Dr. Alexandra Hildebrandt

Dr. Alexandra Hildebrandt

for Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Nachhaltige MobilitÀtswende: Welche Rolle spielen LastenrÀder?

memo
ZukunftsfÀhige MobilitÀt: Lastenrad

Wer ĂŒber eine grĂŒne Verkehrswende spricht, sollte auch ĂŒber LastenrĂ€der nachdenken. Deutschland hinkt in der Entwicklung vielfach noch hinterher.

Das Auto hat heute als Statussymbol ausgedient. FahrrĂ€der, vor allem LastenrĂ€der, werden als Verkehrsmittel immer beliebter. 51 Prozent aller Transporte in europĂ€ischen StĂ€dten könnten damit erledigt werden. Erste VorlĂ€ufer gab es bereits im 19. Jahrhundert fĂŒr den Transport von Backwaren, Post oder als Krankentransport. UrsprĂŒnglich kommen sie aus den Niederlanden, wo sie schon lange fest im Straßenverkehr etabliert sind. Heute erleben sie ein Revival, weil immer mehr Menschen nachhaltiger leben möchten.

Zu ihnen gehört auch Stefan Bonner. Er studierte Anglistik, Germanistik und Geschichte an der UniversitĂ€t Bonn, war langjĂ€hriger Verlagslektor und Leiter der Bastei LĂŒbbe Academy und arbeitet heute als freier Schriftsteller und Autor von Bestsellern wie „Generation Doof“ oder „Wir Kassettenkinder“. Es ist fĂŒr ihn nicht so einfach, den gesamten Lebenswandel nach dem Nachhaltigkeitsprinzip auszurichten. Er nimmt sich deshalb nach und nach einzelne Lebensbereiche vor, in denen er etwas Ă€ndern kann: „Angefangen habe ich mit meiner MobilitĂ€t, ich versuche seit einigen Jahren, mich möglichst klimaschonend von A nach B zu bewegen. Im Alltag komme ich gut mit einem Lastenrad voran, das auch fĂŒr den großen Wocheneinkauf gute Dienste tut.“

TransportrĂ€dern fĂŒr Familien

Annie Lerche und ihr Mann Lars EngstrĂžm sind seit mehr als drei Jahrzehnten Unternehmer. In den Achtzigerjahren lebten sie in der Freistadt Christiania, der selbst verwalteten Wohnsiedlung inmitten von Kopenhagen, wo alles begann: Zu Lerches 29. Geburtstag baute der gelernte Schmied EngstrĂžm ein Fahrrad fĂŒr sie, da andere Verkehrsmittel im Ort nicht zugelassen waren. Es war ein Dreirad mit einer Transportkiste als Vorbau (das erste Christiania Bike). Er entdeckte das Lastenrad wieder, das bis in die FĂŒnfzigerjahre bei Kurieren beliebt gewesen war, und etablierte es als Familientransportmittel. In die Transportkiste passen hundert Kilogramm EinkĂ€ufe oder vier bis sechs Kinder.

„Wer ein Christiania Bike kauft, erwirbt auch die Gewissheit, ein guter Mensch zu sein. Gut zur Umwelt, gut zum eigenen Körper. Strampeln fĂŒr Weltklima.“ (Alexander KĂŒhn)

LastenrĂ€der können zwei- oder dreirĂ€drig gefahren werden, mit ohne oder ohne Motorhilfe. Auch gibt es sie in verschiedenen GrĂ¶ĂŸen. Freilich ist ein Lastenrad kein Mountainbike. Da sich das Vorderrad nicht weit einschlagen lĂ€sst, ist der Wendekreis entsprechend groß. Der Lenker muss deshalb voll eingeschlagen werden. Auch muss etwa einen Meter weiter vorausgedacht und -geschaut werden, denn das Vorderrad ist etwa einen Meter weiter vorn als bei einem normalen Fahrrad.

