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Zeitenspiegel

Nicht aufschieben, sondern machen

Als ich Anfang 2006 ins Unternehmen kam, gab es Arcandor noch nicht. Der Konzern hieß damals noch KarstadtQuelle AG. Als Leiterin Gesellschaftspolitik berichtete ich direkt an den Warenhaus- und Beschaffungsvorstand, hatte eine eigene Kostenstelle und konnte diesen Bereich eigenständig aufbauen. Ich hatte von Beginn an allerdings immer das Gefühl, mich beeilen zu müssen, möglichst alles sofort und gleichzeitig zu tun, die passenden Mitstreiter zu finden und entsprechend einzubinden, um Dinge möglichst nachhaltig zu bewegen.

Im Fokus stand damals vor allem der Austausch mit Nichtregierungsorganisationen und Medien, nachdem in Bangladesh eine zu hoch gebaute Fabrik zusammengestürzt war und viele Menschen ums Leben gekommen waren. In den Trümmern wurden unter anderem Etiketten von Neckermann gefunden, die hier Testaufträge vergeben hatten. Vertreter von NGOs und Oberkirchenräte befanden sich wegen der „Schuldfrage“ in einem zähen und zuweilen nervenaufreibenden Austausch mit dem Vorstand – bis endlich ein Gespräch zwischen allen Beteiligten in der Konzernzentrale stattfinden konnte.

An diesem Beispiel zeigte sich für mich damals, wie wichtig es ist, einfach auf den gesunden Menschenverstand zu bauen, Kritiker einzubinden und nicht wie Fremdkörper auszuschließen. Mir wurde allerdings auch bewusst, dass CSR-Konzepte und Standardprogramme keinen Sinn machen, denn alles änderte sich in diesem Unternehmen in einer solchen Geschwindigkeit, dass Konzepte von heute schon morgen nicht mehr gültig waren. Es galt also, Gelegenheiten und Chancen zu nutzen, das Beste aus dem jeweiligen Augenblick zu machen und zu allen Zeiten auf vielen Feldern zu säen, sodass immer irgendwo eine Saat aufging. Unbewusst sah ich aus der Perspektive der Endlichkeit.

Denn auch meine Vorgesetzten im Vorstand wechselten fast jedes halbe Jahr: Der Vorstand für Logistik, Beschaffung und Gesellschaftspolitik ging nach Hongkong, und der Bereich Gesellschaftspolitik kam ins Ressort des Personalvorstands. Als er das Unternehmen nach einigen Monaten verließ, übernahm es der Finanzvorstand – und als dieser Arcandor den Rücken kehrte, ging es an den Warenhausvorstand. Von diesen „Wechseln“ habe ich alles über Nachhaltigkeit gelernt – kein noch so wissenschaftliches Werk und keine Beratungsagentur konnte mir das vermitteln.

Die erste Lektion war, dass das Thema Nachhaltigkeit nie an einer Person festgemacht oder es über sie definiert werden darf. Vor diesem Hintergrund wurde auch ein Nachhaltigkeitscouncil gegründet, bestehend aus Mitgliedern des Aufsichts- und Betriebsrats und der Fachabteilungen. Der Vorstand für Gesellschaftspolitik und Nachhaltigkeit war hier ein Mitglied von vielen, sodass ein personeller Wechsel keine Auswirkungen auf den Bereich hatte. Ich habe deshalb alles selbst kommuniziert, eigene Verteiler und Netzwerke aufgebaut und mir möglichst kleine Agenturen gesucht, die die Inhalte auf kreative Weise sichtbar machten. Jedes Produkt, jede Drucksache sah deshalb niemals nach Arcandor aus, sondern nach dem jeweiligen Inhalt, der die Gestaltungsform bestimmte.

