kassettenkinder“. Es ist für ihn nicht so einfach, den gesamten Lebenswandel nach dem Nachhaltigkeitsprinzip auszurichten. Er nimmt sich deshalb nach und nach einzelne Lebensbereiche vor, in denen er etwas ändern kann: „Angefangen habe ich mit meiner Mobilität, ich versuche seit einigen Jahren, mich möglichst klimaschonend von A nach B zu bewegen. Im Alltag komme ich gut mit einem Lastenrad voran, das auch für den großen Wocheneinkauf gute Dienste tut.“
Transporträdern für Familien
Annie Lerche und ihr Mann Lars Engstrøm sind seit mehr als drei Jahrzehnten Unternehmer. In den Achtzigerjahren lebten sie in der Freistadt Christiania, der selbst verwalteten Wohnsiedlung inmitten von Kopenhagen, wo alles begann: Zu Lerches 29. Geburtstag baute der gelernte Schmied Engstrøm ein Fahrrad für sie, da andere Verkehrsmittel im Ort nicht zugelassen waren. Es war ein Dreirad mit einer Transportkiste als Vorbau (das erste Christiania Bike). Er entdeckte das Lastenrad wieder, das bis in die Fünfzigerjahre bei Kurieren beliebt gewesen war, und etablierte es als Familientransportmittel. In die Transportkiste passen hundert Kilogramm Einkäufe oder vier bis sechs Kinder.
„Wer ein Christiania Bike kauft, erwirbt auch die Gewissheit, ein guter Mensch zu sein. Gut zur Umwelt, gut zum eigenen Körper. Strampeln für Weltklima.“ (Alexander Kühn)
Lastenräder können zwei- oder dreirädrig gefahren werden, mit ohne oder ohne Motorhilfe. Auch gibt es sie in verschiedenen Größen. Freilich ist ein Lastenrad kein Mountainbike. Da sich das Vorderrad nicht weit einschlagen lässt, ist der Wendekreis entsprechend groß. Der Lenker muss deshalb voll eingeschlagen werden. Auch muss etwa einen Meter weiter vorausgedacht und -geschaut werden, denn das Vorderrad ist etwa einen Meter weiter vorn als bei einem normalen Fahrrad.
Es gibt eine Vielzahl von Anbietern von Lastenrädern, darunter Babboe aus den Niederlanden. Angeboten werden Cargobikes für die ganze Familie schon seit 2005. Für Einsteiger eignet sich beispielsweise das Babboe Big. Wer schneller in Kurven fahren möchte, ist mit dem Babboe Carve gut beraten. Das Urban Arrow Familiy aus Amsterdam ist über 2,60 Meter lang. Durch das kleine Vorderrad bleibt für die Transportkiste viel Platz. Die Kinder sitzen in der Box vor der Lenkstange auf Höhe der Pedale.
Bereits ein Drittel der Bewohner fährt hier mit dem Fahrrad zur Arbeit, und es wurde der Blog „Cycle Chic“ erfunden. Die Dänen wollen durch gutes Aussehen zum Radfahren inspirieren. Früher war Kopenhagen eine Autostadt. Das änderte sich allerdings in den Achtzigerjahren mit dem Ausbau der Radwege. Dabei halfen auch die hohe Zulassungssteuer für Autos und teure Parkgebühren in der Innenstadt. Kopenhagen hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 klimaneutral zu werden. Der Radverkehr genießt hier oft den Vorrang vor anderen Verkehrsmitteln („grüne Welle“ für Fahrräder). Es wurde ein integriertes Mobilitätssystem entwickelt, das den Wechsel zwischen verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln erleichtern soll. Die politische Teilhabe reicht hier von gesetzlich vorgegebenen Beteiligungsmöglichkeiten an der Stadtentwicklung bis hin zu informellen, kreativen Prozessen. Haushalte werden hier zum Beispiel zu Themen der Stadtentwicklung befragt.
Deutschland hinkt in der Entwicklung vielfach noch hinterher. Ein Zusammenschluss von Unternehmen aus der Lastenrad-Branche hat kürzlich gemeinsam mit dem Radlogistikverband Deutschland einen Offenen Brief an die Politik geschrieben. Gefordert wird darin die Stärkung von Cargobikes als nachhaltige Mobilitätsalternative sowie der Ausbau einer geeigneten Infrastruktur.