Es gibt eine Vielzahl von Anbietern von LastenrĂ€dern, darunter Babboe aus den Niederlanden. Angeboten werden Cargobikes fĂŒr die ganze Familie schon seit 2005. FĂŒr Einsteiger eignet sich beispielsweise das Babboe Big. Wer schneller in Kurven fahren möchte, ist mit dem Babboe Carve gut beraten. Das Urban Arrow Familiy aus Amsterdam ist ĂŒber 2,60 Meter lang. Durch das kleine Vorderrad bleibt fĂŒr die Transportkiste viel Platz. Die Kinder sitzen in der Box vor der Lenkstange auf Höhe der Pedale.

MobilitÀtsproblem gelöst - siehe Kopenhagen

Bereits ein Drittel der Bewohner fĂ€hrt hier mit dem Fahrrad zur Arbeit, und es wurde der Blog „Cycle Chic“ erfunden. Die DĂ€nen wollen durch gutes Aussehen zum Radfahren inspirieren. FrĂŒher war Kopenhagen eine Autostadt. Das Ă€nderte sich allerdings in den Achtzigerjahren mit dem Ausbau der Radwege. Dabei halfen auch die hohe Zulassungssteuer fĂŒr Autos und teure ParkgebĂŒhren in der Innenstadt. Kopenhagen hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 klimaneutral zu werden. Der Radverkehr genießt hier oft den Vorrang vor anderen Verkehrsmitteln („grĂŒne Welle“ fĂŒr FahrrĂ€der). Es wurde ein integriertes MobilitĂ€tssystem entwickelt, das den Wechsel zwischen verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln erleichtern soll. Die politische Teilhabe reicht hier von gesetzlich vorgegebenen Beteiligungsmöglichkeiten an der Stadtentwicklung bis hin zu informellen, kreativen Prozessen. Haushalte werden hier zum Beispiel zu Themen der Stadtentwicklung befragt.

Deutschland hinkt in der Entwicklung vielfach noch hinterher. Ein Zusammenschluss von Unternehmen aus der Lastenrad-Branche hat kĂŒrzlich gemeinsam mit dem Radlogistikverband Deutschland einen Offenen Brief an die Politik geschrieben. Gefordert wird darin die StĂ€rkung von Cargobikes als nachhaltige MobilitĂ€tsalternative sowie der Ausbau einer geeigneten Infrastruktur.

LastenrÀder als Businesstransportmittel

Viele InnenstĂ€dte leiden unter dem zunehmenden Lieferverkehr und schlechter LuftqualitĂ€t. LastenfahrrĂ€der und speziell elektrisch unterstĂŒtzte Cargobikes können in vielen FĂ€llen Dieseltransporter und andere Lieferfahrzeuge ersetzen. Das Blumenversandunternehmen Fleurop verwendet LastenrĂ€der beispielsweise fĂŒr ihren Blumentransport. Sie sind ein passendes Beispiel fĂŒr Dienstleistungsunternehmen die ihre Ware zĂŒgig zum Kunden transportiert.

Ungewollt leistete auch die Corona-Krise einen nachhaltigen Beitrag zur Verkehrswende, denn sie erforderte einen schnellen Auf- und Ausbau der provisorischen Radinfrastruktur. Auch viele kleine GeschĂ€fte kĂ€mpften durch die Zwangsschließung wegen der Pandemie ums Überleben. Einige bauten deshalb neue Lieferketten auf und entwickelten neue GeschĂ€ftsmodelle. So war beispielsweise die kleine Buchhandlung Christiansen von Beginn an bei „Altona bringt’s“ dabei: Der Laden liefert jeden Nachmittag Bestellungen mit dem Lastenfahrrad aus. Der BĂŒcherkurier ist damit sogar schneller als Amazon.

Ein nachhaltiger Kundenansatz war und ist auch die Bestellmöglichkeit ĂŒber die die Onlineplattform Regionale-Zukunft.de. GemĂŒse, Milch und KĂ€se liefern Biohöfe aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg, das Brot wird in einer BiobĂ€ckerei gebacken, und die Suppen werden mit Zutaten aus der Region hergestellt. Die Abo-Biokisten mit Grundnahrungsmitteln und vorgekochten Mahlzeiten werden mit TransportfahrrĂ€dern und Lieferwagen zu den Kunden nach Hause gefahren. 