Als 2007 der Kunstname Arcandor („arc“ = Bogen, „candor“ = glänzend) eingeführt wurde, machte das zusätzlich Sinn, weil die damit verbundenen Anzeigen zum Thema Wertschöpfung aussahen wie Moodfotos einer Bank. Grund war der Kauf von Thomas Cook. Das Unternehmen brauchte ein einheitliches Dach für Einzelhandel, E-Commerce und Touristik. In der bräunlich-gelben Anzeigenserie mit Kindern am Strand war kein Bezug mehr zum Unternehmen und zu seinen Gesellschaften zu erkennen. Auch der Name Arcandor erinnerte viele eher an eine Vogelgestalt aus Harry Potter. Je verwässerter die Unternehmensbotschaften wurden, desto mehr ließ ich „produzieren“: Broschüren oder Bücher, deren Erlöse ins Unternehmen zurückflossen, Sonderdrucke oder Pressemappen für das damalige Designcenter in Hongkong, die das Thema nachhaltige Textilien auch haptisch wiedergaben – kurz: alles, was Nachhaltigkeit sichtbar machen sollte.

Doch immer wenn ein Produkt fertiggestellt war, konnte es nicht mehr verwendet werden, weil sich die Organisation änderte und Vorstände, die das jeweilige Projekt unterstützt hatten, nicht mehr da waren. So stapelten sich die Publikationen in verschlossenen Schränken und wurden im kleinen Kreis eingesetzt. Diese Nischenarbeit hatte allerdings einen Vorteil: Es konnte ungestört weitergearbeitet werden. Auch hatte der Vertrieb von Büchern über einen Verlag den Vorteil, dass zwar intern diese Drucksachen nicht beworben und eingesetzt wurden, aber draußen im Markt erhältlich waren. Dass ich nie in meiner Arbeit bei Arcandor behindert wurde, lag wohl nicht daran, dass ich meine Sache besonders gut und engagiert machte, sondern vielmehr an der Interesselosigkeit der Verantwortlichen, die keine Zeit hatten, sich um Themen wie Nachhaltigkeit und Gesellschaftspolitik zu kümmern. Ich nutzte diese Freiräume, die sich durch die ständigen Umbrüche ergaben, soweit es mir möglich war. Bis zur Insolvenz im Juni 2009.

Insolvenz als Zäsur

Offiziell von der Insolvenz betroffen waren unter anderem die Konzernholding Arcandor, die Versandhandelssparte Primondo, die Warenhaustochter Karstadt und der Quelle-Versand. Als die Insolvenz verkündet wurde, versammelten sich sämtliche Mitarbeiter/innen der Essener Zentrale im Foyer. Vorstand, der Leiter Konzernkommunikation und die Mitarbeiter der Insolvenzverwaltung verkündeten die traurige Gewissheit. In den Gesichtern spiegelte sich Angst und blankes Entsetzen. Es war wie eine kollektive Trauer. Aber es blieb kaum Zeit, um Abschied zu nehmen. Die nächsten drei Monate waren zwar zunächst gesichert (jeder Mitarbeiter erhielt Insolvenzgeld), aber es gab plötzlich kein Leben mehr in diesem Haus.

Die letzten Vorstände waren fort, ebenso viele Mitarbeiter, und im Büro des letzten Leiters Konzernkommunikation saß sein Assistent, der im Beisein eines Insolvenzverwalters zum Beispiel entscheiden sollte, welche Zeitungsabonnements von uns gekündigt werden. Sämtliche Rechnungen von Dienstleistern und Lieferanten kamen nicht mehr zu uns, sondern wurden von der Insolvenzverwaltung geöffnet und bearbeitet. Die Kommunikationszentrale des Unternehmens war ausgeschaltet. Niemand durfte sich offiziell äußern bis auf den Sprecher des Insolvenzverwalters, der grußlos mit Cowboystiefeln durch die Büros ging.