Viele Innenstädte leiden unter dem zunehmenden Lieferverkehr und schlechter Luftqualität. Lastenfahrräder und speziell elektrisch unterstützte Cargobikes können in vielen Fällen Dieseltransporter und andere Lieferfahrzeuge ersetzen. Das Blumenversandunternehmen Fleurop verwendet Lastenräder beispielsweise für ihren Blumentransport. Sie sind ein passendes Beispiel für Dienstleistungsunternehmen die ihre Ware zügig zum Kunden transportiert.
Ungewollt leistete auch die Corona-Krise einen nachhaltigen Beitrag zur Verkehrswende, denn sie erforderte einen schnellen Auf- und Ausbau der provisorischen Radinfrastruktur. Auch viele kleine Geschäfte kämpften durch die Zwangsschließung wegen der Pandemie ums Überleben. Einige bauten deshalb neue Lieferketten auf und entwickelten neue Geschäftsmodelle. So war beispielsweise die kleine Buchhandlung Christiansen von Beginn an bei „Altona bringt’s“ dabei: Der Laden liefert jeden Nachmittag Bestellungen mit dem Lastenfahrrad aus. Der Bücherkurier ist damit sogar schneller als Amazon.
Ein nachhaltiger Kundenansatz war und ist auch die Bestellmöglichkeit über die die Onlineplattform Regionale-Zukunft.de. Gemüse, Milch und Käse liefern Biohöfe aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg, das Brot wird in einer Biobäckerei gebacken, und die Suppen werden mit Zutaten aus der Region hergestellt. Die Abo-Biokisten mit Grundnahrungsmitteln und vorgekochten Mahlzeiten werden mit Transportfahrrädern und Lieferwagen zu den Kunden nach Hause gefahren.
Dass es nicht immer eine Krise für solche Nachhaltigkeitsmaßnahmen braucht, zeigt das folgende Unternehmensbeispiel: Bereits seit September 2016 werden Bestellungen von Privat- und Gewerbekunden der memo AG mit Elektrolastenrädern ausgeliefert. Das Unternehmen startete zusammen mit Radlogistikern die Zustellung auf der „letzten Meile“ (logistischer Fachbegriff für den Transport der bestellten Ware zur Haustür des Kunden). Neben hohen CO2-Emissionen, Luftschadstoffen und Lärmbelastung stellt die letzte Meile vor allem in Ballungsgebieten und Innenstädten die Versandhändler und Paketdienstleister vor ein großes Problem, denn neben dem häufig geringen Platz zum Parken und Rangieren sind die Kunden häufig nicht daheim oder nicht erreichbar.
Durch das Laden der Räder mit 100 Prozent Ökostrom fahren diese komplett emissionsfrei. Da die Fahrer der Lastenräder die Busspur und Fahrradwege benutzen und auch Einbahnstraßen entgegen der Fahrtrichtung befahren dürfen, ist die Zustellung häufig auch schneller als mit einem herkömmlichen Paketzustellfahrzeug. Durch eine direkte Abstimmung des konkreten Zustelltermins mit dem Kunden durch die Radlogistiker liegt die Erstzustellungsquote bei rund 96 Prozent - im Vergleich zu rund 86 Prozent durch herkömmliche Paketdienstleister.
Seit kurzem liefert das Unternehmen mit Lastenrädern auch in Würzburg, der „Heimatstadt“ des Versandhändlers. Der komplette Warenversand erfolgt emissionsfrei: Die Pakete werden aus dem memo Lager in Greußenheim mit dem eigenen Elektrofahrzeug, das mit Strom aus 100 Prozent regenerativen Energien betankt wird, nach Würzburg transportiert.
Realisiert wurde das Projekt zusammen mit Studierenden des Studiengangs Wirtschaftswissenschaften/Schwerpunkt Logistik der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Neben einer umfassenden Umweltverträglichkeitsanalyse ermittelten sie im Rahmen ihrer Arbeit unter anderem geeignete Partner für die Zustellung, passende Lastenräder und sinnvolle Standorte für Micro-Hubs. Ihr Betreuer, Prof. Dr. Ulrich Müller-Steinfahrt, ist Spezialist für das Thema Urbane Logistik und hat für Würzburg u.a. ein Teilkonzept im Rahmen des Green-City Plans entwickelt, das den Wirtschafts- und Warenverkehr in der Stadt umweltverträglicher und innovativer gestaltet.