Dass es nicht immer eine Krise fĂŒr solche Nachhaltigkeitsmaßnahmen braucht, zeigt das folgende Unternehmensbeispiel: Bereits seit September 2016 werden Bestellungen von Privat- und Gewerbekunden der memo AG mit ElektrolastenrĂ€dern ausgeliefert. Das Unternehmen startete zusammen mit Radlogistikern die Zustellung auf der „letzten Meile“ (logistischer Fachbegriff fĂŒr den Transport der bestellten Ware zur HaustĂŒr des Kunden). Neben hohen CO2-Emissionen, Luftschadstoffen und LĂ€rmbelastung stellt die letzte Meile vor allem in Ballungsgebieten und InnenstĂ€dten die VersandhĂ€ndler und Paketdienstleister vor ein großes Problem, denn neben dem hĂ€ufig geringen Platz zum Parken und Rangieren sind die Kunden hĂ€ufig nicht daheim oder nicht erreichbar.

Abhilfe könnte Zustellung per Elektro-Lastenrad schaffen

Durch das Laden der RĂ€der mit 100 Prozent Ökostrom fahren diese komplett emissionsfrei. Da die Fahrer der LastenrĂ€der die Busspur und Fahrradwege benutzen und auch Einbahnstraßen entgegen der Fahrtrichtung befahren dĂŒrfen, ist die Zustellung hĂ€ufig auch schneller als mit einem herkömmlichen Paketzustellfahrzeug. Durch eine direkte Abstimmung des konkreten Zustelltermins mit dem Kunden durch die Radlogistiker liegt die Erstzustellungsquote bei rund 96 Prozent - im Vergleich zu rund 86 Prozent durch herkömmliche Paketdienstleister. 

Seit kurzem liefert das Unternehmen mit LastenrĂ€dern auch in WĂŒrzburg, der „Heimatstadt“ des VersandhĂ€ndlers. Der komplette Warenversand erfolgt emissionsfrei: Die Pakete werden aus dem memo Lager in Greußenheim mit dem eigenen Elektrofahrzeug, das mit Strom aus 100 Prozent regenerativen Energien betankt wird, nach WĂŒrzburg transportiert. 

Realisiert wurde das Projekt zusammen mit Studierenden des Studiengangs Wirtschaftswissenschaften/Schwerpunkt Logistik der Hochschule fĂŒr angewandte Wissenschaften WĂŒrzburg-Schweinfurt. Neben einer umfassenden UmweltvertrĂ€glichkeitsanalyse ermittelten sie im Rahmen ihrer Arbeit unter anderem geeignete Partner fĂŒr die Zustellung, passende LastenrĂ€der und sinnvolle Standorte fĂŒr Micro-Hubs. Ihr Betreuer, Prof. Dr. Ulrich MĂŒller-Steinfahrt, ist Spezialist fĂŒr das Thema Urbane Logistik und hat fĂŒr WĂŒrzburg u.a. ein Teilkonzept im Rahmen des Green-City Plans entwickelt, das den Wirtschafts- und Warenverkehr in der Stadt umweltvertrĂ€glicher und innovativer gestaltet.

Der zeitliche, personelle und vor allem finanzielle Aufwand fĂŒr die Radlogistik generell ist fĂŒr ein Unternehmen nicht unerheblich.

Die große Herausforderung besteht darin, den kompletten Versandprozess mit den erforderlichen Schnittstellen zur Übermittlung der Versandinformationen und Kundenbenachrichtigungen organisatorisch und technisch abzuwickeln. Bisher werden die doppelten Versandkosten – fĂŒr Paketdienstleister und Radlogistiker - nicht an die Kunden weitergegeben. Auch die Anschaffungskosten fĂŒr eigene ElektrolastenrĂ€der, zum Beispiel zwei fĂŒr WĂŒrzburg, trĂ€gt das Unternehmen selbst. „Wir sehen in der Zustellung mit ElektrolastenrĂ€dern auf der letzten Meile zum Kunden eine sinnvolle und zudem effektive Möglichkeit, um StĂ€dte und BallungsrĂ€ume von umwelt-, klima- und gesundheitsschĂ€dlichen Emissionen zu entlasten“, sagt Frank SchmĂ€hling, Vorstandsmitglied der memo AG. „Als VersandhĂ€ndler sind wir Teil des Problems und stellen uns mit dieser Maßnahme unserer Verantwortung, indem wir in Eigeninitiative schnell handeln.“