In der Insolvenz zeigten sich erst die wahren Ausmaße des Themas. Dabei war nicht wichtig, ob es einen Nachhaltigkeitsbericht gab oder nicht, ob das Unternehmen Stakeholdergespräche führte, fair gehandelte Waren anbot oder im Global Compact war … es ging unterm Strich auch hier um unbezahlte Rechnungen, die nun beim Insolvenzverwalter lagen und nach Relevanz „abgewogen“ wurden. So gab es Mitgliedschaften, die von der Holding für alle Gesellschaften galten und sicherstellten, dass in den Lieferländern Sozialstandards und Compliance-Regeln eingehalten wurden. Doch mit der Insolvenz gab es hier plötzlich ein Vakuum. Die Arbeit der vergangenen Jahre schien mir vergeblich, und auch die NGOs interessierten sich plötzlich nicht mehr für die Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern des Unternehmens.

Es war eine Stille, die uns auf uns selbst reduzierte. Nach drei Monaten waren alle ehemaligen Vorstände und der Leiter Konzernkommunikation von einem Tag auf den anderen fort und die Büros leer bzw. jene, in denen Arcandor-Berater saßen, wurden von den Consultants der Insolvenzverwaltung bezogen. Aber gewissermaßen hatte ich auch Glück im Unglück. Denn ich durfte etwas zu Ende bringen bzw. sogar am Leben erhalten. Ganz am Schluss zeigte sich, dass es doch Sinn machte, in Zeiten der Fülle vorzubauen, Nischen zu besetzen und einfach zu säen, denn irgendetwas würde immer aufgehen.

Im Jahr 2007 suchte ich nach einer Möglichkeit, Nachhaltigkeit bei Arcandor auf glaubwürdige Weise zu kommunizieren. Das kann kein Nachhaltigkeitsbericht. Inzwischen hatte ich eine eigene Fotodatenbank mit echten Mitarbeiterfotos aufgebaut, Geschichten, Reportagen und Interviews aus allen Bereichen gesammelt. Um nicht dem Vorwurf ausgeliefert zu sein, Gelder zu verschwenden und möglichst nachhaltig zu agieren, hielt ich es für sinnvoll, mit einem renommierten Verlag zu sprechen, der diese Sammlung als Buch herausgibt. So führte ich in meiner Freizeit Interviews mit Unternehmerinnen und Unternehmern, Künstlern, Querdenkern und Sportlern, die eine Haltung haben und auf ihre Weise nachhaltig wirken – darunter auch Josef Zotter und Claus Hipp. Diese Kombination machte das Ganze für den Verlag interessant, weil die Geschichten von Menschen aus dem Konzern in einen größeren Zusammenhang eingebettet waren. Es ging um etwas Verbindendes – unabhängig von Institutionen und Unternehmen. Herausgeber war nicht das Unternehmen, sondern der damalige Leiter Konzernkommunikation und ich. Das Buch trug den Titel „Die Andersmacher. Unternehmerische Verantwortung jenseits der Business Class“. Die Tantiemen flossen in die Kostenstelle der Gesellschaftspolitik zurück.

Was sollte mit dem Buchhonorar passieren? – Es war eine Bauchentscheidung, davon 13 cm kleine Miniaturbären aus Mohair in einer limitierten Auflage von 500 Exemplaren bei einer der ältesten und bekanntesten Bären-Manufakturen Deutschlands produzieren zu lassen. Ich suchte nach einem Zuwendungsobjekt, das Verantwortung greifbar und anschaulich macht. Ein Teddy zeichnet sich vor allem durch seine Geschichte aus, die Beziehung, die sein Besitzer zu ihm aufbaut. Er erhält so etwas wie eine eigene Seele, die ihm durch den jeweiligen Besitzer, der eine innige Beziehung zu ihm aufbaut, gegeben wird. Jeder Bär trug einen lindgrünen Wollfilzschal mit dunkelbrauner Stickung "Verantwortung tragen". Das meinte die aktive Verantwortung für andere und für die eigene Lebensgestaltung und nicht, in die Verantwortung gezogen werden.