Der zeitliche, personelle und vor allem finanzielle Aufwand für die Radlogistik generell ist für ein Unternehmen nicht unerheblich.
Die große Herausforderung besteht darin, den kompletten Versandprozess mit den erforderlichen Schnittstellen zur Übermittlung der Versandinformationen und Kundenbenachrichtigungen organisatorisch und technisch abzuwickeln. Bisher werden die doppelten Versandkosten – für Paketdienstleister und Radlogistiker - nicht an die Kunden weitergegeben. Auch die Anschaffungskosten für eigene Elektrolastenräder, zum Beispiel zwei für Würzburg, trägt das Unternehmen selbst. „Wir sehen in der Zustellung mit Elektrolastenrädern auf der letzten Meile zum Kunden eine sinnvolle und zudem effektive Möglichkeit, um Städte und Ballungsräume von umwelt-, klima- und gesundheitsschädlichen Emissionen zu entlasten“, sagt Frank Schmähling, Vorstandsmitglied der memo AG. „Als Versandhändler sind wir Teil des Problems und stellen uns mit dieser Maßnahme unserer Verantwortung, indem wir in Eigeninitiative schnell handeln.“
Sie stellen eine umweltfreundliche und günstige Alternative Pkws und Dieseltransportern dar.
Es wird ein schneller, zuverlässiger und nachhaltiger Warentransport vor allem in fahrradfreundlichen Städten gewährleistet.
Sie sind ideal zum Transport von Einkäufen, schwereren Lasten oder für die Mitnahme von Kindern.
Der urbane Transport wird deutlich beschleunigt.
Lärm, Verkehrsdruck und Abgase werden reduziert.
Verzögerungen durch Staus werden vermieden.
Lange Parkplatzsuchen inklusive Kosten entfallen.
Die Transportbox bietet eine ideale Werbefläche.
Die Nutzer*innen bleiben fit und gesund.
In den meisten großen Städten ist die Infrastruktur überlastet.
Lastenräder benötigen eine eigene Infrastruktur und müssen in neue städtische Verkehrskonzepte entsprechend berücksichtigt werden.
Benötigt wird eine Ladeinfrastruktur für E-Lastenräder sowie ein rechtlicher Rahmen, der die aktuelle und künftige Bedeutung von Lastenrädern berücksichtigt und die Bedingungen für die gewerbliche Nutzung von E-Cargobikes verbessert.
Die höheren Kosten für Schwerlastenräder sollten mit höheren Förderbeträgen berücksichtigt werden.
Auch Beratungsleistungen zum Ausbau Lastenrad-basierter Logistikkonzepte benötigen eine Förderung.
Um den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen weiter zu steigern, müssen Forschung und Entwicklung auf der technischen sowie systemischen Ebene gestärkt werden.
Es braucht bauliche Veränderungen für eine dauerhafte Integration in bestehende Verkehrssysteme.
Weiterführende Informationen:
Anne Weiss und Stefan Bonner: Nachhaltigkeit ist die Jutetasche des 21. Jahrhunderts. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020, S. 63-69.
Lothar Hartmann: Die Energie, die uns antreibt. Nachhaltigkeit als Kerngeschäft der memo AG. In: CSR und Energiewirtschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. 2. Aufl. Berlin Heidelberg 2019.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Anforderungen an eine professionelle CSR- und Nachhaltigkeitsberichterstattung. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020, S. 297-305.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Mobilität und Logistik: Richtige Wege, die nicht aufs Abstellgleis führen Amazon Media EU S.à r.l., Kindle Edition 2017.
Norbert Höfler: Die neuen Lieferketten. In: stern (16.4.2020), S. 36-39.
Alexander Kühn: Kommt Zeit, kommt Rad. Das Erfolgsgeheimnis des dänischen Lastenfahrrads. In: DER SPIEGEL 4 (19.1.2019), S. 66-67.
Felix Reek: Unterwegs in der Badewanne. In: Süddeutsche Zeitung (12./13.9.2020), S. 45.
Andreas Remien: Kinder, Käse, Kübelpflanze. In: süddeutsche Zeitung (23./24.5.2020), S. 46.