Das spricht fĂŒr LastenrĂ€der und Cargobikes:

  • Sie stellen eine umweltfreundliche und gĂŒnstige Alternative Pkws und Dieseltransportern dar.
  • Es wird ein schneller, zuverlĂ€ssiger und nachhaltiger Warentransport vor allem in fahrradfreundlichen StĂ€dten gewĂ€hrleistet.
  • Sie sind ideal zum Transport von EinkĂ€ufen, schwereren Lasten oder fĂŒr die Mitnahme von Kindern.
  • Der urbane Transport wird deutlich beschleunigt.
  • LĂ€rm, Verkehrsdruck und Abgase werden reduziert.
  • Verzögerungen durch Staus werden vermieden.
  • Lange Parkplatzsuchen inklusive Kosten entfallen.
  • Die Transportbox bietet eine ideale WerbeflĂ€che.
  • Die Nutzer*innen bleiben fit und gesund.

Das sind die Herausforderungen:

  • In den meisten großen StĂ€dten ist die Infrastruktur ĂŒberlastet.
  • LastenrĂ€der benötigen eine eigene Infrastruktur und mĂŒssen in neue stĂ€dtische Verkehrskonzepte entsprechend berĂŒcksichtigt werden.
  • Benötigt wird eine Ladeinfrastruktur fĂŒr E-LastenrĂ€der sowie ein rechtlicher Rahmen, der die aktuelle und kĂŒnftige Bedeutung von LastenrĂ€dern berĂŒcksichtigt und die Bedingungen fĂŒr die gewerbliche Nutzung von E-Cargobikes verbessert.
  • Die höheren Kosten fĂŒr SchwerlastenrĂ€der sollten mit höheren FörderbetrĂ€gen berĂŒcksichtigt werden.
  • Auch Beratungsleistungen zum Ausbau Lastenrad-basierter Logistikkonzepte benötigen eine Förderung.
  • Um den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen weiter zu steigern, mĂŒssen Forschung und Entwicklung auf der technischen sowie systemischen Ebene gestĂ€rkt werden.
  • Es braucht bauliche VerĂ€nderungen fĂŒr eine dauerhafte Integration in bestehende Verkehrssysteme. 

WeiterfĂŒhrende Informationen:

  • Anne Weiss und Stefan Bonner: Nachhaltigkeit ist die Jutetasche des 21. Jahrhunderts. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein fĂŒr Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020, S. 63-69.
  • Lothar Hartmann: Die Energie, die uns antreibt. Nachhaltigkeit als KerngeschĂ€ft der memo AG. In: CSR und Energiewirtschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner LandhĂ€ußer. SpringerGabler Verlag. 2. Aufl. Berlin Heidelberg 2019.
  • Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Anforderungen an eine professionelle CSR- und Nachhaltigkeitsberichterstattung. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein fĂŒr Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020, S. 297-305.
  • Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: MobilitĂ€t und Logistik: Richtige Wege, die nicht aufs Abstellgleis fĂŒhren Amazon Media EU S.Ă  r.l., Kindle Edition 2017.
  • Norbert Höfler: Die neuen Lieferketten. In: stern (16.4.2020), S. 36-39.
  • Alexander KĂŒhn: Kommt Zeit, kommt Rad. Das Erfolgsgeheimnis des dĂ€nischen Lastenfahrrads. In: DER SPIEGEL 4 (19.1.2019), S. 66-67.
  • Felix Reek: Unterwegs in der Badewanne. In: SĂŒddeutsche Zeitung (12./13.9.2020), S. 45.
  • Andreas Remien: Kinder, KĂ€se, KĂŒbelpflanze. In: sĂŒddeutsche Zeitung (23./24.5.2020), S. 46.

About the author

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-BĂ€nde zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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