Die Bären wurden zunächst seit Oktober 2008 an engagierte Mitarbeiter des Konzerns und seiner Gesellschaften verteilt, aber auch an Prominente, Künstler, Medienvertreter, Kulturschaffende, Geistliche und Wissenschaftler. Sie ließen sich damit fotografieren und gaben ein Statement ab: „Verantwortung tragen heißt für mich …“

Eine besondere Herausforderung war dann die Zeit der Insolvenz, weil es keine Möglichkeit mehr gab, offiziell über ein Unternehmen zu agieren, sondern nur noch als Privatperson. So erklärte sich der Leipziger Innovationsstratege Jan Graf spontan bereit, auf eigene Kosten Postkarten zu drucken und die Website „Verantwortung tragen“ ehrenamtlich zu entwickeln und zu pflegen. Es beteiligten sich damals weit mehr Menschen als es Teddys gab. Deshalb wurde an die Bärenbesitzer appelliert, ihr Sammlerstück zu verleihen, um weitere Statements und Fotos zu kommunizieren. Aus den Mohair-Resten der kleinen Bären fertigte das Teddy-Unternehmen einen etwa 50 cm großen Bären an. Das „Upcycling“-Produkt erwarb der Nachhaltigkeitsexperte Rudolf X. Ruter käuflich und spendete den Betrag.

Pro direkt beim Verlag bestelltem Buch gingen zwei Euro an „Verantwortung tragen“. Mit jedem weiteren Exemplar einer Bestellung stieg der Förderbetrag um zwei Cent pro Buch. Um eine eigenständige Stiftung zu gründen, wären die Beträge zu gering gewesen. Aus diesem Grund ist die Initiative mit den Mikroförderbeträgen 2011 als Nebenprojekt in die DFB-Stiftung Egidius Braun eingegangen, die auch mit geringen finanziellen Mitteln nachhaltige gesellschaftliche Initiativen unterstützt. Das Teddy-Unternehmen schenkte den Initiatoren einen lebensgroßen Bären, der ebenfalls einen grünen Schal mit der Beschriftung „Verantwortung tragen“ trug. Bis 2010 stand er für alle Kunden sichtbar in der Karstadt-Filiale Bochum. Die Geschäftsführerin übergab ihn im Rahmen der 1. Burgthanner Dialoge im Herbst 2010 an Heinz Meyer, dem 1. Bürgermeister der Gemeinde Burgthann.

Seit 2010 steht der Bär hier im Rathaus und soll nun der Förderung unseres neuen Nachhaltigkeitsprojekts zugutekommen. Am 14. Dezember 2018 wurden die gesammelten Spenden der Initiative „Verantwortung tragen“ von der DFB-Stiftung Egidius Braun an die Arne-Friedrich-Stiftung (1820,38 €) und Horizont e. V. (1200 €) zugunsten von kleinen Nachhaltigkeitsprojekten ausbezahlt. Die letzten Dinge der Initiative – der lebensgroße Bär, ein Mohair-Teddy, der aus den Resten der 500 Miniaturbären gefertigt wurde und ein Unikat ist, sowie das Gemälde - sollen nun dem interdisziplinären Nachhaltigkeits- und Kulturprojekt „GOETHE im Spiegel des 21. Jahrhunderts“ zugutekommen.

Sich für etwas verantwortlich zu fühlen, bedeutet nicht nur, großen Ereignissen verpflichtet zu sein, sondern auch den Blick auf die Mikroperspektive zu richten. Vor dem Hintergrund der Coronapandemie und der damit verbundenen globalen und gesellschaftlichen Herausforderungen soll damit ein Zeichen gesetzt werden. Wir sind von der Wichtigkeit der Botschaft, die wir als Untertitel gewählt haben, überzeugt: „Was die Welt im Innersten zusammenhält.“

Was Nachhaltigkeitsberichte über Unternehmen aussagen

Die Andersmacher: Unternehmerische Verantwortung jenseits der Business Class. Hg. Alexandra Hildebrandt und Jörg Howe. Kamphausen Verlag, Bielefeld 2008.

Alexandra Hildebrandt: Welche Zeiten, in denen wir leben: Was erfolgreiches Unternehmertum ausmacht. Mit Illustrationen von Raimund Frey. Kehsler Verlag, Saulheim 2010.

Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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